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Innovation Mobilität

Wie Mikromobilität und die menschliche Evolution zusammenhängen

16.06.2022
von Akvile Arlauskaite

Mensch-Umwelt-Interaktionen gehören zu den Forschungsschwerpunkten von Dr. Elisabeth Oberzaucher. Die Verhaltensbiologin spricht darüber, welche Faktoren uns dazu bewegen können, nachhaltige Mobilität intuitiv zu präferieren und welche Rolle die menschliche Evolution dabei spielt.

Dr. Oberzaucher, Sie postulieren, dass im Laufe der Evolutionsgeschichte Verhaltenstendenzen entstanden sind, die uns bis heute prägen. Inwiefern spielen diese in unseren Mobilitätsentscheiden eine Rolle?

Da uns früher nicht unbegrenzte Mengen an Kalorien zur Verfügung standen, ist im Laufe der Zeit die Tendenz entstanden, möglichst viel physiologische Energie zu sparen. Bei der Fortbewegung äussert sich dies etwa darin, dass wir dazu neigen, passive Mobilität zu wählen.

So entstand auch die Vorliebe für den motorisierten Individualverkehr. Welche weiteren Umstände haben diese Entwicklung geprägt und wo sind «Denkfehler» zu erkennen?

Das meist vor der Haustüre stehende Auto hat sich als eine bequeme Fortbewegungsmöglichkeit etabliert. Durch das Steuer in der Hand hat man das Gefühl, die Kontrolle darüber zu haben, was mit einem geschieht. Zudem erlaubt uns ein privates Fahrzeug, unsere Individualdistanz zu fremden Menschen zu wahren. Ein weiterer Punkt ist die kognitive Belastung. Im Vorfeld einer Reise mit dem Auto muss man kaum planen und die kognitiven Entscheidungen sind über die gesamte Autofahrt verteilt. Hingegen trifft man bei anderen Verkehrsmitteln wie etwa dem ÖV vor der Abfahrt auf eine grosse kognitive Hürde: organisatorische Herausforderungen wie Planung oder kompliziertes Ticketing.

Was häufig untergeht, ist, dass die Reise mit dem ÖV einen Zeitgewinn darstellt. Sitzt man nicht am Steuer, kann man sich anderen Tätigkeiten widmen. Gleichzeitig werden beim Autofahren die zeitlichen Hürden wie die Parkplatzsuche oder das Stehen im Stau oft ausgeblendet. Da geht man gerne von den Optimalbedingungen aus.

Worauf kommt es bei der Mobilitätswende an?

Das Zauberwort bei der Mobilitätswende ist Multimodalität – die Möglichkeit, für jede Wegstrecke das optimal geeignete Verkehrsmittel wählen zu können. Dort, wo die Personen- und Wegedichte nicht gegeben ist, wird die motorisierte Individualmobilität wahrscheinlich noch lange ihren Platz behalten. Für die restlichen Bereiche ist die nachhaltige Mobilität eine sehr gute Alternative.

Durch «Behavioral Nudging» sollen Individuen dazu bewegt werden, sich intuitiv für solche nachhaltigen Alternativen zu entscheiden, ohne das Gefühl zu haben, auf etwas zu verzichten. Wie kann man sich dies konkret vorstellen?

Statt nur auf den bewussten Umstieg zu setzen, zielt «Behavioral Nudging» darauf ab, das Bauchgefühl anzusprechen. Würde man die Mobilitätswende ausschliesslich über den Kopf «steuern» wollen, würde man nur diejenigen gewinnen, welche das Bewusstsein für Nachhaltigkeit bereits mitbringen, während der Rest aussen vor bleiben würde. Passiert dies hingegen intuitiv, vergrössert sich die Zielgruppe automatisch. Um dies zu erreichen, ist es sehr wichtig, nachhaltige Mobilität attraktiver zu machen. So kann die kognitive Barriere zum Beispiel durch einfaches Ticketing wie bei Fairtiq abgebaut werden.

Eine Herausforderung der Mikromobilität ist, wie der Name es bereits verrät, die Kleinteiligkeit.

Eine dieser nachhaltigen Alternativen ist die Mikromobilität. Welche Vorteile und Herausforderungen weist diese im Kontext der Sharing-Economy auf?

Zunächst gilt es zu erwähnen, dass die Mikromobilität als eine Ergänzung zum ÖV für die letzte Meile dient. In diesem Sinne fehlt bei dieser Form im Vergleich zur motorisierten Individualmobilität kaum etwas. Vor allem überzeugt sie in Sachen Flexibilität und ermöglicht es ausserdem, die Individualdistanz zu Fremden einzuhalten.

Eine Herausforderung ist jedoch, wie der Name es bereits verrät, die Kleinteiligkeit. Möchte man Mikromobilität in Anspruch nehmen, braucht man für jeden Ort eine eigene App und spezielles Know-how – eine hohe kognitive Barriere. Es fehlt eine Plattform zur Bündelung der unterschiedlichen Services. Zudem ist das Angebot derzeit nicht optimal auf die Nachfrage abgestimmt. Die Verlässlichkeit, dass das Fahrzeug da ist, wenn man es braucht, ist noch nicht gegeben. Eine weitere Problematik ist der Sharing-Aspekt. Während ein eigenes Fahrzeug als eigenes Territorium wahrgenommen wird, mit dem man sich identifiziert, fällt dies bei geteilter Mikromobilität weg

Was können Externe unternehmen, um die Mobilitätswende anzukurbeln?

Der Staat sollte die Individualmobilität nicht mehr so stark fördern. Denn aktuell besteht kaum Druck, auf nachhaltige Mobilität umzusteigen, trotz des fantastischen ÖV-Angebotes in der Schweiz. Nebst der Vereinfachung des Ticketings und der Reiseplanung ist es zudem wichtig, ein möglichst angenehmes Reiseerlebnis zu schaffen. Letzteres ist sogar bedeutsamer als die monetäre Attraktivität. Denn Geld ist nicht notwendigerweise ein guter Motivator – nur weil etwas kostengünstiger ist, möchte das Individuum es noch nicht unbedingt. Das Angebot muss auch attraktiv sein, das heisst Komfort, einen Rückzugsort sowie die Möglichkeit bieten, die Individualdistanz zu sichern.

Und wie sieht dies in Bezug auf die Anbieter der Mikromobilität aus? 

Es ist wichtig, dass die unterschiedlichen Dienstleister sich nicht als Konkurrenz, sondern als ergänzende Services verstehen. Durch das Kooperieren erleidet man unter dem Strich keine Verluste, denn hierdurch wird das Gesamtangebot attraktiver. Dies hilft wiederum, Neukund:innen zu gewinnen. Um den organisatorischen Aufwand für die Kundschaft zu verringern, ist die Zusammenarbeit in Bezug auf die User-Interfaces zentral.

Wie schätzen Sie die Zukunft der Mobilität hierzulande ein?

Zunächst hat die nachhaltige Mobilität den Vorteil, dass sie in unserer Evolutionsgeschichte bereits viel länger existiert als die motorisierte Individualmobilität. Sie ist also nicht biologisch, sondern kulturell verankert. Das gibt mir Hoffnung, dass wir diese Präferenz wieder entlernen können. Des Weiteren hoffe ich, dass die verschiedenen Mobilitätsformen bald so gut zusammenarbeiten und die Angebote so leicht zugänglich, in ausreichender Form vorhanden, attraktiv und nahtlos kombiniert sind, dass der Bedarf, mit dem eigenen Auto zu reisen, wirklich abnimmt. Es bleibt aber noch viel zu tun. Wir müssen gemeinsam an vielen Schrauben drehen, damit die Mobilitätswende gelingt.

Was raten Sie Personen, die weitere Schritte in Richtung Mobilitätswende unternehmen möchten?

Einfach mal ausprobieren. Solange nachhaltige Alternativen etwas Unbekanntes bleiben, tendiert man dazu, diese als komplizierter anzusehen als sie tatsächlich sind und hält sich davon fern. Idealerweise probiert man die Mikromobilitätsangebote im Urlaub oder unter der Woche ohne Zeitdruck aus. In einer stressfreien Situation hat man nämlich eher die kognitive Kapazität, Neues zu lernen.

Interview Akvile Arlauskaite 

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