Dr. Iris Zachenhofer und Dr. Shird Schindler schrieben das Buch «Abnehmen für hoffnungslose Fälle – Hardcore-Tipps aus der Suchtmedizin». Im Interview erklärt uns Iris Zachenhofer, was Trotzverhalten und heisses Wachs mit Abnehmen zu tun haben.
Dr. Iris Zacherhofer und Dr. Shird Schindler bild: lukas graf
Dr. Iris Zachenhofer, Sie beschreiben in Ihrem Buch die Gemeinsamkeiten zwischen Suchtkranken und Menschen, die Mühe mit dem Abnehmen haben. Welche Gemeinsamkeit verblüffte Sie am meisten?
Am Spannendsten war die Beobachtung, dass sich das Sucht- und Entzugsverhalten stark ähneln. Studien haben gezeigt, dass industriell verarbeitetes Essen im Gehirn Suchtverhalten erzeugt. Menschen, die versuchen von diesen Lebensmitteln wegzukommen, ähneln im Verhalten stark Menschen im Drogenentzug. Die Gedanken kreisen nur ums Essen.
Bei vielen Betroffenen geht es nicht um ein paar Kilo, sondern um starkes Übergewicht. Sie haben bereits Folgeerkrankungen wie Kreislauf- und Gelenkbeschwerden und wissen eigentlich, dass sie sich langsam umbringen. Und trotzdem machen sie weiter. Das ähnelt dem Verhalten von Drogenkranken folglich stark.
Sie vergleichen die Wirkung gewisser industrieller Lebensmittel mit Drogen. Sollte man diese also verbieten?
Ich glaube, es ist immer schlecht, etwas zu verbieten. Verbotenes wird automatisch interessanter. Denn Menschen wollen nicht das Empfinden haben, von aussen kontrolliert zu werden. Das Gefühl der Freiwilligkeit ist sehr wichtig, auch bei einem Abnehmprogramm. Im Vordergrund sollte immer stehen, sich und dem Körper etwas Gutes tun zu wollen.
Im Buch motivieren wir dazu, eine Liste gesunder Nahrungsmittel zu erstellen, die man gerne mag. Da kommt einiges zusammen. Aber wenn das Gefühl aufkommt, etwas vorgeschrieben zu bekommen, klappt es nicht. Das menschliche Trotzverhalten ist zu stark.
Dann würden Sie sagen, man darf sich trotzdem mal was gönnen?
Ich glaube einfach, dass es wichtig ist zu wissen, dass gewisse Lebensmittel im Gehirn Sucht erzeugen. Es wird propagiert, dass man sich etwas gönnt, aber industriell verarbeitetes Essen ist im Grunde genommen Sondermüll. Damit gönnt man sich nichts.
Etwas gönnen kann man sich beispielsweise mit einem selbstgemachten Schokokuchen. Der ist frei von künstlichen Zutaten.
Industriell verarbeitetes Essen ist im Grunde genommen Sondermüll. Dr. Iris Zachenhofer
Mit Ihren Arbeitsblättern ermutigen Sie dazu, das Essverhalten in der Diät genauestens zu dokumentieren. Wie vermeidet man, in einer Orthorexie zu landen?
Die Dokumentation des Essverhaltens ist wichtig, weil sich viele Menschen nicht bewusst sind, wie viel sie essen. Viele essen nebenbei, ohne es wirklich zu merken. Aber wenn sie alles aufschreiben, schafft es Bewusstsein gegenüber dem eigenen Verhalten.
Manche sagen, sie hätten nichts gegessen, haben aber doch 2 Bananen verputzt. Sicher sind Bananen gesund, aber es sind trotzdem Kalorien und eine Beschäftigung für Magen und Darm.
Dr. Iris Zachenhofer und Dr. Shird Schindler polarisieren mit ihrem neuen Buch die Abnehmwelt.
Es geht um Inventur. Was esse ich eigentlich? Denn alles andere wäre zu schwammig. Übergewichtige Menschen sind meist nicht gefährdet, in eine Essstörung zu kippen. Bei Übergewicht herrschen andere Ursachen. Die Gefahr, eine Essstörung zu entwickeln, ist da nicht so hoch.
Warum?
Bei einer Essstörung steht der Zwangsgedanke im Vordergrund. Es geht darum, alles zu kontrollieren. Und Menschen, die Übergewicht haben, haben jedoch eher das umgekehrte Problem (lacht). Zu wenig Kontrolle, nicht zu viel.
Sie sagen, dass freiwilliges Hungern Euphorie auslösen kann. Mein erster Gedanke war, dass dieser Satz einer Essstörung Tür und Tor öffnet. Was meinen Sie dazu?
Wir beziehen uns auf freiwilliges Hungern im Sinne von Fasten, höchstens 24 Stunden. Viele Studien haben belegt, dass eine Essenspause von 16 bis 24 Stunden sehr gesund ist. In dieser Zeit können sich die Zellen dann effektiv regenerieren. Beispielsweise konnte bewiesen werden, dass bei Menschen, die nach 16 Uhr nichts mehr essen, das Krebsrisiko massiv sinkt, weil der Körper effektiver regeneriert. Hier geht es um vieles mehr, als ums Abnehmen.
Es geht auch nicht um langes Hungern, sondern um 16 bis 24 Stunden, danach isst man wieder normal. Da kann man jetzt auch nicht in eine Essstörung kippen.
Übergewichtige Menschen sind meist nicht gefährdet, in eine Essstörung zu kippen. Bei Übergewicht herrschen andere Ursachen. Dr. Iris Zachenhofer
Letztendlich geht es auch darum, den Magen zu verkleinern und somit das Sättigungsgefühl schneller zu generieren. Das empfehlen wir generell. Aber natürlich ist es individuell. Manche schaffen es nicht, einen ganzen Tag nichts zu essen und nehmen an einem Fastentag doch 400 bis 500 Kalorien zu sich.
Um in der Ernährung gute Entscheidungen zu treffen, sollte man sich nicht von Emotionen leiten lassen. Aber ist es überhaupt möglich, Essen und Emotionen zu trennen?
Bei negativen Emotionen wirkt Essen schnell beruhigend. Wir erleben immer wieder in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, dass Kinder von ihren Eltern mit zuckerhaltigen Lebensmitteln ruhiggestellt werden. Man kann es auch bei sich selbst beobachten; denn bei schwierigen Emotionen wirkt die Kombination fett und süss, und das sehr schnell.
Der Grundgedanke ist es, mit Emotionen anders umzugehen, statt mit Essen. Im Buch haben wir eine Liste sogenannter Skills, Soft Skills und Hard Skills. Diese sind dazu da, die Spannung zu lösen, ohne dass gegessen wird. Der erste Schritt ist es folglich, die negative Emotion zu bemerken und zu benennen. Da hat man den Kampf schon aufgenommen.
Wie bereits erwähnt, schlagen Sie Soft- und Hard-Skills vor. Während Soft-Skills Ablenkungen in Form von Hobbies etc. sind, nennen Sie bei den Hard-Skills Vorgehensweisen wie heisses Wachs auf den Arm träufeln. Betritt man denn damit nicht das Territorium des selbstverletzenden Verhaltens?
Wir schreiben im Buch, dass man sich auf keinen Fall selbst verletzen darf. Als erstes kommen die Soft Skill zum Einsatz, wodurch man versucht, sich etwas Gutes zu tun. Die Hard Skills sind die Notbremse für Notfälle.
Man soll einen Schmerzreiz setzen, ohne sich zu verletzen. Die vorgeschlagenen Methoden, wie beispielsweise Chili zu essen, bereiten Schmerzen. Dadurch werden andere Gefühle abgeschaltet. Man lenkt sich vom Hungergefühl ab, bis dieses vorbei ist.
Die vorgeschlagenen Methoden bereiten Schmerzen. Dadurch werden andere Gefühle abgeschaltet. Dr. Iris Zachenhofer
Ähnliche Tipps finde ich auf Pro-Ana-Webseiten, in denen Anorexie als Lifestyle propagiert wird.
Unsere Methoden kommen aus der Psychiatrie. Sie kommen in der Arbeit mit Suchterkrankten und Borderline-Patienten zum Einsatz und haben sich über Jahre bewährt. Denn es wird immer Leute geben, die eine Methode für schlechte Zwecke missbrauchen. Das heisst nicht, dass die Methode schlecht ist. Wir haben jahrzehntelange Erfahrung und vielen Suchtpatienten damit geholfen. Aber man kann jede Methode durch Unseriosität schlecht machen. Das wird immer so sein.
Wo liegt die Grenze zwischen normalem Ess- und Suchtverhalten?
Die Grenze ist fliessend. Im Buch bieten wir Selbsttests, um das eigene Essverhalten zu analysieren und Suchtverhalten zu erkennen. Es gibt einige Anhaltspunkte, beispielsweise wenn sich die Gedanken pausenlos ums Essen drehen. Auch wenn man nicht mit dem Essen aufhören kann, obwohl man schon sehr krank ist. Die Vernunft sagt, man tut sich nichts Gutes, auch das Umfeld warnt, aber man kann nicht aufhören. Es ist wie ein Fremdkörper im Gehirn.
Wie wichtig ist Sport im Abnehmprozess?
Wir finden, dass niemand Sport machen muss. Man soll sich diesen Druck nicht machen, das ist kontraproduktiv. Wem Sport Spass macht, der soll Sport machen. Ein Bedürfnis nach Bewegung entwickelt sich automatisch, wenn man ein höheres Körperbewusstsein entwickelt.
Aber die Dauerbeschallung, die Hysterie rund um Sport, das hilft nicht. Menschen verfallen dann ins Trotzverhalten, und machen absichtlich keinen Sport.
Wir finden, dass niemand Sport machen muss. Man soll sich diesen Druck nicht machen, das ist kontraproduktiv. Dr. Iris Zachenhofer
Wem würden Sie Ihr Buch vor allem ans Herz legen?
Unser Buch ist prinzipiell für jeden geeignet, ob Gewichtsprobleme vorhanden sind oder nicht. Es ist für jeden interessant, weil neue Forschung miteinbezogen wird und über die Lebensmittelindustrie aufgeklärt wird.
Gibt es Personengruppen, für die das Buch ungeeignet ist?
Nein, da fällt mir niemand an. Auch Menschen, die ihr Gewicht im Griff haben, können profitieren. Denn durch Informationen über neue Forschung kann man die eigenen Gewohnheiten immer wieder anpassen. Auch ich habe durch die Recherchen für das Buch einiges verändert.
Was haben Sie verändert?
Ich baue überall Gemüse ein, um dem Essen mehr Volumen zu verleihen. Zum Beispiel füge ich im Schokokuchen 300 Gramm Zucchini hinzu. Das merkt man schlussendlich gar nicht.
Ich achte auch darauf, dass ich an vielen Tagen nach 16 Uhr nicht mehr esse. Das ist einfach, wenn man diese Studien im Kopf hat. Es ist reine Kopfsache.
Interview Fatima Di Pane
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