Interview von SMA

Marcel Hug, die «Swiss Silver Bullet»

Der Profisportler spricht im Interview über die persönliche Bedeutung von Sport und wie er mit Grenzen umgeht.

Marcel Hug wurde 1986 mit Spina bifida geboren. Er ist seit 2010 Profisportler im Schweizer Nationalkader und gilt als erfolgreichster Schweizer Rollstuhlsportler. Unter anderem hält er sechs Weltrekorde, gewann den Gesamtsieg der World Marathon Majors Series, mehrere paralympische Goldmedaillen und erhielt Auszeichnungen wie etwa zweimal den Laureus World Sports Award.

Marcel Hug

© Swiss Paralympic/Gabriel Monnet

Marcel Hug, wie ist Ihr Spitzname «Swiss Silver Bullet» entstanden?

Mein Trainer schenkte mir als Junior zu Weihnachten einen silberfarbenen Skaterhelm. Der Spitzname tauchte das erste Mal während der Weltmeisterschaften 2011 in Neuseeland in einem Promotionsvideo auf. Mein silberner Helm ist zu meinem Markenzeichen geworden. Dank ihm kann ich im Feld gut von der Konkurrenz unterschieden werden.

Was gefällt Ihnen an der Rennrollstuhl-Leichtathletik?

Vieles. Diese Sportart ist sehr dynamisch. Sie beinhaltet Elemente von Kraft, Schnelligkeit, Ausdauer und Taktik. Das finde ich spannend. Das Fahren fühlt sich wie Fliegen an. Ich komme dabei in einen Flow. Die Technik fasziniert mich zudem. Ich habe Ideen, wie der Rennrollstuhl oder die Handschuhe weiterentwickelt und verbessert werden können. Diese setze ich zusammen mit dem Trainer und den Technikern des Orthotec-Teams in Nottwil oder Sauber in Hinwil um.

Welche Rennen fahren Sie lieber, die auf der Bahn oder auf der Strasse?

Ich fahre beides gern. Auf der Bahn absolviere ich die 800 Meter, 1500 m und 5000 m. Auf der Strasse nehme ich an Halbmarathons und Marathons teil. Hier ist die Distanz länger. Die Bereifung des Rennrollstuhls ist anders. Die Topografie unterscheidet sich. Es geht rauf und runter. Die Strasse ist technisch herausfordernder. Die Bahn ist flach und oval. Bei den Bahnwettkämpfen fahre ich mehrmals an den Zuschauern vorbei und werde angefeuert. Hier mag ich vor allem die Rennen über 1500 m und 5000 m.

Wie und wann begann Ihre Sportkarriere?

Mit acht Jahren erhielt ich den ersten Rollstuhl für den Alltag. Ich ging fürs Erlernen des Handlings in ein Lager. Dort lernte ich den Umgang mit dem Rollstuhl – etwa wie ich Stufen überwinden konnte. Sport war ebenso ein Thema. Ich merkte, dass mir Sporttreiben Freude macht, und fand heraus, dass ich talentiert bin. Das motivierte mich sehr. Ich bin deshalb in einen Rollstuhl-Klub gegangen. Die Sportleiterin brachte 1996 einen alten Rennrollstuhl mit zum Ausprobieren. Mir gefiel das auf Anhieb. Im gleichen Jahr bestritt ich ein Juniorenrennen über eine Distanz von drei bis vier Kilometern im Rahmen eines Marathons rund um den Sempachersee. Das war der Startschuss meiner Karriere. Ich lernte damals Paul Odermatt kennen. Kurz darauf wurde er mein Trainer. Wir arbeiten auch heute noch gerne zusammen.

Weshalb besuchten Sie die Nationale Elitesportschule Thurgau? Liebäugelten Sie bereits damals mit einer Profikarriere?

Nein. Das war ein schleichender Prozess. Diese Schule ging damals neu auf. An einem Ort konnte ich Schule und Sport verbinden. Und ich hatte mehr Möglichkeiten zum Trainieren. Im Unterricht wurden zudem sportspezifische Themen wie etwa Ernährung oder die mentalen Aspekte behandelt. Mich sprach diese Kombination an.

Werden Sie als Teammitglied des Schweizer Nationalkaders auch an den Paralympischen Spielen 2028 in Los Angeles teilnehmen?

Heute kann ich dazu noch nichts sagen. Meine Sportkarriere dauert nun schon weit über 20 Jahre. Ich habe ausserdem bereits an sechs Paralympischen Spielen teilgenommen. Zurzeit denke ich eher nicht, aber es kann sich noch einiges ändern.

Bleibt Ihnen neben dem Sport noch Zeit für etwas anderes?

Regeneration und Erholung sind im Profisport essenzielle Faktoren. Freunde zu treffen, in der Natur Zeit zu verbringen, zu campen oder zu Hause zu sein und nichts zu tun, ist für mich sehr wichtig. Mir bleibt für Hobbys wenig Zeit.

Was motiviert Sie zu Ihren unzähligen Höchstleistungen?

Die Freude am Sport ist gross. Die Bewegung draussen gefällt mir sehr. Ich fordere mich gerne beim Training. Ich will vorwärtskommen und mich verbessern. Beides sind wichtige Antriebsfaktoren. Sporttreiben auf diesem Niveau ist ein Privileg. Ich erreiche Ziele, gewinne Titel und Medaillen und breche Rekorde. Dafür nehme ich an tollen Events teil, bereise Länder und lerne Leute kennen. All dies motiviert mich sehr.

Gibt Ihnen der Sport etwas zurück?

Ja, auf jeden Fall. Sehr viel sogar, sowohl auf der physischen als auch mentalen Ebene. Zusammen mit anderen Menschen in Gruppen trainieren, soziale Kontakte knüpfen und pflegen: Dieser soziale Austausch gibt mir viel zurück. Die Zusammenarbeit mit dem Trainer und den Technikern finde ich bereichernd. Ich sammle Erfahrungen etwa beim Meistern von Herausforderungen oder dem Umgang mit Niederlagen. Durch den Sport erlebe ich positive Emotionen. Ich erhalte auch reichlich Anerkennung. Mit dem Sport verdiene ich zudem meinen Lebensunterhalt.

Mein Eindruck ist, dass Fortschritte gemacht wurden in der Inklusion – besonders bei der Integration von Para-Sportarten bei grossen Events.

Wie gehen Sie mit schwierigen Situationen um?

Mir helfen im Umgang mit ihnen meine gesammelten Erfahrungen. Ich habe eine gewisse Gelassenheit entwickelt. Der Austausch mit dem Trainer und der Sportpsychologin unterstützen mich. Ich überlege mir, welchen Einfluss ich auf etwas Schwieriges habe und was ich daran ändern kann. Zu einer Situation Abstand zu gewinnen und diese dann neu zu bewerten, finde ich ausserdem hilfreich. Kürzlich habe ich gelesen, dass eine Emotion 90 Sekunden dauert. Wenn sie länger andauert, dann ist das unser Werk. Jeder kann selbst entscheiden, wie viel Raum diese Emotion bekommt. Das ist ein interessanter Aspekt. Mir nützen Meditation, Selbsthypnose und Atemübungen.

Wie gehen Sie mit Grenzen um?

Ich ordne die Grenze ein. Gewisse kann man verschieben, andere nicht. Diese akzeptiere ich. Das ist wichtig. Tue ich das nicht, überfordere ich mich. Das Verschieben von Grenzen ist im Spitzensport tägliches Brot. Ich bin froh, dass ich diese immer wieder überwinden kann. Die körperliche Beeinträchtigung weist mich in die Schranken. Diese muss ich annehmen. Die eigene Persönlichkeit begrenzt einen ebenfalls. Höher, schneller, weiter: Als Sportler ist man davon getrieben. Damit umzugehen und die Balance zu finden, ist manchmal eine Herausforderung. Die Selbstoptimierung hat irgendwann ein Ende. Ich versuche zufrieden zu sein mit dem, was ich erreicht habe.

Hat der Sport Sie gestärkt und Ihnen zu mehr Empowerment verholfen?

Sport hat mich sehr gestärkt und ist gut für mein Wohlbefinden. Sport prägte die Persönlichkeitsentwicklung. Das Selbstbewusstsein wurde vergrössert und das Selbstvertrauen gefördert. Und ich wurde meiner Selbstwirksamkeit bewusster. Mein Durchsetzungsvermögen und meine Autonomie nahmen zu. Und ich kann besser für mich einstehen. Sport ist eine Lebensschule. Ich muss mir zum Beispiel überlegen, ob das angestrebte Ziel realistisch ist. Und wenn ja, wie ich es erreiche. Ich bin Botschafter von Laureus und anderen gemeinnützigen Organisationen. Durch soziale Sportprogramme fördern diese die Bewegung und die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen. Sport bringt ihnen etwas, bringt sie weiter. Das Sporttreiben bietet generell grosse Vorteile.

Riefen Sie deshalb das «Swiss Silver Bullet»-Trainingslager ins Leben?

Sicher auch. Ich möchte etwas zurückgeben. Denn ich durfte stark vom Sport profitieren. Ich erlebte bereits als Junior viel Schönes im Trainingslager. Ich möchte die positiven Aspekte, die der Sport mit sich bringt, an Kinder und Jugendliche vermitteln. Das Ziel ist die Förderung und die Weiterentwicklung von Nachwuchstalenten. Dafür bietet Nottwil ein hervorragendes Umfeld. Das Trainingslager eignet sich für junge Athletinnen und Athleten, die einen Rennrollstuhl besitzen und bereits Erfahrungen in der Rennrollstuhl-Leichtathletik mitbringen.

Sehen Sie sich selbst als Botschafter von Menschen mit Beeinträchtigung?

Ich sehe mich grundsätzlich als Mensch und Parasportler. Als Profisportler stehe ich in der Öffentlichkeit und nehme eine Vorbildfunktion wahr. Politisch aktive und engagierte Menschen setzen sich vertieft mit diesen Themen auseinander und sind deshalb besser als Botschafter geeignet. Meiner Meinung nach sollte Inklusion vor allem gelebt werden. Inklusion und Teilhabe sollten normal sein, sodass nicht mehr darüber geredet werden muss.

Sind in den letzten paar Jahren Fortschritte in der Inklusion und der Barrierefreiheit im Sport gemacht worden?

Mein Eindruck ist, dass Fortschritte gemacht wurden in der Inklusion – besonders bei der Integration von Para-Sportarten bei grossen Events. Die World Marathon Majors sind ein ausgezeichnetes Beispiel dafür. Die Teilnahme dort ist für uns Rollstuhl-Leichtathleten ein Privileg. Bei der letztjährigen Rad- und Para-Cycling-WM in Zürich funktionierte die Integration hervorragend. Der Para-Skisport führt ausserdem jedes Jahr den FIS Para Alpine Ski World Cup durch. Ebenso bei der Spitzensport-Rekrutenschule klappt es gut. Eine gemeinsame Durchführung der Paralympics und der Olympischen Spiele halte ich hingegen für eher unrealistisch. Es wäre zum Beispiel spannend, wenn jede Austragung abwechselnd vom paralympischen oder olympischen Teil eröffnet werden würde. Dort, wo es Sinn macht, ist eine Integration der Sportarten erstrebenswert. Die Sichtbarkeit des Parasports und die Sensibilisierung der Medien haben ebenfalls zugenommen. Es hat sich alles positiv entwickelt.

Welche weiteren Schritte halten Sie für notwendig?

Die Entwicklung sollte so weitergehen wie in den letzten Jahren. Sie ist auf einem guten Weg. Menschen mit Beeinträchtigungen sollten sich vermehrt in die Gesellschaft einbringen können, aber auch selber einen Schritt in Richtung Inklusion machen. Wir sollten nicht nur fordern, sondern auch beitragen.

Wie lange möchten Sie noch Profisport treiben?

Momentan entscheide ich von Jahr zu Jahr. Bin ich noch fit genug? Habe ich noch genügende Motivation und Freude? Macht der Körper noch mit? Solche Fragen stelle ich mir jährlich. Zurzeit fallen alle Antworten positiv aus. Deshalb mache ich mir noch keine Gedanken über ein konkretes Ende meiner Profisport-Karriere. Dennoch beschäftige ich mich intensiv mit meiner Nachsportkarriere.

Interview Claudia Cavadini

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19.04.2025
von SMA
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