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Kariem Hussein: «Jeder Spitzensportler möchte gewinnen!»

03.04.2019
von Miriam Dibsdale

Kariem Hussein hat das Staatsexamen bestanden und darf sich offiziell Arzt nennen. Obwohl er seinen Körper kennt und versteht, ist auch der Hürdenläufer nicht immun gegen Verletzungen. Nach einem schwierigen Jahr setzt er alles daran, sich an die Weltspitze zurückzukämpfen.

Kariem, du bist seit 2018 offiziell Arzt. Müssen wir dich jetzt mit Dr. Hussein ansprechen?

Das darf man gerne (lacht). Offiziell Doktor bin ich aber noch nicht. Eines meiner Ziele ist es, in den nächsten zwei Jahren den Doktortitel zu erreichen.

Was war deine erste «Amtshandlung» seit du das Diplom offiziell hast?

Ich habe mit meiner Familie darauf angestossen. Sie hat mich in dieser Zeit enorm unterstützt und deshalb habe ich es sehr genossen, mit ihr das bestandene Staatsexamen zu feiern.

Dein Ziel ist irgendwann die Sportmedizin, für die es aber keinen Facharzt gibt. Weisst du schon, in welchem Bereich du einsteigen möchtest?

Sportmedizin wäre ein logisches Ziel, das habe ich immer gesagt. Ich bin mir aber noch unsicher, welchen Facharzt ich machen werde. Im Moment denke ich an den Facharzt Physikalische Medizin und Rehabilitation. Darin enthalten ist vor allem Orthopädie und Innere Medizin. Ich möchte gerne praktisch arbeiten und die Patienten nahe begleiten können.

Die unzähligen Lerneinheiten fürs Studium fallen jetzt weg. Was machst du mit der neugewonnen Zeit?

Ich habe sicher mehr Zeit oder vor allem mehr Flexibilität im Bereich Erholung. Nichts desto trotz bin ich der Überzeugung, dass Vielfalt im Alltag Körper und Geist belebt und förderlich ist. Deshalb investiere ich die gewonnene Zeit zum einen in Partner- und Medienarbeiten sowie in eine Weiterentwicklung im medizinisch-unternehmerischen Bereich und in die Fachgebiete, die mich interessieren, wie Orthopädie oder Osteopathie.

Du sagtest einst, 2018 würde dein bisher schwierigstes Jahr werden. War dem so?

Definitiv. Ich sah es als Hauptprobe für all die Jahre, in denen ich Sport und Studium aneinander organisiert hatte. Es war mein bislang grösstes Ziel, Europameisterschaften und Staatsexamen am gleichen Tag erfolgreich zu absolvieren. Ich bin überzeugt, den Tag an sich hätte ich mit Leichtigkeit geschafft. Die Zeit davor mit Lernen, Trainieren, Therapieren, Arztbesuchen und Untersuchungen war mental das bislang Herausforderndste in meinem Leben. Denn durch die Verletzung hatte ich nicht mehr, sondern weniger Zeit zum Lernen. Zudem zehrt ein Verletzungszustand an den Nerven.

Auch wenn ich sportlich meine Ziele nicht erreichen konnte, war es rückblickend sehr wichtig, diese Phase durchgemacht zu haben. Alles zu versuchen, immer mit dem Ziel vor Augen, an einem Glauben festzuhalten und zu visualisieren, wenn es schlecht läuft, ist für mich sehr wichtig. Und das habe ich auch 2018 stets gemacht.

Es war mein bislang grösstes Ziel, Europameisterschaften und Staatsexamen am gleichen Tag erfolgreich zu absolvieren. Kariem Hussein

Aufgrund eines Muskelfaserrisses im Training musstest du die Saison vorzeitig beenden. War die Doppelbelastung zu viel?

Nein, ich denke, ich war nur zu früh mental bereits zu aufgedreht. Die Vorfreude auf den Sommer war riesig. Ich bin in jedem Training fast explodiert vor Energie. Entscheidend war jedoch der Sommer und insbesondere die Zeit um den Grossanlass. Man muss speziell im Aufbau die Balance zwischen Spannung und Entspannung finden. Diese Aufgabe liegt beim Trainer und beim Athleten.

Dieses Jahr hingegen wolltest du ein neues Kapitel beginnen. An den Schweizer Hallenmeisterschaften anfangs Jahres warst du zwar anwesend, doch zogst dich vor dem Start von den Wettkämpfen zurück. Warum?

Zu Schweizer Meisterschaften muss man sich jeweils relativ früh anmelden. Wir hatten uns diese Option offengelassen. Im Laufe der Wintersaison haben mein Trainer und ich jedoch gespürt, dass es sinnvoller ist, den Fokus weiter auf das Training zu legen und am Aufbau zu arbeiten. Deshalb stand ich in St. Gallen dann nicht am Start.

Seitdem hast du immer wieder mit Schmerzen zu kämpfen. Was ist los?

Es war nicht ein banaler Muskelfaserriss. Das ganze Beckengebiet ist ein komplexer Ort mit diversen Ansätzen, Nerven- und Gefässdurchläufen. Bei mir hat es den Bereich am Sitzbeinhöcker erwischt. An ihm haben viele Hüft- und Oberschenkelmuskeln ihren Ursprung. Zudem muss man wissen, dass Muskelfaserrisse je nach Schweregrad ca. ein bis drei Monate Erholungszeit benötigen. Sehnenansatzrisse benötigen ca. sechs Monate und bis das ganze Zusammenspiel auf dem hohen Niveau wieder stimmt, braucht es enorm viel Geduld und intensive Arbeit.

Ich war nur zu früh mental bereits zu aufgedreht. Kariem Hussein

Was sagst du selbst als Arzt dazu?

Ich sehe primär eine Chance darin. Ich vergleiche den Körper eines Spitzensportlers stets mit einem Formel-1-Wagen. Wenn die Belastungen, aus welchem Grund auch immer, zu gross werden, dann wird das Auto am Ort der grössten Schwäche Schaden nehmen.

Dadurch bekommt man aber auch ein wichtiges Feedback, denn an dieser Schwachstelle kann man arbeiten. Auf Hochleistungssport-Niveau geht es um Finessen in der Abstimmung des Körpers. Ein Körper kann sehr viel kompensieren. Entscheidend ist, dies individuell herauszufinden. Man lernt zudem die Warnsignale des Körpers kennen und kann diese nutzen. Es ist eine Chance, durch einen gezielten Aufbau die Strukturen stärker aufzubauen und noch stärker zurückzukommen.

Bist du als Arzt ein einfacher oder eher ein komplizierter Patient?

Dazu muss ich sagen, dass ich nicht aus jahrelanger medizinischer Erfahrung sprechen kann. Meine Stärken sind meine Sensibilität, mein Gespür und das Vorstellungsvermögen des funktionellen Körpers, gepaart mit meiner sportlichen und medizinischen Erfahrung.

Klar denke ich jeweils mit. Ich kann dem Arzt oder der Physiotherapeutin sehr genau sagen, was ich spüre und wo ein allfälliges Problem liegen kann. Wobei das eigentlich jeder Spitzensportler sehr gut kann, da er über die Jahre seinen Körper sehr gut kennenlernt.

Wie schnell greifst du zu Medikamenten?

Das kommt auf die Medikamente an. Ich bin ein Fan der körperlichen Selbstheilung. Hier spielt der Faktor «Zeit» jedoch eine grosse Rolle. Wenn die Zeit knapp ist, greife auch ich bei bestimmten Schmerzen oder Entzündungsreaktionen zu einem entzündungs- oder schmerzhemmenden Mittel. Das hat zwei Gründe: Ersten möchte ich so schnell wie möglich die Entzündung wegbringen und zweitens möchte ich mir den Schmerz nicht einprägen und ihn mit einer Bewegung oder einem Ort verknüpfen. Das heisst aber auch, dass ich dann eine Pause einlege. Ich nehme nie ein Mittel, um direkt weitertrainieren zu können.

Ich kann dem Arzt oder der Physiotherapeutin sehr genau sagen, was ich spüre. Kariem Hussein

Die Teilnahme an den Leichtathletik-Europameisterschaften in Berlin hast du aufgrund von gesundheitlichen Problemen und dem Staatsexamen abgesagt. Bist du dieses Jahr bei den Weltmeisterschaften in Doha dabei?

Die Weltmeisterschaften in Doha sind natürlich das grosse Ziel.

Was hast du dir vorgenommen?

Jeder Spitzensportler möchte gewinnen. Die Besten geben jeweils den Takt vor. Momentan ist das Niveau über 400 Meter Hürden sehr, sehr hoch. Auf dieses Niveau arbeite ich hin, das ist mein Selbstverständnis und dafür stehe ich jeden Tag auf dem Trainingsplatz.

Bist du vor einem Wettkampf oder einer Prüfung nervöser?

Vor einer mündlichen Prüfung bin ich etwa gleich nervös wie vor einem Wettkampf.

Das ganze Beckengebiet ist ein komplexer Ort. Kariem Hussein

Was machst du gegen die Nervosität?

Ich nehme sie an, denn sie gehört einfach dazu. Sie gibt einem die nötige Spannung, um seine Leistung abzurufen. Ich konzentriere mich auf mich und meine Stärken und atme tief und kontrolliert, damit die Nervosität nicht überhandnimmt.

Welche war bisher die schwierigste Hürde in deinem Leben?

Der Sommer 2010, als ich die erste nicht bestandene Prüfung des ersten Semesters nachholen musste und zeitgleich die Prüfung des zweiten Semesters geschrieben habe. Hätte ich die nachgeholte erste Prüfung nicht bestanden, wäre ich lebenslang für das Medizinstudium in der Schweiz gesperrt gewesen. Ich hatte mich damals kurz davor beinahe für meine erste EM qualifiziert und anschliessend drei Wochen intensiv gelernt und mich in Fribourg in meiner Wohnung eingesperrt. Diese drei Wochen haben mich für mein Leben sehr geprägt, denn diese Phase ist an psychischem Stress bis dato nicht zu toppen gewesen.

Welche steht als nächste an?

Die nächste Hürde ist jene im nächsten Training. Sie ist 91.4 cm hoch und nach ihr stehen noch einige mehr auf der Bahn. Eine kommende Hürde wird das Herankämpfen an die Weltspitze sein. Es war bereits jetzt ein harter Kampf, den ich gerne weiterhin annehme!

Kariem Hussein in Kürze: Entweder oder?

Thurgau oder Zürich?

Zürich, aber der Kanton! Diese Antwort fällt mir sehr schwer. Der Kanton Zürich bringt mir beide Vorteile – Stadt und Land und v.a. mindestens einen See. =)

Letzigrund oder Old Trafford

Letzigrund für Leichtathletik – es ist mein Wohnzimmer und ich bin dankbar für jede Sekunde, die ich darin verbringe. Die Momente im Letzigrund sind unvergesslich, ich hoffe es kommen noch viele dazu. Das Stadion Old Trafford ist ebenfalls ein magischer Ort und sicher das bessere Fussballstadion.

Ehrgeiz oder Talent?

Ehrgeiz. Ehrgeiz bringt dich voran und ist ebenfalls ein Talent.

Sporthose oder Jeans?

Sporthose. Sie sind per Definition bequemer.

Online oder offline?

Offline. Social Media und «immer erreichbar» zu sein, gehören heutzutage dazu, dessen bin ich mir bewusst. Zudem macht es durchaus auch Spass und ist unter anderem ein Ort, um mit seinem Umfeld in Verbindung zu bleiben. Ich lege das Handy oft weg und habe mein Umfeld so erzogen, dass es bei dringenden Angelegenheiten anruft und keine WhatsApp-Nachricht sendet. Ich tippe nicht gerne auf der Tastatur.

Spontanität oder Planung?

Spontanität. Aus Erfahrung sehe ich meine Mitmenschen häufiger, wenn ich sie spontan treffe.

Schulmedizin oder Alternativmedizin?

Beides. Man wird an beidem nicht vorbeikommen. Oder besser gesagt; ich glaube und hoffe, dass in naher Zukunft die heutige, oder Teile der heutigen Alternativmedizin zunehmend in die Schulmedizin integriert werden. Nur weil man gewisse Dinge nach heutiger Wissenschaft nicht erklären kann, heisst das nicht, dass sie nicht existieren oder nicht funktionieren.

Interview: Miriam Dibsdale

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