roxanne am bahnhof
Lifestyle Gesundheit Interview

«Ich habe meine Krankheit akzeptiert und wurde meine eigene erste Liebe»

09.04.2020
von Flavia Ulrich

Im Alter von zwölf Jahren diagnostizierten die Ärzte bei Roxanne ein Osteosarkom (bösartiger Knochentumor). Seitdem musste sie sich mehreren Behandlungen unterziehen. Sie hat Rückfälle erlitten, wodurch sie hospitalisiert wurde, und mehrere Operationen hinter sich. Heute – glücklich und gesund – erzählt sie uns ihre Geschichte.

Roxanne, wann hast du erfahren, dass du krank bist?

Das war im Jahr 2008, als ich zwölf Jahre alt war. Ich begann eine Störung im rechten Knie zu fühlen. Einige Personen sagten mir, dass ich hinkte, aber das war mir davor nie aufgefallen. Ich habe danach einen Termin mit meinem Hausarzt vereinbart, der mir dann einige Stunden Physiotherapie verschrieb. Diese halfen mir jedoch nicht.

Ich bin glücklich, meine kindliche Unschuld und meinen guten Humor behalten zu haben. Ich glaubte immer fest daran, dass ich gesund werde.

Da sich die Situation nicht verbesserte, ging ich zu einem Orthopäden. Danach passierte alles sehr schnell: Ich wurde geröntgt, musste mich einer Kernspintomographie unterziehen, hatte eine Biopsie und schlussendlich fiel meine Diagnose. Von einem Tag auf den anderen war ich krank: Ich hatte ein Osteosarkom, eine Art von Knochenkrebs, der vor allem bei Kindern vorkommt.

Als ich die Diagnose erhielt, war das schrecklich. Ehrlich gesagt hatte ich aber nicht wirklich Angst, weil ich mir der Schwere der Situation und der Krankheit noch nicht bewusst war. Jetzt denke ich, dass ich mich glücklich schätzen konnte, dass ich meine kindliche Unschuld und meinen guten Humor behielt. Ich glaubte fest daran, dass ich genese. Ich konnte nicht aufgrund dieser Krankheit sterben.

Wie hast du diese schlechte Nachrichten deinen Liebsten und deinen Freunden mitgeteilt?

Die Ärzte haben die Diagnose meinen Eltern mitgeteilt. Es waren also sie, die es meinen Brüdern und Grosseltern erzählten. Ich habe alles meinen Freunden gesagt, mich aber ein wenig von der Situation losgelöst. Ich erklärte ihnen, dass ich Krebs habe, mich aber einer Chemotherapie unterziehen und genesen werde.

Was war ihre Reaktion?

Die meisten waren traurig und ängstlich. Einige fühlten sich auch unbehaglich, weil sie nicht wussten, was sie sagen sollten. Natürlich war die Nachricht meiner Krankheit für meine Eltern nicht einfach zu verdauen. Die Freundinnen meiner Mutter haben sie in dieser Situation sehr unterstützt.

Welchen Behandlungen musstest du dich unterziehen?

Ich habe mit den Chemotherapien angefangen. Das war ein Schock für mich! Meine erste Behandlung war die schwerste, da ich nicht wusste was mich erwartet. Es ist schwer zu erklären wie man sich fühlt, wenn man ein solche Behandlung durchmachen muss. Es gibt viele verschiedene Arten von Chemotherapien. Diejenige, die ich machen musste, hat mich sehr ermüdet. Um dieses Gefühle zu erklären, gebe ich immer das Beispiel einer durchzechten Nacht. Ich fühlte mich nämlich, als ob ich aufgrund eines Katers einen Brummschädel hätte – aber natürlich noch viel stärker.

Zum Glück war das Personal der Universitätsklinik des Kantons Waadt (CHUV) fantastisch. Trotz der schweren Behandlungen etablierte sich schnell eine Routine und ich muss dem pädiatrischen Medizinteam von ganzem Herzen für ihr offenes Ohr und ihr Einfühlungsvermögen danken. Es gab Momente, in denen ich so gelacht habe wie nie zuvor! Es herrschte wirklich eine besondere Atmosphäre in diesem Spitalbereich.

Warst du die jüngste Patientin, die eine solche Behandlung durchmachen musste?

Nein. Denn es gibt viele Arten von Krebs, die bereits bei Kindern vorkommen. Ich war älter als die meisten meiner Mitpatienten, welche ungefähr sechs Jahre alt waren. Trotz meines Alters konnte ich ihnen kein Vorbild sein. Sie waren es, die mich bestärkten. Diese Kinder hatten immer ein Lächeln auf den Lippen, sie rannten und hüpften durch das Zimmer. Es war eindrücklich. Sie besassen eine aussergewöhnliche Stärke und Lebenslust.

Haben die Chemotherapien deinen Gesundheitszustand verbessert?

Nein, ich habe meine ersten Behandlungen 2008 abgeschlossen, aber mein Gesundheitszustand hatte sich nicht verbessert. Im Gegenteil: einen Monat nach Beginn der Behandlung sagten mir die Ärzte, dass ich mein Bein amputieren müsse, um die Rückkehr von Metastasen zu verhindern.

Ich musste diese Neuigkeiten zuerst einmal verarbeiten, was nicht einfach war. Diese Operation veränderten meinen Lebensplan. Nichts würde mehr so sein wie zuvor! Meine Eltern und ich haben viel geweint. Aber Stück um Stück verstand ich, dass die Amputation ein notwendiges Übel war. Also habe ich meinem rechten Bein «Auf Wiedersehen» gesagt, währendem ich es massierte. Dann kam der Tag der Operation – der 10. Oktober 2008. Ich muss gestehen, dass ich mich nicht mehr genau erinnere, was für ein Gefühl ich in jenem Moment hatte. Ich glaube, dass ich im Moment lebte und versuchte nicht an die kommenden Stunden nach der Operation zu denken. Schlussendlich verlief die Operation gut, obwohl sie sechs lange Stunden dauerte.

Physisch und psychisch – wie hast du dich nach der Operation gefühlt?

Ich lernte die berühmten Phantomschmerzen kennen und sie waren nicht so schön (lacht). Und ich spüre sie sogar noch heute! Ausserdem musste ich während sechs Monaten in die Rehabilitation und weitere
Chemotherapien sowie andere Krankenhausaufenthalte erdulden. Aber alle diese Behandlungen haben Früchte getragen und ich kann sehr gut mit meiner Prothese gehen – und auch ohne (lacht).

Was ich durchlebt habe, war keine Schwäche, sondern eine Stärke und mein Handicap ist kein Schande, sondern wenn ich will sogar ein Trumpf.

Roxanne im Lift

Physisch ging es mir ziemlich gut, psychisch jedoch nicht. Ich war mitten in meiner Jugend. Es war nicht schwer zu erkennen, dass ich anders war als die anderen. Ich versank in Trauer. Ich verstand nicht, wieso die anderen Leute mich abwiesen und begann daher, mich selbst zu hassen und anzuwidern. Heutzutage denke ich, dass all dies zu dieser Traurigkeit gehörte. Es wurde mir erst viel später bewusst, dass alles, was ich durchlebt hatte, keine Schwäche war, sondern vielmehr eine Stärke und dass mein Handicap keine Schande ist, sondern sogar ein Trumpf. Ich habe deshalb begonnen, mich anders wahrzunehmen und mich selbst zu lieben! Ich habe meine Krankheit, mein Handicap akzeptiert und ich selbst war meine erste Liebe. Es war dieser Zeitpunkt, als ich angefangen habe, mir meinen Körper wieder anzueignen, indem ich mich zwang, die Stelle der Amputation zu massieren und mich tätowieren liess.

Ich habe meine Krankheit und mein Handicap akzeptiert und ich selbst war meine erste Liebe.

Wieso die Tätowierungen?

Weil ich sie liebe. Ausserdem erinnern sie mich jeden Tag daran, was ich habe und helfen mir, mich nicht auf meine Verluste zu fokussieren. Es ist die Geschichte mit dem halbvollen Glas! Ich wollte, dass meine Tattoos einen symbolischen Charakter haben. Deswegen habe ich auf der Hüfte die Sonnenblume gewählt, denn diese Blume wendet sich stets der Sonne zu. Ich habe weiterhin einen Fuchs auf der Rippe, denn ich liebe das Buch «Der kleine Prinz» sehr. Wie er bin ich eine Träumerin und mir half es, in den dunklen Zeiten in eine Fantasiewelt abzutauchen. Ausserdem liebe ich den Charakter des Fuchses in diesem Buch. Auch ich denke: «Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.»

Hast du auch deine Weiblichkeit zurückerobert?

Ja, natürlich. Denn mir meinen Körper wieder anzueignen, hat mir auch erlaubt, mich schön und feminin zu fühlen. Mit diesem Ziel vor Augen schlug ich kürzlich einer befreundeten Fotografin vor, zusammen ein Projekt umzusetzen. Ich posierte danach vor dem Objektiv und fühlte mich wohl mit meinem eigenen Ebenbild.

Portrait von Roxanne

Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.

Ging es dir nach deiner Operation gesundheitlich besser?

Nein, noch immer nicht. Ich musste deshalb 2009 noch weitere Chemotherapien über mich ergehen lassen, da ich in den Lungen ein Rezidiv hatte. Die Ärzte sagten mir, dass diese Behandlungseinheiten die Fruchtbarkeit verringern, wenn nicht sogar zu einer totalen Unfruchtbarkeit führen. Doch in diesem Moment reagierte ich nicht wirklich auf diese Nachricht. Denn ich dachte sowieso, dass ich nicht längerfristig überleben würde. Allerdings habe ich kürzlich eine Behandlung abgeschlossen, um meine Fruchtbarkeit zu erhalten und glücklicherweise hat es funktioniert.

Ich wurde ausserdem operiert, was auf meinem Brustkorb eine grosse Narbe hinterliess. Das war der Moment, in dem ich verstand, dass die Situation schlimmer war, als ich dachte. Denn mein Gesundheitszustand war wie eine Achterbahnfahrt und deswegen musste ich eine neue Art zum Überleben entwickeln. Ich habe gelernt, im Moment zu leben: Jeder Tag ist anders als der bevor. Ich zwang mich, nicht an morgen zu denken und mich nicht in die Zukunft hineinzuversetzen. Es war schwierig – vor allem, weil ich noch ein Teenager war — aber notwendig.

2011 hatte ich wieder Rückfälle und aufgrund einer Toxoplasmose ausserdem eine Atemnot mit Komplikationen. Meine weissen Blutkörperchen waren auf dem tiefsten Stand und mein Körper hielt der Belastung nicht mehr stand. Ich fiel in ein Koma und musste während vier Tagen beatmet werden.

Dann, im Dezember des gleichen Jahres, fing es von neu an: Rezidiv mit Metastasen und Operationen. Was für eine Freude! Kurz gesagt, mein Gesundheitszustand hatte fast alles ertragen. Was noch fehlte war ein anderes Rezidiv im Darm – das hatte ich dann 2013. Es gibt nur zwei Personen auf dieser Welt, mich einbegriffen, welche Knochenmetastasen im Darm hatten. Ich bin also ein VIP (lacht)! Beim letzten Rezidiv nahm ich die Medikamente oral ein, da dies weniger Nebenwirkungen hervorruft und ich somit ein normaleres Leben führen konnte. Diese Rückschläge sind zufällig und das macht mein Leben nicht leichter, denn es könnte sich jederzeit ein neues Rezidiv bilden.

Ich habe gelernt im Hier und Jetzt zu leben: jeder Tag ist anders als der bevor.

Du warst noch ein Kind, als deine Krankheit diagnostiziert wurde. Hat sie dich schneller aufwachsen lassen?

Ja, sehr schnell! Denn durch sie lernte ich viele wichtige Dinge ganz schnell. Ich habe mir die wichtigen Fragen des Lebens gestellt, welche einem Kind im Alter von zwölf Jahren noch keine Sorgen bereiten sollten. Seit dem ersten Tag meiner Krankheit tauchte ich in den medizinischen Wortlaut ein und ich war nach einiger Zeit sehr anders als die Roxanne vor der Chemotherapie. Meine Freunde verstanden mich nicht. Während der Jugend hat man die Prioritäten eines Teenagers: Man möchte gute Noten schreiben, sich verlieben und Spass haben. Vorrang hatte bei mir das Überleben. Ich habe mich deshalb viel reifer gefühlt als meine Freunde.

Wie geht es dir heute?

Mir geht es gut. Ich habe alle sechs Monate medizinische Untersuchungen, um Rezidiven und sonstigen Arten von Krebs vorzubeugen. Aufgrund der regelmässigen Gesundheitsprüfungen gibt es ein kleineres Risiko auf unerwartete Rückfälle. Im Moment geht es mir gut, ich bin guter Gesundheit und meine Haare sind nachgewachsen (lacht).

Ich muss trotzdem zugeben, dass diese Zeiten aufgrund des Coronavirus nicht einfach sind. Aufgrund meiner Krankheitsgeschichte bin ich eine Risikopatientin und muss unbedingt zu Hause bleiben. Ich glaube, dass ich meinen Überlebensmodus wieder reaktiviert habe. Nach den Rezidiven, als es mir dann wieder besser ging, wollte ich nicht mehr als normal zu leben. Dennoch hatte ich danach Angst vor Krankheiten und wieder einen Rückfall zu erleiden und habe deshalb diesen Überlebensmodus für gewisse Situationen wie die heutige behalten. Ich muss wieder Zuversicht in meiner Gesundheit finden. Ich denke, dadurch kann ich diese Situation in der Ausgangssperre aushalten und keine Angst mehr haben.

Dank dieser Erfahrung habe ich jetzt ein grossartiges Leben.

Ist dein heutiger Überlebensmodus derselbe, wie der während du krank warst?

Nein, ganz und gar nicht. Denn heutzutage kann ich mich in mein Leben und meine Projekte hineinversetzen. Ich bin glücklich und stärker denn je. Ich habe mir meine komplizierte Vergangenheit zu Nutze gemacht und dank meiner Erfahrung habe ich jetzt ein grossartiges Leben. Alle meine Erfahrungen machten mich zu einem anderen Menschen. Heutzutage habe ich beispielsweise Mühe, mich zu beklagen, denn ich weiss, dass mein Leben ein Wunder ist. Ich schätze das Hier und Jetzt noch mehr und konzentriere mich auf die wichtigen Dinge im Leben. Ich mache mir keinen Kopf mehr über Nebensachen. Ausserdem bin ich viel selbstsicherer.

Ich denke, dass sich auch mein Überlebensmodus infolge meiner Krankheit stark verändert hat. In der Tat war ich früher in diesem Überlebensmodus, dank diesem ich heutzutage in einem Lebensmodus bin. Und mein Leben ist schön! Denn dank diesen Erfahrungen bin ich so wie ich bin: immer optimistisch und positiv. Ich musste komplizierte Dinge durchmachen, damit ich leben kann und war noch nie so im Einklang mit mir selbst wie jetzt.

Dank des Überlebensmodus, bin ich im Lebensmodus.

Du bist stark und tapfer. Besitzt du diese Stärke aufgrund deiner Vergangenheit?

Egal, was in meinem Leben passiert: Ich weiss, dass ich aufgrund meiner Erfahrungen aus der Vergangenheit immer wieder aufstehe. Meine Zukunft ist eine Talfahrt und ich habe nur Gutes vor mir. Meine Vergangenheit hat mir die nötige Stärke gegeben, um immer weiterzugehen. Aber ich glaube auch, dass mir meine Liebe für das Leben positive Energie gibt. Diese Liebe hat mir die Perfektion meiner Vergangenheit gezeigt und lässt mich meine Zukunft umso mehr schätzen.

Wie siehst du deine Zukunft?

Aktuell bin ich in Ausbildung zur Arzthelferin und liebe diesen Beruf. Dank meiner Ausbildung erkenne ich, welche Fälle medizinisch schlimm sind und welche nicht. Davor habe ich mir durch meine Erfahrung diese Skala selbst angefertigt. 2009 wurde mir bewusst, was ich durchging, habe mich aber nie auf die Schwere konzentriert, weil ich mich an die schlechten Nachrichten und die Krankheit gewöhnt hatte. Dafür weiss ich jetzt welche Krankheiten schlimm sind und bin objektiver.

Meine positive Energie schöpfe ich aus der Liebe für mein Leben.

Ich habe ausserdem sehr gute Freunde und eine fantastische Familie. In diesem Jahr werde ich 25 Jahre alt. Es ist ein schönes Alter und ich bin glücklich jeden Moment meines Lebens auskosten zu dürfen. Denn das ist wertvoll! Ich habe das Glück, vollkommen gesund zu sein und geniesse mein Leben in vollen Zügen.

Photos Tania Emery
Interview Andrea Tarantini
Übersetzung aus dem Französischen Flavia Ulrich

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