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Reisen als Heilung

13.01.2022
von Melanie Cubela

Das Reisen ist die wohl beste Art, richtig abzuschalten. Schon bei den Vorbereitungen einer Reise beginnt man, sich psychisch vom Alltag zu entfernen. Wie wichtig letztendlich das Reisen für das psychische Wohlbefinden ist und was es dabei zu beachten gilt. 

Im Alltag sammeln sich Unmengen an kleinen Stressfaktoren, die dazu führen, nie richtig abschalten zu können. Ob bei der Arbeit oder zu Hause, es gibt immer etwas zu erledigen. Durch das Reisen entfernt man sich nicht nur physisch davon, sondern auch psychisch.

Die mentale Gesundheit

Seit der Pandemie ist das Thema mentale Gesundheit stärker denn je in den Vordergrund gerückt. Gesundheit war den Menschen schon immer wichtig, doch die Psyche gerät oft in Vergessenheit, obwohl genau diese so wichtig ist. 2017 waren laut dem Bundesamt für Statistik 11,7 Prozent der Männer und 18,3 Prozent der Frauen mittleren oder hohen psychischen Belastungen ausgesetzt. Wahrscheinlich fallen die Zahlen heute weitaus höher aus. Laut der Swiss Corona Stress Study stieg der Anteil an Menschen mit depressiven Symptomen allein von Februar bis November 2020 von 3 auf 18 Prozent an.

«Fokus» hat ein Interview mit Dr. Charlotte Russell über die psychologischen Auswirkungen des Reisens geführt. Sie ist klinische Psychologin aus England und Gründerin der Website «The Travel Psychologist».

Dr. Charlotte Russell, Reisen als Heilung für die psychische Gesundheit – inwiefern soll dies die Psyche unterstützen?

Reisen kann zu den fünf Bausteinen des Wohlbefindens beitragen, nämlich zu positiven Emotionen, Engagement, Beziehungen, Bedeutung und Leistung, wie Seligman einst in seinem Artikel «Perma and the building blocks of well-being» festhielt. Eine Reise kann zu unserem Wohlbefinden beitragen, wenn wir in der Lage sind, uns auf die Kultur einzulassen, Beziehungen zu knüpfen, eine Art von Bedeutung zu lernen und mitzunehmen sowie ein Gefühl der Vollendung zu erlangen.  

Dies ist natürlich wahrscheinlicher, wenn wir Reisen bereits geniessen und sie als sinnvolle oder erfüllende Erfahrung ansehen. Wenn jemand bereits mit der eigenen Stimmung zu kämpfen hat oder unter Angstzuständen leidet, ist es unwahrscheinlich, dass eine Reise allein ausreicht, um die betroffene Person zu heilen. Es ist bewiesen, dass Stimmungsschwierigkeiten und Angstzustände dazu führen können, dass wir in einen Teufelskreis des Denkens und Verhaltens geraten und darin stecken bleiben. Dieser wird durch das Reisen allein wahrscheinlich nicht durchbrochen werden können. In diesem Fall wäre eine psychologische Therapie die beste Lösung.

Welche Reiseziele eignen sich am besten für so einen Trip?

Welches Reiseziel ideal ist, hängt von jeder und jedem Einzelnen ab. Wir alle haben unterschiedliche Reisebedürfnisse, die von unserer Persönlichkeit, Lebens- und Familiensituation, unseren Einstellungen und natürlichen Vorlieben abhängen. Ich möchte die Lesenden ermutigen, sich zu fragen, was sie jetzt gerade von einer Reise brauchen. Dies wird in den verschiedenen Phasen unseres Lebens und je nach den Anforderungen, die an uns gestellt werden, unterschiedlich sein. Zu den Fragen, die sich die Lesenden stellen sollten, gehören: Was brauche ich jetzt gerade? Habe ich das Gefühl, dass ich Abenteuer oder Entspannung brauche? Würde es mir helfen, etwas Neues zu entdecken oder möchte ich an einen vertrauten Ort zurückkehren? Möchte ich in eine neue Kultur eintauchen oder möchte ich die Zeit mit Aktivitäten verbringen, die ich normalerweise an einem neuen Ort geniessen würde?

Muss man weit weggehen, um das Wohlbefinden zu stärken?

Dies hängt von den Bedürfnissen der oder des Einzelnen zu einem bestimmten Zeitpunkt ab. Wenn die Person Entspannung oder Vertrautheit sucht, ist ein Aufenthalt im eigenen Land eine gute Option. Wenn man sich danach sehnt, eine neue Kultur zu erkunden oder zu erleben, wird eine Fernreise diesem Bedürfnis meist besser gerecht.

Sollte etwas während der Reise beachtet werden?

Man soll nicht starr in Bezug auf Hoffnungen und Erwartungen sein. Es kann hilfreich sein, sich der Erwartungen an eine Reise bewusst zu sein. Anspannung ist bestimmt nicht hilfreich. Wenn man erwartet, dass alles perfekt abläuft, kann man schnell enttäuscht werden. Eine Möglichkeit, vorzubeugen, besteht darin, im Voraus darüber nachzudenken, wie man etwaige Herausforderungen «umgestalten» oder betrachten könnte. Zum Beispiel, indem man die Mühe der Covid-Tests als «wertvoll» betrachtet oder indem man die Herausforderungen als Teil des Abenteuers sieht. Man kann darüber nachdenken, wie man reagieren würde, wenn etwas schiefläuft. So kann man sich vorbereiten und vielleicht ruhiger und konstruktiver mit der Situation umgehen. 

Ausserdem soll man das Positive zu schätzen wissen. Wir wissen, dass wir uns als Menschen an vergnügliche Dinge gewöhnen und sie dann nicht mehr als so vergnüglich empfinden. Wir können dies abmildern, indem wir uns bewusst auf das Positive konzentrieren. Hierfür kann man zum Beispiel an jedem Urlaubstag Erlebnisse benennen oder nacherzählen, für die man dankbar ist. Auch Techniken wie Achtsamkeit können helfen, die kleinen alltäglichen Freuden während des Urlaubs ganz präsent zu halten.

Ist dies eine einmalige Sache oder soll man sich diesem später regelmässig widmen?

Wenn wir bereits gerne reisen und es als entspannende oder erfüllende Erfahrung empfinden, werden wir wahrscheinlich regelmässig reisen wollen. Die Häufigkeit, die für jeden Menschen richtig ist, hängt von seinen Bedürfnissen und auch von seinen Lebensumständen und Mitteln ab. Natürlich würde ich nie jemandem vorschlagen, über seine finanziellen Möglichkeiten hinaus oder zum Nachteil seiner anderen Lebensverpflichtungen oder Beziehungen zu reisen. Wie bei allem im Leben geht es darum, das richtige Gleichgewicht für das Individuum persönlich zu finden. Für einige mag das eine Reise pro Jahr sein, während andere vielleicht feststellen, dass häufigeres Reisen das Richtige für sie ist.

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