elena
Gesundheit Interview

«Handicap sagen nur jene, die sich nicht trauen, das Wort ‹Behinderung› auszusprechen»

19.03.2021
von Lars Meier

Ihr amputierter rechter Unterschenkel hält Elena Kratter nicht davon ab, ein uneingeschränktes Leben zu führen – ganz im Gegenteil: Nach ihrer Karriere als Skirennfahrerin startet die 24-Jährige jetzt in der Leichtathletik durch. Im Interview erzählt die Parasportlerin von den Hintergründen dieser sportlichen Neuorientierung und hält fest, was sich in unserer Gesellschaft in Sachen Inklusion noch ändern müsste.

Frau Elena Kratter, bereits kurz nach Ihrer Geburt musste Ihr rechter Unterschenkel amputiert werden, da Sie als Frühgeburt einen schwachen Herz-Kreislauf hatten. Wie haben Sie Ihre Kindheit erlebt?

Ich bin ganz normal mit meinen Geschwistern aufgewachsen und habe nie gefühlt, dass etwas an mir anders ist. Klar musste meine Prothese immer wieder ausgewechselt werden, wenn ich gewachsen bin. Da ich eine eineiige Zwillingsschwester habe, hat man jeweils geschaut, wann sie zu krabbeln und später zu laufen anfing und anhand dessen den Zeitpunkt meiner ersten Prothese bestimmt.

Wie oft muss so eine Prothese ausgewechselt werden?

Das hängt von mehreren Faktoren ab. Die Abnutzung spielt beispielsweise eine zentrale Rolle. Als ich ein Kind war, habe ich sie etwa draussen beim Spielen sehr stark beansprucht, dann ist sie relativ schnell kaputtgegangen. Ja, ich habe sie in der Tat sehr stark beansprucht, doch dafür ist sie ja da (schmunzelt). Ein weiterer Faktor ist die Form; beispielsweise, wenn die Prothese zu klein wird, weil man sich im Wachstum befindet. Kurz: Wenn der Stumpf nicht mehr in die Prothese passt, muss etwas unternommen werden.

Wie sah der Beginn Ihrer Karriere als Sportlerin aus? 

Ich habe damals im Skisport, konkret im Ski Alpin, begonnen und bin da quasi «reingerutscht». So habe ich an einem von PluSport Behindertensport Schweiz angebotenen Stützpunkttraining teilgenommen. Physiotherapeuten und speziell ausgebildete Skilehrer haben mich dabei unterstützt, besser Ski zu fahren, um mit meinen Geschwistern auf Augenhöhe zu sein. Das hat mir viel Spass gemacht. Bald standen schon die ersten Wettkämpfe vor der Tür; eins hat zum anderen geführt.

Sie sind gelernte Orthopädietechnikerin und beschäftigen sich so auch beruflich mit Prothesen. Welche Rolle hat Ihr Hintergrund bei der Wahl dieses Berufes gespielt?

Eine sehr grosse! Bereits als Kind war ich oft in der Werkstatt dabei und habe miterlebt, wie meine eigenen Prothesen repariert und angepasst wurden. Ich erinnere mich, wie ich oft auf die Werkbank gesetzt wurde und man mir alles im Detail gezeigt hat. Deshalb wusste ich bereits früh, was ich später einmal werden möchte. Es kam eigentlich gar nichts anderes für mich in Frage. Die Vorstellung, eines Tages meine eigenen Prothesen selbständig reparieren und auswechseln zu können, hat mich bereits damals dazu motiviert. Es ist mir zudem wichtig, Erfahrungen weitergeben zu können – nicht nur Kindern, die so aufwachsen, sondern auch Eltern, die vielleicht nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen. Denn im Grund der Dinge ist der Prozess nichts Spezielles, sondern etwas ganz Normales.

Wie gehen Sie mit Rückschlägen um?

Bei mir waren es in erster Linie Verletzungen, die zu Rückschlägen geführt haben. Und die erste Verletzung trifft einen immer am härtesten. Am Anfang weiss man nicht wirklich, wie es weitergehen soll und wird. Doch man findet immer eine Lösung, und dann gibt es einen anderen Weg, den man gehen kann. Letzten Endes wird man stärker als zuvor. Das war bei jeder meiner Verletzungen der Fall. Auch wenn es Zeit braucht: Man muss Geduld haben und eben diesen neuen Weg einschlagen.

Wie haben Sie Ihre Zeit als Skisportlerin in Erinnerung?

Die ganze Skizeit ist mir sehr gut in Erinnerung geblieben. Gesamthaft waren es acht Jahre, in denen ich mit dem Swiss Paralympic Ski Team unterwegs war und Europa- und Weltcups fahren durfte. Es war eine sehr schöne Zeit!

2021 finden voraussichtlich die Paralympischen Sommerspiele in Tokio statt – ein Ziel, worauf auch Sie hinarbeiten. Was bedeuten Ihnen die Paralympics?

Ich schätze es enorm, dass ich das Privileg habe, auf die Paralympics hinarbeiten zu können – sie sind nicht nur ein riesengrosses Ziel von mir, sondern zugleich auch eine Chance, zu zeigen, was in mir steckt.

Wie kam es, dass Sie vom Skisport in die Leichtathletik gewechselt haben?

2018 habe ich eine Sportprothese bekommen, sodass ich mich im Training im Sommer noch besser auf den Skisport vorbereiten konnte. Es hat mir grosse Freude gemacht, wieder laufen zu können und koordinative Übungen haben mir den Umgang mit der Sportprothese enorm erleichtert. Zu Beginn war die Sportprothese also nur Mittel zum Zweck. Zu jener Zeit haben sich jedoch meine Verletzungen im Skifahren gehäuft. Bei der Weltmeisterschaft 2019 hatte ich mein ganzes linkes Knie verletzt. Da war mir klar: Skifahren auf Weltcupniveau wird wohl in Zukunft nicht mehr möglich sein. In der Rehaphase habe ich dann begonnen, viel zu laufen, weil es praktisch das Einzige war, was ich schmerztechnisch aushalten konnte. Auch in die Leichtathletik bin ich folglich sozusagen «reingerutscht». Denn auch sonst habe ich jedes Jahr an der Ottobock Running Clinic teilgenommen. Ottobock ist ein Unternehmen, das unter anderem Prothesenpassteile herstellt, und jeweils einmal pro Jahr ein Trainingswochenende anbietet. In dieser sogenannten Running Clinic, zusammen organisiert mit PluSport, lernen und trainieren Menschen mit einer Beinamputation das Gehen und Rennen mit Prothesen. Geleitet wird das Ganze vom mehrfachen Paralympics-Sieger Heinrich Popow. Im Grund der Dinge hätte es mich schon damals immer wieder gereizt, umzusteigen. Doch ich wusste: Ski und Leichtathletik zusammen – das wird zu viel. Doch als dann der Zeitpunkt kam, als es mit Skifahren nicht mehr ging, habe ich es einfach versucht, und es ist ja auch sehr gut gekommen.

Vermissen Sie das Skifahren?

Ja, schon – ich vermisse die Berge und Pisten. Genauso wie das Unterwegssein im Team und dass man von Ort zu Ort reist. Denn über die Jahre bilden sich natürlich auch Freundschaften mit Athleten aus anderen Nationen. Das ist in der Leichtathletik ein wenig anders: Hier hat man einfach seine Bahn – egal, wo auf der Welt man ist (schmunzelt).

Im Umgang mit Menschen mit einer Beeinträchtigung existieren viele Umschreibungen – Behinderung und Handicap sind nur zwei davon. Wie sehen Sie das? Welche Begriffe sollte man verwenden?

Lieber Behinderung – Handicap sagen nur jene, die sich nicht trauen, das Wort «Behinderung» auszusprechen (lacht). Es ist einfach ein künstliches Wort, finde ich. Denn eine Behinderung ist ja nichts Negatives. Das sehe übrigens nicht nur ich so; viele Leute, die ich kenne, sehen das auch so.

Bild: Tobias Lackner
Bild: Tobias Lackner

Haben Sie das Gefühl, sich aufgrund Ihrer Behinderung mehr beweisen zu müssen als andere? Wenn ja, wie und wo macht sich das bemerkbar?

(überlegt kurz) Ich denke, ich möchte eher mir selber jeweils beweisen, dass ich etwas kann. Aber das hat weniger mit meiner Behinderung zu tun. Das liegt vielmehr an meinem Charakter; ich bin ein sehr ehrgeiziger Mensch. Doch natürlich stellt es eine Herausforderung dar, wenn ich bestimmte Dinge nicht so machen kann wie andere und ich eine eigene Lösung finden muss, sodass es dennoch funktioniert. Es macht mir sogar Spass, diese Herausforderungen anzunehmen und zu meistern!

Wo steht in Ihren Augen unsere Gesellschaft, wenn es um die Inklusion von Menschen mit Behinderung geht? Was müsste sich noch ändern?

Das Bewusstsein dafür, dass es viele verschiedene Behinderungen gibt, müsste in meinen Augen noch gestärkt werden. Die Gesellschaft sieht zurzeit eher noch den Rollstuhlfahrer als den stereotypen Behinderten, doch es gibt noch viele andere Behinderungen, weit mehr als das Offensichtliche. Trage ich beispielsweise lange Hosen, bekommt auch niemand von meiner Prothese etwas mit. Man sollte mit offenen Augen durch die Welt gehen und einander helfen, wo Hilfe benötigt wird. Denn nur weil jemand keine Behinderung hat, heisst das nicht automatisch, dass diese Person keine Hilfe benötigt!

Was möchten Sie Menschen mit und ohne Behinderung mit auf den Weg geben? 

Man sollte an seine Ziele und Träume glauben und dafür kämpfen – egal, wie schwer es am Anfang auch aussehen mag. Man sollte seine Ziele und Träume nie aus den Augen verlieren.

Was macht für Sie ein uneingeschränktes Leben aus?

Dass ich alles machen kann, was ich mir vornehme oder machen möchte. Dass ich mich nicht begrenzen lasse durch etwaige Gegebenheiten und Voraussetzungen und dass ich immer einen Weg finde. Denn es gibt für alles eine Lösung – es ist nur der Wille des Menschen und nicht die Prothese, die das Limit setzt!

Was würden Sie Ihrem jüngeren Ich raten?

Sei mutig und selbstbewusst – und sei stolz, auf das, was du machst und kannst. Zweifle nicht an dir und glaube an deine Stärken!

Welche Ziele setzen Sie sich für die Zukunft?

Ein grosses Ziel 2021 sind sicher die Paralympischen Spiele in Tokio; ich möchte dort ein gutes Resultat erzielen. Des Weiteren möchte ich meine Ausbildung abschliessen. Zurzeit absolviere ich die Maturitätsschule für Erwachsene. Später möchte ich Biomechanik studieren, um zur Forschung in der Prothetik von Kniegelenken beizutragen.

Interview Lars Meier  Headerbild Urs Sigg

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Vorheriger Artikel Hindernisfreiheit bedeutet mehr als eine Rampe für Rollstühle
Nächster Artikel Eine Endometriose ist mehr als nur Periodenschmerzen