Künstliche Intelligenz ist weit mehr als ein kurzfristiger Hype, betont Dr. Annika von Mutius. Die Gründerin und KI-Pionierin erläutert im Gespräch, wie Technologie Branchen umkrempelt, welche Chancen sich daraus für den deutschen Mittelstand ergeben – und wie wichtig die Brücke zwischen Start-ups und etablierter Wirtschaft für den hiesigen KI-Standort ist.
Dr. Annika von Mutius, Sie haben einen vielfältigen Hintergrund – von einem Mathematikdoktorat über die Arbeit im Silicon Valley bis zur Gründung eines HR-Tech-Start-ups. Können Sie uns erzählen, wie diese Erfahrungen Ihre heutige Rolle bei Empion prägen?
Meine Erfahrungen prägen meine heutige Rolle als Gründerin auf ganz unterschiedliche, aber wertvolle Art und Weise. Die Promotion war beispielsweise eine Phase des Durchhaltevermögens. Diese Eigenschaft ist für mich auch als Unternehmerin äußerst nützlich, schließlich ist der Weg eines Start-ups selten linear – Rückschläge gehören dazu. Entscheidend ist, wie man mit ihnen umgeht.
In der Mathematik – insbesondere in der Spieltheorie – lernte ich, komplexe Interaktionen auf ein Minimum zu reduzieren und ein Optimum am Markt unter Annahme rationaler Akteure zu modellieren. Natürlich weiß ich: Menschen handeln selten vollständig rational. Und doch hilft mir genau diese strukturierte Denkweise noch immer in Entscheidungsprozessen – insbesondere, wenn es um strategische Zielkonflikte, Ressourcenallokation oder Marktpositionierung geht. Ich frage mich oft: Wenn ich diese Situation spieltheoretisch modellieren müsste, wie würde ich vorgehen?
Zugleich erlebte ich während meiner Zeit im Silicon Valley, wie hoch die Innovationsfreude und Bereitschaft sind, auch erhebliche finanzielle Mittel in hochriskante Projekte zu investieren – das empfand ich als sehr eindrücklich. Gleichzeitig nahm ich dort zum ersten Mal sehr direkt wahr, wie herausfordernd Rückschläge für Gründerinnen und Gründer tatsächlich sein können. Diese Erfahrung hilft mir enorm, und ich versuche bewusst, auch die negativen und kritischen Aspekte des Unternehmertums transparent zu teilen – natürlich in gesundem Maß.
Keine andere Technologie erfährt derzeit so viel Hype wie KI. Doch wie kann man Hype von echtem Potenzial unterscheiden, gerade aus unternehmerischer Sicht?
Ich sehe den aktuellen Hype um künstliche Intelligenz zwiegespalten. KI ist eigentlich keine neue Technologie – ihre Grundlagen reichen bis in die 1960er-Jahre zurück. Der derzeitige massive Hype konzentriert sich jedoch auf die vergangenen beiden Jahre. Einerseits finde ich das großartig, denn so werden die Menschen auf die Potenziale der Systeme aufmerksam. Gleichzeitig halte ich einen Großteil der aktuellen Euphorie für überzogen. Es ist ein bekanntes Phänomen, dass technologische Innovationen kurzfristig oftmals überschätzt und langfristig wiederum unterschätzt werden. Viele wünschen sich schnelle Disruption durch KI-Systeme – doch in der Realität sind technologische Entwicklungen oft langwierig. Die dafür notwendige Grundlagenarbeit – etwa die saubere Aufbereitung und Strukturierung von Daten – ist essenziell, aber eben nicht so »sexy«, wie man es erwarten würde.
Welche Branchen sind hinsichtlich der KI-Nutzung schon weit fortgeschritten?
Das Bild präsentiert sich sehr unterschiedlich. Die Fintech-Welt war beispielsweise enorm schnell; dort nutzen Schätzungen zufolge bereits rund 60 Prozent der Unternehmen KI in unterschiedlicher Form. Im Recruiting sind es hingegen erst etwa zehn Prozent. Es gibt also massive Unterschiede – aber nicht nur zwischen den Branchen, sondern auch zwischen einzelnen Unternehmen. Die Situation ist komplex. Fakt ist jedoch: Die erhoffe breite Produktivitätssteigerung durch KI-Systeme ist in vielen Bereichen noch nicht eingetreten. Gerade für den Mittelstand und die etablierte Wirtschaft eine große Chance. Denn KI-Systeme wirken weniger disruptiv als transformativ – sie verändert bestehende Prozesse grundlegend. Und der Moment, sich auf diese Transformation einzustellen und sie aktiv mitzugestalten, ist genau jetzt.
Gerade Deutschland hat einen starken Mittelstand mit hervorragenden Ingenieur:innen und einem enormen Schatz an Fachwissen. – Dr. Annika von Mutius
Sie haben erwähnt, dass im HR-Bereich die KI-Nutzung noch gering ausfällt. Ihr Unternehmen Empion setzt genau dort KI ein. Können Sie uns erläutern, wie Ihr »Smart Matching« funktioniert?
Im HR-Bereich arbeiten wir mit besonders sensiblen Daten. In diesem Feld sind nicht nur generative KI-Systeme – wie man sie etwa von ChatGPT kennt – spannend, sondern vielmehr die prädiktiven Systeme. Ziel ist es, Modelle zu entwickeln, die aus einem großen und komplexen Meer an Optionen genau jene herausfiltern, die im spezifischen Kontext einer Vakanz und eines suchenden Unternehmens tatsächlich relevant sind. Konkret bedeutet das: Aus einem Set potenzieller Talente sollen ausschließlich diejenigen identifiziert und an unsere Kunden weitergegeben werden, die mit hoher Wahrscheinlichkeit eine optimale Passung zur ausgeschriebenen Position aufweisen. Dazu setzen wir bei Empion auf ein hybrides KI-Ökosystem – bestehend aus generativen, kollektiven und vorausschauenden Modellen, die intelligent zusammenwirken. Zur praktischen Einordnung: Ein klassisches Headhunting-Interview kann theoretisch über 100 Millionen verschiedene Interaktionsmöglichkeiten umfassen. Mithilfe von KI lässt sich diese Komplexität auf ein Minimum reduzieren – und gleichzeitig können die Fragen stärker individualisiert werden. Dabei achten wir stets darauf, dass die relevanten Parameter gemessen werden und die Entscheidungsfindung fair sowie transparent und nachvollziehbar bleibt.
Seit 2024 sind Sie im Vorstand des KI-Bundesverbandes und setzen sich für einen besseren Austausch zwischen Mittelstand und Start-ups ein. Wo sehen Sie in diesem Kontext die größten Hürden und Chancen?
Die größte Chance für den deutschen und europäischen KI-Standort liegt aus meiner Sicht in der Spezialisierung. Im globalen Wettbewerb um die leistungsfähigsten Large Language Models (LLMs) dominieren derzeit US-amerikanische Unternehmen. Wir können mit diesen amerikanischen Unternehmen – die über immenses Kapital verfügen – kaum mithalten. Es gilt also nicht, diese zu imitieren, sondern strategisch zu ergänzen. Denn wir sehen, dass gerade in sehr spezifischen, nischenartigen Anwendungsfällen die großen, generischen Modelle an ihre Grenzen stoßen. Hier ergibt sich die europäische Chance: Wir können kleine, stark anwendungsbezogene »Small-Data-Models« entwickeln, die mit spezifischen, proprietären Daten trainiert werden und dadurch sehr leistungsstarke Ergebnisse in ihrer Nische erzielen. Dadurch entsteht eine reizvolle und gesunde Wettbewerbssituation zwischen unterschiedlichen Modellansätzen. Gerade Deutschland hat einen starken Mittelstand mit hervorragenden Ingenieur:innen und einem enormen Schatz an Fachwissen – dieses Wissen können und müssen wir nutzen. Gleichzeitig verfügen diese Firmen über wertvolle proprietäre Daten, die sich zum Trainieren spezialisierter KI-Systeme eignen. Für die Entwicklung und Skalierung solcher spezialisierten KI-Modelle braucht es jedoch enge Kooperationen zwischen der etablierten Wirtschaft und der agilen Innovationskraft von Start-ups. Genau diese Brücke müssen wir jetzt bauen. Zugleich gilt es, regulatorische Hürden wie etwa durch den »AI Act« zu adressieren – hier können und müssen wir als KI-Bundesverband ansetzen und unterstützen.
Die Aufnahme in die Forbes »30 Under 30 Europe«-Liste, die Nennung unter den Top 40 Unter 40 des Capital Magazins und die Auszeichnung als eine der wichtigsten KI-Pionierinnen Deutschlands durch das Manager Magazin sind beeindruckende Anerkennungen. Was bedeuten Ihnen diese Auszeichnungen persönlich?
Natürlich fühle ich mich durch solche Auszeichnungen sehr geschmeichelt. Es ist ein schöner Leistungsausweis und eine Form der Anerkennung, über die ich mich sehr freue. Gleichzeitig hat das Ganze auch eine gewisse Ironie, denn die interne Perspektive sieht oft ganz anders aus: Nicht selten sitzt man im Büro und hat das Gefühl, die ganze Welt bricht gerade zusammen (lacht).
Schreibe einen Kommentar