Interview von SMA

Maria Girone: «Wir brauchen nicht nur leistungsfähigere Maschinen, sondern auch inklusivere Ökosysteme»

Die Leiterin des Cern openlab über die Zukunft der Forschung und der KI-Technologie.

Am Forschungszentrum Cern werden Milliarden von Teilchenkollisionen analysiert, um die Geheimnisse des Universums zu entschlüsseln. Dafür ist eine enorme technische Infrastruktur notwendig. An diesem System war Maria Girone, Leiterin des Cern openlab, federführend. Für «Fokus» gibt sie Einblicke in ihre Arbeit und erklärt, warum die Zukunft der Forschung nicht allein in der Technologie liegt.

Frau Maria Girone, das Cern ist weltberühmt für seine Beiträge zur Teilchenphysik. Können Sie erklären, was Cern openlab ist?

Im Grunde handelt es sich dabei um eine öffentlich-private Partnerschaft, welche die Zusammenarbeit zwischen dem Cern sowie mehreren führenden Technologieunternehmen und Forschungsinstituten fördert. Unser Ziel lautet, gemeinsam innovative ICT-Lösungen zu entwickeln und zu testen. Die Mission ist simpel, aber ehrgeizig: Wir treiben Innovationen in den Bereichen Computer- und Datentechnologien voran, die es dem Cern ermöglichen, bahnbrechende wissenschaftliche Erkenntnisse zu erzielen – und unterstützen auf diese Weise die gesamte Hochenergiephysik-Gemeinschaft.

Und was sind Ihre konkreten Aufgaben als Leiterin von openlab?

Meine Hauptaufgabe besteht darin, kritische ICT-Herausforderungen zu erkennen, die sich am Horizont abzeichnen. Zudem fördere ich die Zusammenarbeit zwischen der Industrie und der Wissenschaft, damit wir nicht nur potenzielle Probleme gemeinsam angehen, sondern zusammen auch echten Mehrwert schaffen können. Zu den aktuellen Projekten, die Cern openlab derzeit unterstützt, gehört unter anderem die Erforschung des Potenzials verschiedener Spitzentechnologien.

Von welchen Spitzentechnologien sprechen wir da?

Derzeit interessieren uns etwa der Einsatz von digitalen Zwillingen, die Verwendung neuer Materialien für die langfristige Datenspeicherung sowie heterogene Computing- und HPC-Systeme (High-Performance-Computing). Ich koordiniere auch die Umsetzung unserer Strategie für die HPC-Integration am Cern – ein Thema, das eng mit der Industrie verbunden ist. In meiner Funktion bin ich zudem für die Vernetzung mit verschiedenen HPC-Zentren zuständig. Damit wir uns in all diesen Bereichen einbringen können, arbeiten wir von Cern openlab mit diversen Partnerorganisationen zusammen – darunter Oracle, Micron, Pure Storage, Siemens, Nvidia, Intel und der Simons Foundation. Weitere Partnerschaften mit anderen Unternehmen und Forschungseinrichtungen sind in Vorbereitung.

Sie spielten eine Schlüsselrolle beim «Worldwide LHC Computing Grid» (WLCG). Wie genau funktioniert dieses Grid – und welche Rolle spielt es im Kontext der Cern-Mission?

Die Aufgabe des WLCG ist es, die weltweiten Rechenressourcen für die Speicherung, Verteilung und Analyse der Daten bereitzustellen, die von unserem Teilchenbeschleuniger (dem «Large Hadron Collider», kurz «LHC»), erzeugt werden. Und das sind wirklich enorme Datenmengen! Am Ende des «Long Shutdown 2» des LHC überstiegen die globalen Transferraten 260 Gigabyte pro Sekunde. Das Computing Grid vereint daher etwa 1,4 Millionen Rechenkerne und 1,5 Exabytes an Speicherplatz aus über 160 Standorten in mehr als 40 Ländern. Diese massive Recheninfrastruktur ermöglicht es mehr als 12 000 Physikerinnen und Physikern weltweit, nahezu in Echtzeit auf die LHC-Daten zuzugreifen und diese zu verarbeiten. Meine Aufgabe im Rahmen des WLCG war es, das heutige Betriebsmodell zu entwickeln. Von 2010 bis 2014 war ich auch die Teamleiterin, die für den Betrieb und die Umsetzung dieses Modells verantwortlich war. Nach über 15 Jahren Betrieb vergisst man leicht, dass diese Form des «verteilten Rechnens» damals eine wirklich revolutionäre Idee darstellte und enorme Investitionen für die Inbetriebnahme und Umsetzung erforderte. Ich bin daher stolz auf die Rolle, die ich dabei gespielt habe. Ohne das WLCG wäre es einfach nicht möglich gewesen, die Grösse und Komplexität der Daten, die wir am Cern erzeugen, zu bewältigen.

Besonders wichtig ist, dass der Fokus nicht nur auf der Entwicklung von Werkzeugen liegt, sondern auch auf deren Anwendung. – Maria Girone

Wie sieht Ihr beruflicher Werdegang aus, der Sie bis zu dieser Position geführt hat?

Ich bin «von Haus aus» Physikerin. Meine Leidenschaft für dieses Fach wurde in der Schulzeit richtig entfacht, doch ich war schon immer fasziniert von Mathematik und Physik. Die Hochenergiephysik hat mich besonders begeistert, weil man dabei die Grundlagen der Materie erforschen und somit Einblicke in die Naturgesetze gewinnen kann. Mein Vater war Jurist und wir haben immer gescherzt, dass wir uns beide auf unsere Art mit Gesetzen beschäftigten (lacht).

KI ist das Hype-Thema Nummer eins der letzten zwei Jahre. Wie beurteilen Sie diese Technologie?

Künstliche Intelligenz ist definitiv spannend – vor allem, weil sie die Art und Weise verändert, wie wir an wissenschaftliche Forschung herangehen. Am Cern wird KI für alle Schritte der Datenverarbeitung erforscht, von der Datenerfassung bis zur Datenanalyse. Dazu gehört auch das Nutzen von Testumgebungen für die kollaborative Entwicklung neuer KI-Modelle und Optimierungs-Workflows. Im Cern openlab tragen wir auf unterschiedliche Weise zur Weiterentwicklung der KI-Forschung bei, unter anderem in Bereichen wie generativer KI, verteilter KI-Optimierung sowie Grundlagenmodellen für die Physik. Wir befassen uns auch mit der optimalen Implementierung von KI-basierten Algorithmen in modernen Rechnerarchitekturen und erforschen, wie diese Architekturen für KI-Workloads optimiert werden können. Ich bin auch daran interessiert zu eruieren, wie sich High-Performance-Computing (HPC), heterogene Architekturen und datenzentrierte KI einander annähern. Denn diese Entwicklungen prägen nicht nur die Grundlagenforschung, sondern auch die Industrie sowie die Gesellschaft als Ganzes.

Quantencomputing ist ein weiteres Thema, das in den Medien kursiert. Wie interessant ist das für Sie und Ihre Arbeit am Cern?

Das Quantencomputing stellt ebenfalls ein aufstrebendes Gebiet dar. Und obwohl wir in unseren derzeitigen Arbeitsabläufen keine Quantentechnologien direkt anwenden, treiben wir die Diskussionen, die Forschung und die Entwicklung in diesem Bereich durch die «Quantum Technology Initiative» (QTI) aktiv voran. Seit 2024 wird die QTI durch das «Open Quantum Institute» ergänzt, das die Anwendung von Quantentechnologien für die Gesellschaft erforscht. Wir beobachten die Entwicklungen sehr genau, um zu sehen, wie sie zur Lösung unserer zukünftigen technologischen Herausforderungen beitragen könnten.

2022 erhielten Sie eine Goldmedaille der Vereinigung «Brutium». Wofür gab es die Auszeichnung und was bedeutet sie Ihnen?

Die Verleihung der Brutium-Goldmedaille war eine zutiefst bewegende Erfahrung, die mich sehr geehrt hat. Die Auszeichnung würdigte meine Beiträge zu Wissenschaft und Innovation sowie meine Rolle als Bindeglied zwischen Forschung und Industrie. Sie hat mich aber auch dazu gebracht, innezuhalten und die Teams, Kooperationen und Mentoren zu würdigen, die mich auf meinem Weg unterstützt haben. Die Auszeichnung hat zudem mein Engagement gestärkt, Vielfalt und Bildung in den naturwissenschaftlichen und technologischen Bereichen zu fördern.

«Förderung» ist das perfekte Stichwort, denn Sie haben die Organisation «ideas4hpc» mitbegründet. Bitte erzählen Sie uns mehr über deren Mission und Ziele.

ideas4HPC ist ein gemeinnütziger Verein, den ich zusammen mit Florian Ciorba (Universität Basel), Marie-Christine Sawley (ICES Foundation Geneva), Sadaf Alam (Universität Bristol) sowie Cerlane Leong und Maria Grazia Giuffreda (ETHZ-CSCS) gegründet habe. Sein Ziel besteht darin, Vielfalt zu fördern und die Inklusion von Frauen und anderen unterrepräsentierten Gruppen in den Bereichen High-Performance-Computing (HPC) und Large-Scale-Computing zu verbessern. Die Grundidee lautete, einen gemeinsamen Raum zu schaffen, in dem Forscher, Entwickler und Branchenführer neue Ideen und Initiativen austauschen können, um eine vielfältigere Belegschaft zu fördern. Das ist deshalb so wichtig, weil wir der Überzeugung sind, dass für die Lösung der heutigen wissenschaftlichen Herausforderungen nicht nur leistungsfähigere Maschinen benötigt werden, sondern auch offenere, kreativere und inklusivere Ökosysteme. Durch eine Partnerschaft zwischen Cern openlab und ideas4HPC unterstützen wir seit 2024 eine Studentin im Rahmen des «Cern openlab-Sommerstudentenprogramms». Zu unserem Programm gehören auch Aktivitäten wie Schulungsveranstaltungen, Vernetzungskonferenzen sowie die Förderung der beruflichen Entwicklung von Frauen in MINT-Fächern. All dies wird in enger Zusammenarbeit mit der internationalen Organisation «Women in HPC» vorangetrieben.

Abschliessend bitten wir Sie um einen Blick in die Glaskugel: Welche Technologien, Trends oder Entwicklungen werden in den kommenden Jahren bedeutend sein?

Ich denke, dass KI-integriertes HPC, energieeffiziente Architekturen und Hochleistungsnetzwerke von grundlegender Bedeutung sein werden. Da die nächste Generation wissenschaftlicher Projekte Jahr für Jahr Exabytes an Daten produzieren wird, werden Technologien wie Edge-Computing und Echtzeitanalyse entscheidend sein – insbesondere der Einsatz von zunehmend autonomen Systemen wird an Bedeutung gewinnen. Ferner ist es essenziell, das wissenschaftliche und gesellschaftliche Potenzial der riesigen Datenmengen zu erkennen und zu nutzen, das aus wissenschaftlichen Projekten und Kooperationen entsteht. Dies erfordert sowohl technische Innovation als auch ein starkes Engagement für ökologische Nachhaltigkeit. Besonders wichtig ist dabei, dass der Fokus nicht nur auf der Entwicklung von Werkzeugen liegt, sondern auch auf deren Anwendung – sowohl zur Förderung der Hochenergiephysik als auch zur Schaffung breiterer gesellschaftlicher Vorteile.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

04.10.2025
von SMA
Vorheriger Artikel Digitale Souveränität: Wie die Schweiz ihre Cloud-Zukunft gestaltet
Nächster Artikel Catrin Hinkel: «KI, mit Verantwortung entwickelt, kann Leben verbessern»