
Eveline Rüegg
Diplomierte Sterbe- und Trauerbegleiterin
Der Verlust eines Kindes ist eine Erfahrung, die viele betrifft, über die aber kaum gesprochen wird. Die Gesellschaft tut sich schwer, diesen Schmerz zu benennen – und genau das macht es für die Betroffenen umso schwerer. In einem persönlichen Interview erzählt Eveline Rüegg von ihrem Weg durch die Trauer, ihren Herausforderungen und dem, was ihr geholfen hat.
Ein Trauerprozess, der kaum sein durfte
Von aussen scheint sich das Leben nicht wirklich verändert zu haben, doch innerlich ist alles anders. Die Freude auf das Kind schlägt plötzlich um in einen tiefen Fall, der das eigene Weltbild erschüttert. «Der Blick auf das Leben verändert sich», erzählt sie.
Rückblickend ist nicht einmal klar, ob es einen richtigen Trauerprozess gab. Zu oft wurden die Gefühle erstickt durch Sätze wie: «Du bist ja noch jung» oder «Es war ja noch so früh». Aussagen, die trösten sollen, bewirken oft das Gegenteil. «Fünf Monate Schwangerschaft sind für mich nicht früh», betont sie. Ihr Umfeld schwieg oder versuchte, das Geschehene kleinzureden. Vor zwanzig Jahren wurde das Thema noch weniger offen behandelt als heute.
Der Weg zur Akzeptanz
Was wirklich hilft? «Darüber zu reden», sagt sie. Der Austausch mit anderen, die Ähnliches erlebt haben, gibt Halt. Die Akzeptanz der eigenen Trauer, ohne gegen sie anzukämpfen, ist essenziell. Denn es gibt keinen festen Weg für den Umgang mit Verlust – nur den eigenen.
Heute sind die schweren Tage seltener geworden. Doch es gibt Momente, die noch immer schmerzen: Geburtstage, der erste Schultag – Meilensteine, die es nie gab. «Man fragt sich manchmal, wie sein Leben jetzt aussehen würde. Doch die Akzeptanz hilft. Mein Kind gehört zu meiner Geschichte, egal ob es lebt oder nicht.»
Die ersten Wochen: Ein Fiebertraum aus Schmerz und Schuld
Nach dem Verlust fühlte sich alles surreal an. «Man funktioniert einfach, weil das Leben weitergeht, obwohl in mir alles stehen geblieben ist.» Hinzu kamen Schuldgefühle: Hatte der eigene Körper versagt? War etwas falsch gelaufen? «Es war ein Vertrauensverlust in meinem Körper und in das, was es bedeutet, eine Frau zu sein.» Der Verlust machte schmerzlich bewusst, wie fragil das Leben ist.
Das gesellschaftliche Schweigen
In der Gesellschaft wird über Themen wie Verlust und Tod kaum gesprochen. Wer offen sagt, dass es ihm schlecht geht, weil er sein Kind verloren hat, erhält oft keine richtige Antwort. «Es war, als hätte ich etwas gesagt, was nicht gesagt werden darf.» Die Trauer blieb oft ungesehen, nicht ernst genommen. «Es sind unsere Kinder. Punkt.» Diese Anerkennung hätte sich Eveline Rüegg damals gewünscht.
Heilung in kleinen Schritten
Ein Satz, der Frau Rüegg besonders berührte, kam etwa ein Jahr nach dem Verlust: «Manche Seelen kommen nur kurz auf die Welt, weil sie nur unsere Tränen brauchen, um Frieden zu finden.» Ein Gedanke, der sie noch heute auf ihrem Weg begleitet. Und dann kam auch ein weiteres Kind – ein neuer Lebensabschnitt, der ohne den Verlust nicht möglich gewesen wäre.
Manche Seelen kommen nur kurz auf die Welt, weil sie nur unsere Tränen brauchen, um Frieden zu finden.
Die Veränderung der Trauer
Die Trauer bleibt, aber sie wandelt sich. Sie wird ein Teil des Lebens, ohne alles zu bestimmen. Ihre Kinder bringen Leben ins Haus und mit diesem Leben wird der dunkle Raum doch noch ein bisschen heller. Doch es bleibt ein Platz für das Kind, das nicht da ist. «Es ist nicht schön, dass er so früh gehen musste. Aber daraus sind auch schöne Dinge entstanden, die heute anderen helfen können.»
Erinnerung und Rituale
Der Todestag ist ein stiller Moment des Gedenkens. Eine Kerze brennt, manchmal wird die Erinnerung geteilt – nicht um Mitleid zu bekommen, sondern um zu zeigen, dass dieser Verlust zum Leben gehört. Keine grossen Rituale, sondern besondere Momente der inneren Verbindung.
Fehlende Unterstützung
Damals war die Unterstützung selten. «Ich habe mich isoliert», sagt sie rückblickend. Doch die Kinder malten immer wieder Bilder, in denen das verstorbene Geschwisterchen einen Platz hatte. Eine stille, aber bedeutsame Form der Anerkennung.
Das Verhalten der Gesellschaft
Der Umgang mit trauernden Eltern ist für viele eine Herausforderung, denn oft fehlt das Wissen, wie man sich richtig verhält. Doch es sind nicht die perfekten Worte, die helfen – sondern das ehrliche Dasein. Viele Eltern berichten, dass ihr Verlust im Umfeld kleingeredet wurde. Sätze wie «Ihr könnt es ja noch mal versuchen» nehmen der Trauer ihren Raum und lassen Betroffene allein zurück.
Stattdessen hilft es, den Schmerz anzuerkennen. Zuhören, nachfragen und einfach signalisieren: «Ich sehe dich, ich höre dich.» Ein Kind bleibt immer ein Kind – egal, wie lange es gelebt hat. Deshalb bedeutet es trauernden Eltern viel, wenn das verlorene Kind nicht vergessen wird.
Wichtig ist auch, Unsicherheiten offen zu benennen. Ein «Ich weiss nicht, was ich sagen soll, aber ich bin da» kann mehr bedeuten als gut gemeinte, aber verletzende Floskeln. Wer helfen will, kann auch auf Trauergruppen hinweisen oder einfach anbieten, gemeinsam etwas zu unternehmen – ohne Druck, aber mit Verständnis.
Der Wunsch einer besseren Gesellschaft
Heute arbeitet Eveline Rüegg zusammen mit Trauernden. Der Verlust hat sie auf diesen Weg gebracht. «Wir leben nie so intensiv, wie wenn wir uns mit dem Sterben auseinandersetzen.» Ihre Botschaft an andere: «Trauer hört nicht auf, aber sie verändert sich. Sie wird irgendwann auch eine schöne Erinnerung. Man muss die Trauer umarmen, um Frieden zu finden.»
Was kann die Gesellschaft tun? «Aufhören zu schweigen.» Das grösste Geschenk an trauernde Eltern ist nicht immer ein perfektes Wort, sondern einfach da zu sein. «Der Trauer Raum geben» – das ist es, was fehlt. Ein Raum für das, was nicht gesagt wird, aber so dringend gehört werden muss.
Über Eveline Rüegg
Eveline Rüegg ist diplomierte Sterbe- und Trauerbegleiterin und auch für den Telefondienst des Vereins Regenbogen verantwortlich. Sie unterstützt und begleitet trauernde Eltern, bietet Kiefertherapie, verschiedene Entspannungs- und Trauerkurse sowie Meditationen an.
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