Die Schweizer Gesundheitsversorgung gilt als eine der besten der Welt. Dennoch stehen auch hierzulande Herausforderungen an. Prof. Dr. Beatrice Beck Schimmer, Direktorin der Universitären Medizin Zürich (UMZH), spricht über das Zusammenspiel von Forschung und Praxis, die Bedeutung von KI in der Medizin – und erklärt, warum «massgeschneiderte» Therapien die Zukunft sind.
Frau Beck Schimmer, wie beurteilen Sie als Fachperson die Gesundheit der Schweizer Bevölkerung? Oder anders gefragt: Wie geht es «Herrn und Frau Schweizer»?
Glücklicherweise dürfen wir den Gesundheitszustand der Menschen in der Schweiz als sehr gut bezeichnen. Dies haben wir nicht zuletzt unserem hochstehenden Gesundheitssystem zu verdanken. Dennoch stehen wir, wie überall auf der Welt, auch in der Schweiz vor Herausforderungen. Eine davon ist die wachsende Zahl an Krebserkrankungen, die direkt mit der höheren Lebenserwartung unserer Gesellschaft zusammenhängt. Abgesehen vom menschlichen Leid für die Betroffenen und ihr Umfeld stellt Krebs auch eine enorme ökonomische Herausforderung dar. Aus diesem Grund haben wir es uns bei der Universitären Medizin Zürich (UMZH) zur Aufgabe gemacht, die sogenannte «Präzisionsmedizin» durch gezielte medizinische Forschung zu stärken – insbesondere in der Onkologie.
Was versteht man unter «Präzisionsmedizin»?
Es handelt sich dabei um einen Sammelbegriff für datengetriebene und massgeschneiderte Therapien, die auf ein Individuum oder eine kleinere Gruppe von Menschen zugeschnitten sind. Der grosse Vorteil dieses personalisierten Ansatzes besteht darin, dass er idealerweise zu einer besseren Wirksamkeit bei weniger Nebenwirkungen führt.
Die UMZH hat sich ebenfalls auf die Fahne geschrieben, ihre Spitzenposition in der Medizin zu stärken. In diesem Zusammenhang betonen Sie die Bedeutung von Kooperation und Koordination. Welche Rolle spielen interdisziplinäre Ansätze in der medizinischen Forschung und Patientenversorgung?
Ohne interdisziplinäre Teams sowie eine enge Zusammenarbeit würde die moderne Medizin überhaupt nicht funktionieren. Das wird bei der Präzisionsmedizin besonders augenfällig: Hierfür benötigen wir nicht nur Ärztinnen und Ärzte, sondern auch Fachleute aus der Informatik, der Grundlagenforschung, dem Datenmanagement, der Pflege sowie der Physiotherapie. Diese synergistische Zusammenarbeit ist ein essenzieller Aspekt unserer Arbeit.
Der Volksmund kennt den Spruch «Zu viele Köche verderben den Brei». Trifft das irgendwann auch auf die Medizin zu?
Nein, im Gegenteil: Die Expertise vieler Fachleute eröffnet neue Möglichkeiten. Es ist allerdings in der Tat eine Herausforderung, diese interdisziplinäre Zusammenarbeit zu koordinieren, wofür auch entsprechende Fördermittel benötigt werden. Um diesen Herausforderungen zu begegnen, haben wir unter anderem mit ‹The LOOP Zurich› ein translationales Forschungszentrum geschaffen, das sich auf die Präzisionsmedizin konzentriert. Es vereint die biomedizinische Grundlagenforschung und Bioinformatik der ETH Zürich und der Universität Zürich mit der klinischen Forschung von vier universitären Spitälern. Dieses Modell erleichtert es uns auch, die notwendigen Förderbeträge zu beschaffen, um in der Präzisionsmedizin eine führende Position einzunehmen – stets zum Wohle der Patientinnen und Patienten.
Sie setzen sich auch aktiv für die Nachwuchsförderung ein, insbesondere von Frauen. Welchen spezifischen Herausforderungen begegnen junge Ärztinnen und Wissenschaftlerinnen heute?
Wir haben in der Tat zu wenig Nachwuchs bei den klinischen Forschenden, den Clinical Scientists. Ich kann aus eigener Erfahrung sagen, wie anspruchsvoll es ist, quasi zweigleisig zu fahren. Also einerseits eine Facharztausbildung im Spital zu absolvieren und andererseits eine akademische Laufbahn an der Universität zu verfolgen. Ich habe selbst Forschung und Lehre betrieben und war zugleich als leitende Ärztin der Anästhesiologie des Universitätsspitals Zürich im OP tätig. Für Frauen wird dieser Weg durch die Familienplanung zusätzlich erschwert, was ich ebenfalls aus eigener Erfahrung kenne. Deshalb versucht die Universität Zürich, Frauen aktiv zu unterstützen. Die Kernfrage lautet, wie wir weibliche Clinical Scientists fördern können. Möglichkeiten ergeben sich unter anderem durch geschützte Forschungszeiten, Mentoringangebote sowie durch die Vermittlung von Selbstführungskompetenzen.
Warum ist die Rolle der Clinical Scientists so zentral?
Weil diese Ärztinnen und Ärzte die Ideen und Inspirationen aus ihrem medizinischen Alltag direkt in die Forschung tragen, um zum Beispiel Krankheitsursachen zu erkennen, bessere Operationstechniken zu entwickeln oder neue Behandlungsmethoden zu finden. Auf diese Weise können wir neben Grundlagenforschung auch klinische Forschung betreiben, die sich an den realen Bedürfnissen der Menschen orientiert.
Meine Philosophie gilt aber unabhängig von der Jahreszeit: Gesund essen, Sport treiben, ausreichend schlafen sowie für einen guten Ausgleich zur Arbeit sorgen.
Das Laufbahnförderungsprogramm «Filling the gap» der Medizinischen Fakultät der Universität Zürich feiert in diesem Jahr bereits sein zehnjähriges Jubiläum. Wie kam es zu diesem Programm?
Es entstand aus der Erkenntnis heraus, dass es in der Medizinischen Fakultät zu wenig Professorinnen gab. Obwohl rund 60 Prozent der Medizinstudierenden weiblich sind, öffnet sich die Geschlechterschere nach der Postdoc-Phase stark. Seit 2018 konnten wir den Frauenanteil unter den Professuren, ohne Assistenzprofessuren, von acht auf mittlerweile 19 Prozent erhöhen, also mehr als verdoppeln. Das ist zwar erfreulich, aber wir haben unser Ziel noch nicht erreicht und bleiben hier weiter aktiv am Ball.
Die Digitalisierung verändert die Medizin rasant. Wie beeinflusst dieser Wandel die Ausbildung von Studierenden sowie die tägliche Arbeit von Ärztinnen und Ärzten?
Der Wandel ist klar spürbar. Gerade in der Administration im klinischen Alltag stellt die Digitalisierung einen enormen Vorteil dar. Aber auch in der Patientenversorgung ergeben sich grosse Chancen, da Patientinnen und Patienten einfache Informationen selbst abfragen können. So lässt sich die Zeit, die sie mit ihren Ärztinnen und Ärzten verbringen, intensiver für tiefgehende Gespräche nutzen, anstatt dass einfach Standarddaten erhoben werden. Die Frage, wie wir diese Entwicklung ins Medizinstudium integrieren können, beschäftigt uns ebenfalls sehr. Wir tauschen uns dazu auch mit unseren Partnerinstitutionen aus. Und natürlich ist das Potenzial von KI in der Forschung gewaltig. Grosse Datensätze, die quasi das Fundament für die Präzisionsmedizin bilden, eignen sich perfekt für den Einsatz von KI. Im Rahmen unseres ‹Tumor-Profiler-Projekts› wiederum wollen Forschende den Krebs bei jeder betroffenen Person bis auf Zellebene verstehen. Dazu werden sieben Forschungsplattformen eingesetzt, die innerhalb kurzer Zeit Therapievorschläge unterbreiten, die dann im ‹Tumorboard› von Fachärztinnen und Fachärzten diskutiert werden. Auch hier bietet KI enormes Potenzial.
Ihre Karriere erstreckt sich von der Humanmedizin über die Grundlagenforschung bis zur Führungsposition. Welchen Rat würden Sie Studierenden geben, die über eine ähnliche Laufbahn nachdenken?
Man muss vor allem Freude an dem haben, was man tut. Es wird immer schwierige Phasen geben, in denen Selbstmotivation wichtig ist. Wer den Weg des Clinical Scientist einschlägt, muss mit Stress und Enttäuschungen umgehen können, sollte aber auch die Abwechslung schätzen. Enthusiasmus ist dabei unerlässlich.
Ausserdem sollte der eigene Weg geplant werden, aber man sollte offen für Unerwartetes bleiben und immer einen Plan B haben. Zudem ist es wichtig zu akzeptieren, dass nicht alles gleichzeitig machbar ist und eine solche Laufbahn länger dauern kann, als wenn man sich für eine Richtung entscheidet. Generell kann ich sagen: Seid mutig und geht auch mal ein Risiko ein!
Der Herbst hat Einzug gehalten. Welches sind nun die gesundheitlichen Risiken und wie kann man diesen proaktiv entgegenwirken?
Im Herbst und Winter nehmen Depressionen und Infektionen häufiger zu. Meine Philosophie gilt aber unabhängig von der Jahreszeit: Gesund essen, Sport treiben – ich spiele leidenschaftlich gern Tennis – ausreichend schlafen sowie für einen guten Ausgleich zur Arbeit sorgen.
Wo sehen Sie die grössten Chancen für bahnbrechende medizinische Entdeckungen in den nächsten zehn Jahren und welche Rolle spielt die UMZH dabei?
Zweifellos in der Präzisionsmedizin! Ich denke, wir stehen hier vor einer enormen Entwicklung mit gewaltigem Potenzial. Das ist das Feld, auf dem bahnbrechende Entdeckungen stattfinden werden. Das bereits erwähnte Tumor-Profiler-Projekt ist ebenfalls enorm spannend. Besonders in der Onkologie passiert sehr viel, aber auch in den Bereichen Mental Health und bei rheumatischen Erkrankungen sehen wir aufregende Chancen. Ein persönliches Steckenpferd von mir, die Gendermedizin, ist ebenfalls ein Teil der Präzisionsmedizin. Zum Beispiel, wenn es um unterschiedliche Schmerzempfindungen von Frauen und Männern geht. Sie sehen, es fehlt nicht an aufregenden Themen und spannenden Chancen, mit denen wir die Gesundheit der Menschen hoffentlich nachhaltig verbessern können.
Über Beatrice Beck Schimmer
Beatrice Beck Schimmer ist seit August 2018 Direktorin der Universitären Medizin Zürich und gehört der siebenköpfigen Universitätsleitung der Universität Zürich an. Sie studierte Humanmedizin an der Universität Bern und habilitierte im Jahr 2003 an der Universität Zürich. Von 2005 bis 2018 arbeitete sie als leitende Ärztin am Universitätsspital Zürich und ab 2009 zusätzlich als ordentliche Professorin für Anästhesiologie, wo sie in der Grundlagenforschung und in der klinischen Forschung tätig war. Von 2012 bis 2018 war sie Mitglied des nationalen Forschungsrats des Schweizerischen Nationalfonds und seit 2011 setzt sie sich aktiv für die Nachwuchsförderung, vor allem für die Karriereplanung von Frauen ein.
Schreibe einen Kommentar