Aufgrund der politischen Lage in Eritrea war Merhawi Redae im Jugendalter gezwungen, seine Heimat zu verlassen. Was er auf seiner Flucht erlebt hat und wie er seinen Weg in die Schweiz gefunden hat, erzählt er im Interview mit «Fokus».
Merhawi, kannst du von dir erzählen?
Ich wurde in Äthiopien geboren und wuchs dann mit meinen sieben Geschwistern in Eritrea auf. Ich konnte erst mit zwölf Jahren die Grundschule besuchen und war somit älter als meine Mitschüler:innen. Zu jener Zeit war ich halbtags in der Schule und habe meine Eltern auf dem Bauernhof unterstützt. Da wir in Eritrea Selbstversorger sind, war das eine wichtige Aufgabe. Ich hatte ein gutes Verhältnis zu meiner Mutter. Aber meinen Vater sah ich wenig, weil er im Militär war. Wir waren als Familie eng miteinander verbunden und haben immer zusammen gegessen. Diese Gemeinschaft vermisse ich heute enorm.
Kannst du dich an die politische Stimmung in Eritrea erinnern?
Eritrea ist eine Diktatur und die Lage ist nicht gut. Man hat keine Meinungs-, Informations- oder Medienfreiheit und ist auch nicht persönlich frei. Mein Vater wurde mit 15 gezwungen, der Armee beizutreten. Er durfte uns nur einmal im Jahr besuchen. Wenn er mehrmals kam, wurde er festgenommen und wir konnten ihn für eine längere Zeit nicht sehen. Als Kind habe ich zugesehen, wie mein Vater ständig weggeführt wurde und auch ins Gefängnis musste. Das hat meine Kindheit zerstört und ich fing an, die Regierung zu hassen.
Was war der Auslöser für deine Flucht?
Ich war gezwungen, mit 17 eine Pause in der Schule einzulegen, da meine Mutter krank wurde und ich der Familie helfen musste. Ein Jahr später bekam ich den Anruf und Brief, dass ich dem Militär beitreten muss. Ich hatte in diesem Moment das Bild meines Vaters vor Augen und verweigerte den Befehl. Danach habe ich mich versteckt und meine Familie nur nachts besucht. Nach einiger Zeit beschloss ich dann, das Land zu verlassen. Bis zu diesem Zeitpunkt hätte ich nie gedacht, dass ich jemals aus meiner Heimat wegziehen werde, doch ein Leben im Militär kam nicht infrage. Ich habe niemandem von meinem Plan erzählt und bin gegangen.
Kannst du deine Flucht schildern?
Ich ging nach Antore, an die Grenze zwischen Eritrea und Äthiopien, und schloss mich den Hirten dort an. Ich versuchte nach einiger Zeit die Grenze in den Sudan zu überqueren, aber das hat nicht geklappt. Deshalb entschied ich mich, über einen Fluss nach Äthiopien zu flüchten. Zuerst bin ich 3,5 Tage zu Fuss zur Grenze gelaufen und habe mich dann am Ufer versteckt, bis es dunkel wurde. Nach Sonnenuntergang konnte ich meine Flucht unter Lebensgefahr fortsetzen. Ich wusste nicht, wie tief oder wie schnell die Strömung war. Beim Schwimmen hat der Fluss mein Gepäck weggerissen und ich kam nur mit meinem Portemonnaie und durchnässten Kleidern in Äthiopien an. Nach einigen Stunden wurde ich vom Militär festgenommen. Sie dachten, ich sei ein eritreischer Spion. Zum Glück hatte ich meinen Schülerausweis dabei und konnte beweisen, dass ich nicht in der Armee bin und wurde freigelassen. Ich habe mich ein paar Monate in einem äthiopischen Asylheim aufgehalten. Aber ich konnte dort weder mit der Schule weiterfahren noch eine Arbeit finden. Ich war 18 und allein, bis ich einen weiteren Eritreer auf der Flucht traf. Wir entschieden uns zusammen in den Sudan zu gehen. Wir mussten vier Tage zu Fuss durch die Sahara laufen, ohne Schatten oder Wasser. Im Sudan angekommen, wurden wir festgenommen und unsere Personalien wurden aufgenommen. In diesem Land konnte ich arbeiten, aber ich wurde jeden Tag von der korrupten Polizei verhaftet und erst gegen Bezahlung freigelassen. Um weitere derartige Situationen zu vermeiden, fing ich eine Arbeit in einem kleineren Dorf an und konnte so Geld sparen. Es verlief alles gut und ich dachte mir, dass ich mein neues Zuhause gefunden habe, bis ich eines Tages wieder festgenommen wurde. Ich hatte die Bewilligung, mich dort frei zu bewegen und zu arbeiten, doch die Polizisten zerrissen meine Papiere vor meinen Augen. Ich war schockiert und konnte nichts dagegen machen. Sie meinten nur, ich solle entweder 600 Dollar zahlen oder ich müsse ins Gefängnis. Daraufhin wurde ich eingesperrt, bis ich drei Monate später mithilfe eines Freundes wieder auf freiem Fuss war. Dieser hat mich dann überzeugt, meine Flucht in Richtung Europa fortzusetzen, denn im Sudan konnte ich so nicht weiterleben. Zuerst wollte ich nicht gehen. Aber er hatte recht. Ich flüchtete aus dem Sudan nach Libyen, was die schlimmste Reise meines Lebens war.
Was hast du auf dem Weg erlebt?
Wir sind in einer Gruppe mit dem Auto nach Libyen gefahren. Wir waren eine Woche in der Sahara unterwegs und als wir in die Nähe der Grenze zu Tschad kamen, wurden wir von bewaffneten Unbekannten angegriffen. Sie haben unseren Fahrer geschnappt, Benzin auf dem Boden ausgeschüttet, seinen Kopf hineingestossen und ihn mit einer Gummipeitsche geschlagen. Sie wollten herausfinden, ob noch mehr Autos mit Geflüchteten unterwegs sind, aber er gab ihnen keine Auskunft. Danach kamen sie auf uns zu und alle jungen Männer wurden geschlagen. Wir wussten auch nichts. Schlussendlich wurden alle ausser der Fahrer mitgenommen. Sie hielten uns in der Sahara gefangen und gaben uns nur wenig Wasser zu trinken, welches sie mit Benzin vermischt hatten. Nach einer Woche verstarb einer von uns aufgrund der Hitze und viele wurden immer wieder bewusstlos. Danach wurden wir in einen geschlossenen Raum eingesperrt und einige Tage später brachten sie uns nach Tripolis. Dort angekommen, fingen die Unbekannten und die lokale Polizei an, einander anzugreifen. Einige von uns – auch ich – haben die Chance ergriffen und sind weggerannt. Später habe ich erfahren, dass die verbliebenen Gefangenen der Polizei bis zu 8000 Dollar zahlen mussten, um zum Mittelmeer zu gelangen. In Libyen war ich nochmals einen Monat im Gefängnis mit etwa 80 Personen in einer Zelle eingesperrt. Der Wärter kam immer abends zu uns, um Essen zu bringen und liess dabei die Türe offen. Nach einem Monat haben wir diesen Moment genutzt, um zu fliehen. Ich musste diese Flucht riskieren, da ich das Geld nicht bezahlen konnte. Vier von uns rannten los, aber einer wurde erschossen. Wir konnten ihm nicht helfen; wir hörten seinen Schrei, aber mussten weiterrennen, bis wir das Mittelmeer erreichten.
Wie habt ihr das Mittelmeer überquert?
Wir mussten bezahlen und konnten dann mit den anderen Passant:innen in ein Gummi-Schlauchboot steigen. An diesem Tag war ich enorm glücklich. Wir waren drei Tage und Nächte auf dem Meer unterwegs, bis ein grösseres Frachtschiff uns fand und rettete. Dieses brachte uns nach Italien, aber auf dem Weg wurde ich krank und verlor mein Bewusstsein. Als wir auf Festland ankamen, wurde ich von einem Krankenwagen abgeholt. Im Spital erfuhr ich, dass ich mir die Windpocken eingefangen hatte. Der Arzt versicherte mir, dass dies nichts Schlimmes sei und ich wieder gesund werde.
Welchen Weg musstest du in die Schweiz zurücklegen? Was hast du dabei erlebt?
Als Erstes kam die italienische Polizei ins Spital und zwang mich, meine Fingerabdrücke abzugeben. Ich habe mich zuerst geweigert, aber irgendwann blieb mir keine andere Wahl. Danach konnte ich von Sardinien mit dem Schiff nach Rom und von dort mit dem Zug nach Milano reisen. Das war meine erste Zugfahrt im Leben. Ich wusste nicht, was ich machen oder wie ich in den Zug steigen musste. Ich habe bemerkt, dass einige Personen ein Ticket an einer Maschine lösten und fragte bei ihnen nach. Ein Junge half mir, ein Ticket zu lösen, aber mein Geld reichte dafür nicht. Ich beschloss, ohne Ticket zu fahren. Im Zug wurde ich kontrolliert und als ich meine Situation erklärt hatte, musste ich beim Zugpersonal sitzen, bis wir Milano erreichten. Dort erwartete mich wieder die Polizei. Glücklicherweise hatte ich die Dokumente mit den Fingerabdrücken dabei. Ich konnte meine Flucht erklären und weiter nach Chiasso reisen. Bei der Grenzkontrolle wurde ich erneut aufgefordert, meine Fingerabdrücke abzugeben. Weil ich nur eine italienische Flagge sah, habe ich mich zunächst geweigert. Sie haben mich mit nach draussen genommen und gezeigt, dass ich in der Schweiz bin. Ich konnte die notwendigen Dokumente ausfüllen und Personalien angeben, danach wurde ich in ein Asylheim gebracht. Zuerst war ich in Chiasso und später schickten sie mich in ein Heim in Embrach.
Zunächst hatte ich Mühe mit der Verschlossenheit der Schweizer:innen.
Wolltest du schon immer in die Schweiz?
Ich wollte immer nach England, da ich dort einen Cousin habe. Dies hat leider nicht funktioniert und die Schweiz war meine zweite Wahl.
Sind deine Familienangehörigen noch in Eritrea?
Ja, die ganze Familie ist noch dort. Ich bin der Einzige, der im Ausland ist. Ich hatte stets Kontakt zu meiner Mutter. Seit sie gestorben ist, spreche ich kaum noch mit meinen Geschwistern.
Wie empfandst du die Schweiz anfangs?
Ich hatte einen Kulturschock, als ich alles hier sah. Die Leute und das Klima sind anders. Es gab viele Wetterwechsel und vor allem Schnee, was ich in meinem Leben noch nie zuvor gesehen hatte. Ich hatte am Anfang Mühe damit.
Hattest du Mühe, dich hier einzuleben und die Sprache zu lernen?
Als ich in Chiasso ankam, konnte ich die Sprache auswählen. In Afrika sagt man immer, dass Deutsch eine schwere Sprache ist, aber ich habe mich trotzdem dafür entschieden, da ich lernbegeistert war. Aber als ich mit dem Unterricht begann, dachte ich mir, ich werde diese Sprache nie lernen. Irgendwie hat es doch geklappt.
Zunächst hatte ich Mühe mit der Verschlossenheit der Schweizer:innen und somit neue Kontakte zu knüpfen. Beim Sport lernte ich einige Leute kennen, aber es dauerte, bis sie offener wurden. Ich habe dann bemerkt, dass sie wie Nüsse sind: aussen hart und innen weich. Am Anfang hatte ich Heimweh und fühlte mich einsam, aber ich konnte mich mit der Zeit gut integrieren. Heute habe ich einen guten Freundeskreis und fühle mich in der Schweiz zu Hause.
Du hast eine Ausbildung als Fachmann Betriebsunterhalt abgeschlossen. Wie war dein Weg dahin?
Ich musste zuerst auf einen Entscheid aus Bern warten, denn ohne Aufenthaltsbewilligung konnte ich weder arbeiten noch eine Ausbildung absolvieren. Ich habe mich in der Zwischenzeit freiwillig engagiert und bei Organisationen wie der Caritas oder dem Roten Kreuz ausgeholfen.
Nach drei Jahren erhielt ich endlich meine Bewilligung und konnte an die Erwachsenenbildung für die Berufsvorbereitung gehen. Mit Hilfe der Schule habe ich schlussendlich eine Lehre als Fachmann Betriebsunterhalt erhalten.
Hattest du Unterstützung während der Lehre?
Ich hatte gute Lehrer, die mich unterstützt haben. Eine grosse Rolle spielte die Caritas Zürich. Ich hatte an ihrem Projekt «incluso» teilgenommen und wurde während meiner Lehre unterstützt. Sie haben sich die Zeit genommen, meine Fragen zu beantworten und mir Rat zu geben, wenn ich Hilfe brauchte.
Bist du zufrieden mit deiner Ausbildung und deinem Leben in der Schweiz?
Enorm. Ich kann hier meine Wünsche erfüllen und meine Zukunft selbst planen. In Eritrea hätte ich keine Wahl gehabt. Hier kann ich wirklich leben und habe auch ein gutes soziales Netzwerk. Mittlerweile habe ich nicht mehr so stark Heimweh wie zu Beginn.
Was wünschst du dir für die Zukunft?
Ich wünsche mir, dass ich weitermachen kann. Meine Eltern haben ihr Leben verschenkt. Deshalb möchte ich dafür etwas Besseres aufbauen und lebenslang weiter lernen. Eines Tages möchte ich meine eigene kleine Familie mit Kindern haben und ein gutes Vorbild für sie sein.
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