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Gesundheit

Hindernisfreiheit bedeutet mehr als eine Rampe für Rollstühle

19.03.2021
von Kevin Meier

Das Recht auf Gleichberechtigung durchdringt nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die Politik und Wirtschaft. Eine Auseinandersetzung, wie es um die Inklusion von Menschen mit Behinderungen steht und warum sie für alle wichtig ist.

Im Jahr 2006 wurde das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, auch Behindertenrechtskonvention BRK genannt, von der Organisation der Vereinten Nationen verabschiedet. Es war das erste internationale Übereinkommen dieser Art. Die Schweiz ratifizierte die BRK 2014 und sie trat noch im selben Jahr in Kraft. Damit hat sich die Schweiz dazu verpflichtet, Menschen mit einer Behinderung vor Diskriminierung zu schützen und deren Inklusion und Gleichstellung in allen Belangen der Gesellschaft zu fördern. Das Prinzip der Inklusion anstelle von Integration stellt einen Paradigmenwechsel dar, indem Menschen nicht mehr kategorisch behandelt werden, sondern als Teil der menschlichen Vielfalt verstanden und miteinbezogen werden. Architekt Joe A. Manser der Schweizer Fachstelle für hindernisfreie Architektur veranschaulicht den Stand der Gleichstellung am Beispiel der Infrastruktur. 

Die BRK und deren Umsetzung

Wie bei solchen Übereinkommen üblich, handelt es sich bei der BRK um einen Katalog mit Zielvorgaben. Die Umsetzung, wie diese Zielvorgaben erfüllt werden sollen, ist nicht in der BRK selbst geregelt. Denn die rechtliche Beurteilung internationaler Abkommen wird aufgrund grosser Unterschiede in Rahmenbedingungen und Rechtssystemen den individuellen Staaten überlassen. Laut Manser ist das einer der Gründe, weshalb die Schweiz das Übereinkommen erst acht Jahre später unterschrieb: «Die Schweiz zögerte, weil sie erst sicherstellen wollte, dass die enthaltenen Punkte auch in der Realität umsetzbar sind.» Nichtsdestotrotz hat sich die Schweiz zur Inklusion von Menschen mit Behinderungen bekannt und ist somit verpflichtet die Umsetzung im Detail zu klären.

«In Bezug auf die Rechte von Menschen mit Behinderungen hat sich effektiv etwas getan. Die Bewusstseinsbildung und die Diskussion über das Thema wurden in Bewegung gebracht», stellt Manser fest. Beispielsweise hat der Kanton Zürich eine Stelle geschaffen mit dem Auftrag, die Umsetzung der BRK zu beobachten und zu fördern. In diesem Sinne entfaltet sie ihre Wirkung. In der Schweiz gab es aber schon zuvor Etappensiege für die Gleichstellung.

Ein langer Weg zur Gleichstellung

Der Paradigmenwechsel hin zur Inklusion hat derweil in der Schweiz schon vor der BRK begonnen. 2004 trat das Behindertengleichstellungsgesetz BehiG in Kraft, welches festschreibt, dass die Rahmenbedingungen eine Teilnahme am gesellschaftlichen Leben erleichtern sollen. Grosses Augenmerk schenkt dieses Bundesgesetz vor allem dem Bau und dem öffentlichen Verkehr. Die BRK hat der Intention des gleichwertigen Lebens nochmals einen Schub gegeben, die Umsetzung hapert aber noch. 

Die hindernisfreie Architektur

Im Gegensatz zur Bildung, sind die Anforderungen in der Architektur und Infrastruktur einfacher umzusetzen. Die Normen SIA 521 500 und SN 640 075 regeln Immobilien- respektive Strassenbau und funktionieren im Grundsatz nach dem Prinzip der Inklusion. Zu beachten ist – wie immer in der Architektur – dass die Funktion der Bauten die Form mitbestimmt. Manser sagt, man müsse zwischen öffentlich zugänglichen Bauten, Wohnbauten und Bauten mit Arbeitsplatz differenzieren. Ein gängiges Missverständnis ist, dass man öffentlich zugängliche Bauten mit öffentlichen Gebäuden gleichstellt. Jedoch sind alle Gebäude mit Publikumsverkehr mit der BehiG gemeint. Denn in der Schweiz regelt die Norm nicht wann, sondern wie hindernisfrei gebaut werden muss. 

Bei Bauten mit Publikumsverkehr gilt das Prinzip der Inklusion vollständig. Jeder Mensch mit Behinderungen muss sich in solchen Gebäuden zurechtfinden können. «Teil des inklusiven Konzeptes ist beispielsweise das Zwei-Sinne-Prinzip: Die Kommunikation findet immer auf zwei Ebenen statt», erläutert Manser. In einem Vorlesungssaal könnte das bedeuten, dass Gesagtes simultan auch auf Bildschirmen erscheint. Gehörlose können so lesend folgen, während Menschen mit Sehbehinderungen weiterhin zuhören können. Dieses Prinzip lässt sich ebenso in anderen baulichen Eigenschaften integrieren.

Nicht nur für Menschen mit Behinderungen

Beim Wohnungsbau greift das BehiG ab acht Einheiten und ist weniger detailliert als bei öffentlich zugänglichen Gebäuden. Ziel ist, dass Wohnbauten hindernisfrei besuchbar sind. «Die Wohnung selbst muss nicht perfekt sein, sondern vielmehr das Potenzial für Anpassungen haben», führt Manser aus. Nur einen Teil der Wohnungen hindernisfrei zu gestalten ergebe keinen Sinn, da man kaum weiss, welche Wohnungen von wem bewohnt sein werden. Mit einem anpassbaren Wohnungsbau erübrigt sich dieses Problem und der Wohnungsmarkt wird gleichzeitig inklusiver.

Das ist insofern wichtig, dass die hindernisfreie Architektur nicht nur die Inklusion von Menschen mit einer Behinderung ermöglicht. Aufgrund der überalternden Bevölkerung drängen sich diese Themen ohnehin in den Vordergrund. Die Bevölkerung wird immer älter, möchte aber gleichzeitig mobil bleiben. Es ist unerheblich, ob die Normen sich an Menschen mit Behinderungen orientieren, davon profitieren wird die gesamte Bevölkerung. 

Bereits am Ziel?

Was die Regelungen anbelangt, ist Manser zuversichtlich: «Das Glas ist mindestens zu Dreivierteln voll, aber der Grad der Umsetzung ist kantonal sehr unterschiedlich.» Die Vorgaben für eine inklusive Zukunft sind also gegeben. «Dennoch muss man noch weiter daran arbeiten, damit die Gleichstellung gewährleistet wird», warnt Manser. Das Thema erfährt noch nicht den Stellenwert, den es haben müsste. Damit das Bewusstsein und der Wille für eine vollumfängliche Inklusion vergrössert werden, darf man nicht nachlässig werden. Das würde riskieren, dass die wenigen Fortschritte verloren gehen könnten. 

Text Kevin Meier

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