Keiner zu klein Kulturfreund zu sein
Ob ein Kind ein Theaterstück besucht, im Kindergarten ein Lied einstudiert oder mit der Schulklasse ein Museum erkundet – kulturelle Bildung findet an vielen Orten statt. Doch oft wird unterschätzt, wie essenziell diese Erlebnisse für die kindliche Entwicklung sind. Dabei ist klar: Kultur ist weit mehr als Freizeitbeschäftigung. Sie ist ein zentrales Element der Bildung – und eine Brücke zu einem tieferen Verständnis der Welt und deren Geschichte.
«Wow! Mami, schau mal. So sah eine Küche früher aus!», ruft Sophie durch den Raum. Die Sechsjährige ist mit ihrer Familie im Schaudepot St. Katharinental unterwegs. Die vielen Originalobjekte aus dem 19. Jahrhundert faszinieren die Erstklässlerin. Vor allem, weil ihr Vater ihr erzählt, dass seine Grossmutter all diese Dinge nicht im Museum bestaunte, sondern im Alltag nutzte.
Ein Besuch im Museum ist nichts für Kinder – denken viele Eltern. «Ganz im Gegenteil!», betont Noemi Bearth. Sie ist Museumsdirektorin des Historischen Museums Thurgau und erlebt täglich, wie Kinder mit Neugier und Begeisterung durch die Ausstellungen an den beiden Museumsstandorten Schloss Frauenfeld oder im Schaudepot St. Katharinental gehen. «Sie entdecken die Welt mit allen Sinnen, ob im Rahmen eines Schulangebots oder mit der Familie», sagt sie. Und genau darum ist Kultur – von Musik, Literatur, Kunst, Theater bis eben zum Museumsbesuch – so bedeutsam. Sie bietet Raum für Kreativität und Wissensvermittlung, Ausdruck und emotionale Erfahrungen. «Kulturelle Bildung ist oft der erste und prägendste Zugang eines Kindes zur Welt», bekräftigt Bearth. Man denke nur ans Lieblingsbuch oder das Einschlaflied: Durch Geschichten, Bilder, Klänge und Bewegung begreifen Kinder nicht nur ihre Umwelt – sondern auch sich selbst.
Schon im frühen Alter zeigen sich positive Effekte. Studien belegen: Kinder, die regelmässig mit Musik, Kunst oder Theater in Berührung kommen, verfügen über ein ausgeprägteres Sprachvermögen, bessere soziale Kompetenzen und ein höheres Selbstbewusstsein. Die Unesco bezeichnet kulturelle Bildung sogar als eine der wichtigsten Grundlagen für nachhaltige Entwicklung und gesellschaftliche Teilhabe.
Raum für Fantasie und Empathie
Ein Theaterstück, in dem Gut und Böse aufeinandertreffen, ein Bilderbuch, das eine andere Kultur zeigt, ein gemeinsames Lied, das Emotionen weckt oder eben Museumsobjekte, die Geschichte lebendig machen – all das regt die kindliche Fantasie an. Diese Fähigkeit zur Vorstellung ist weit mehr als Spielerei. Sie ist der Nährboden für Empathie, für das Verstehen von Perspektiven und Zusammenhängen, für Kreativität im Denken und Handeln. «Kulturelle Angebote schaffen Erfahrungsräume und Kinder lernen ihre eigene Geschichte zu verstehen», sagt Bearth und ergänzt: «Gerade in einer so schnelllebigen Welt, die zunehmend von Leistungsdruck geprägt ist, bietet Kultur eine selten gewordene Möglichkeit: eine Auszeit und unmittelbares Erleben.»
Kulturelle Formate ermöglichen es Kindern zudem, mit gesellschaftlich relevanten Themen in Berührung zu kommen – sei es Diversität, Umwelt oder Zusammenleben. Kultur vermittelt Werte – und stellt diese zugleich infrage. Diese Auseinandersetzung fördert ein kritisches Denken, das in keiner klassischen Schulstunde so lebensnah vermittelt werden kann.
Teilhabe ermöglichen – Gerechtigkeit schaffen
Doch nicht alle Kinder profitieren gleichermassen von kultureller Bildung. Der Zugang hängt oft auch vom sozialen Status der Familie ab. Kinder aus bildungsnahen Haushalten besuchen häufiger Museen, Theater oder Konzerte. Für andere bleibt Kultur ein abstrakter Begriff – und damit auch eine verpasste Chance.
Umso wichtiger ist dann eben trotzdem die Rolle der Schule. Der Kanton Zürich etwa sieht in ihr den zentralen Ort kultureller Teilhabe. Mit der Fachstelle Schule+Kultur wurde ein Angebot geschaffen, das Lehrpersonen aller Stufen bei der Kulturvermittlung unterstützt. Auch Programme wie MUSE-E, das künstlerische Aktivität mit Bildung kombiniert, oder die KulturLegi, die Kindern aus armutsbetroffenen Familien vergünstigten Zugang zu Kulturangeboten bietet, setzen hier an.
Es gibt Ansätze, diese Hürden zu verringern und niederschwelligen Zugang zu Kultur zu ermöglichen. So bieten manche Gemeinden Kulturangebote direkt in Quartierzentren oder Bibliotheken an – leicht erreichbar und ohne Eintritt. Auch mobile Projekte, wie zum Beispiel Theater auf Spielplätzen, bringen Kultur näher an den Alltag der Kinder. Solche Initiativen zeigen: Wenn strukturelle Barrieren abgebaut werden, steigt auch die Beteiligung. Wichtig scheint dabei vor allem, dass Kinder Kultur nicht nur konsumieren, sondern aktiv mitgestalten und sich als Teil des Geschehens erleben können. Das Schulangebot des Historischen Museums Thurgau beispielsweise zielt genau darauf ab.
Museen als Erlebnisräume
Kultur findet aber nicht nur im Klassenzimmer oder auf der Bühne statt – auch Museen sind lebendige Orte des Lernens. Richtig aufbereitet, werden sie zu faszinierenden Erlebnisräumen. Interaktive Stationen, spielerische Führungen und kindgerechte Ausstellungen lassen Geschichte, Natur oder Kunst greifbar werden. Viele Museen bieten inzwischen spezielle Programme für junge Besucher:innen an, die zum Mitmachen, Fragenstellen und Staunen einladen. Mit Museum für Kinder bieten die Museen Thurgau deshalb im Verbund ein vielseitiges Mitmach-Angebot, um die Museumwelt spielerisch zu erkunden.
Dabei geht es nicht nur um Wissensvermittlung, sondern ums tatsächliche Erleben: Wie fühlt sich ein mittelalterlicher Schuh an? Wie roch es früher in einer Apotheke? Was entdecke ich in einem Gemälde, wenn ich ganz genau hinschaue? Solche Momente fördern die Beobachtungsgabe, wecken Neugier und stärken das Selbstvertrauen – weil Kinder merken: Meine Sichtweise zählt.
«Museen sind längst nicht mehr stille Tempel des Wissens. Sie sind Lernorte und Geschichte ein Erlebnis», so Noemi Bearth vom Historischen Museum Thurgau. «Sie sind auch Werkstatt, Bühne, Spielplatz und Dialograum. Wenn sie sich auf kindliche Bedürfnisse und Neugier einlassen, entstehen echte Aha-Momente, die oft weit über den Besuch hinaus nachwirken.» Und sie zeigen: Kultur ist kein trockener, elitärer Stoff für Erwachsene. Sie ist ein Abenteuer für Herz und Verstand – auch und gerade für die Kleinsten unter uns.
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