Am 17. Mai 1990 strich die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Homosexualität von ihrer Liste der Krankheiten. Dieses Ereignis gab Anlass für den jährlichen International Day Against Homo- and Transphobia (IDAHOT). Doch trotz aller Fortschritte stellt Queerness im Alter noch einen zweifachen Tabubruch dar.
Zürich Tourismus wirbt mit Zürichs breitem Angebot für LGBTQIA+ (lesbian, gay, bisexual, transgender, queer, asexual/-romantic and other spectrums of sexuality) und betont die Toleranz und Offenheit der grössten Schweizer Stadt. Dass Zürich sich dies auf die Fahne schreibt, ist ein Zeichen, dass zumindest in Sachen Homophobie ein Tabubruch stattfindet. Ein Blick in die Geschichte zeigt, es ist noch nicht lange her, da wurden non-binäre und nicht-heterosexuelle Menschen nicht nur diskriminiert, sondern auch strafrechtlich verfolgt. Letzteres ist zum Glück nicht mehr der Fall. Dennoch werden noch immer öffentliche Attacken auf die LGBTQIA+-Community verübt.
Tabu «Alter»
Unsere westliche, neoliberal orientierte Gesellschaft ist auf Leistung fokussiert. «Der Tod ist das letzte Tabu in einer auf Vitalität getrimmten Gesellschaft», ist in einem Beitrag zum Thema auf SRF Online zu lesen. Dieses Tabu führt dazu, dass das Älterwerden eine Scham darstellt, eine Scham, die zur sozialen Norm der Leistungsgesellschaft mutierte: Wessen Leistung vermindert ist, der sinkt im Wert. Zusätzlich sind wir als freie Individuen selbst verantwortlich für unsere volle Einsatzfähigkeit. Mit anderen Worten: Wir sind, überspitzt gesagt, sogar am Krank- und Älterwerden selbst schuld.
Minderheit in zwei- bis dreifacher Hinsicht
Es gibt nur wenige wissenschaftliche Bemühungen, welche sich mit der Situation von queeren Menschen befassen. Noch weniger ist Queerness im Alter ein Thema. Das karge Interesse seitens der Forschungsgemeinschaft hängt wohl auch mit fehlenden Zahlen zusammen.

Bis anhin bekennen sich nur wenige Bewohner:innen von Pflegeheimen und Altersinstitutionen zu ihrer Queerness. Bild: iStock/Patamaporn Umnahanant
Die ältere Generation legt eine grosse Verschwiegenheit an den Tag, wenn es um die Offenlegung ihrer sexuellen Orientierung geht. Das macht eine offizielle Erhebung unmöglich: 23 Alterszentren mit über 1 000 Menschen betreibt die Stadt Zürich. Davon bekennen sich offen gerade einmal fünf Personen zur Homosexualität, 18 vertrauten sich dem Pflegepersonal oder anderen Vertrauenspersonen an, bestehen aber auf Verschwiegenheit.
Den Grund für die niedrige Anzahl an offenen Bekenntnissen könnte in der Angst vor Beschämung und dem Gefühl des Ausgeliefertseins liegen. Pflegebedürftige generell sind ihren Betreuenden komplett ausgeliefert, sie sind verletzlich und hochsensibel – noch mehr, wenn auch Demenz im Spiel ist. Bei einigen kommt hinzu, dass sie nicht als Mitglied einer «Community» gesehen werden wollen. Sie möchten ganz einfach als sich selbst akzeptiert werden und nicht herausstechen. Die Angst vor Einsamkeit oder dem Verlieren davon, was sie sich ein Leben lang aufgebaut haben, sitzt tief. Viele Ängste gründen in vergangenen Erlebnissen.
Traumatische Erfahrungen
Vincenzo Paolino vom Verein «queerAltern» erzählt, dass in seinen 13 Jahren als Pflegeleiter im Schlierener Alterszentrum Sandbühl, nicht ein:e einzige:r Bewohner:in sich offiziell zur Queerness bekannt hat. Auch nicht gegenüber ihm, der seine Homosexualität offen kommuniziert. Er führt dies unter anderem auf traumatische Erlebnisse zurück und nennt als Beispiel sein eigenes Coming-out. Zehn Jahre hatte er keinen Kontakt mehr zur Familie: ein sehr verletzendes und prägendes Erlebnis.
Die Angst vor Einsamkeit oder dem Verlieren davon, was sie sich ein Leben lang aufgebaut haben, sitzt tief.
Maria do Mar Castro Varela, welche in Deutschland schon einige Studien zum Thema initiiert und geleitet hat, sieht auch eine geschichtliche Dimension. Bis 1975 stand Homosexualität in Deutschland noch gesetzesmässig unter Strafe. Und obwohl homosexuelle Akte unter volljährigen Personen in der Schweiz seit 1942 entkriminalisiert waren, wurde in den 70er-Jahren seitens der Polizei noch ein sogenanntes Schwulenregister geführt. Die Kriminalisierung ist für viele ältere LGBTQIAs Teil der Biografie. Das Gefühl einer verbotenen Identität lässt sich nicht so schnell ablegen und führt dazu, dass die eigene Persönlichkeit – sofern möglich – nur teilweise offenbart wird.
Queerness in der Pflege
Ein Leben lang haben viele Queers sorgfältig darauf geachtet, wem sie ihr wahres Ich offenbarten und vor wem sie es verbargen. Steht ein Übertritt in eine Pflegeeinrichtung an, weil selbstständiges Leben nicht mehr möglich ist und liegt allenfalls noch eine leichte Demenz vor, wird es schwieriger, die schützende Distanz aufrechtzuerhalten. Das macht Angst. Noch verletzlicher sind Menschen, deren Körper nicht der gängigen dichotomen Mann-Frau-Ordnung entspricht. Können sie sich nicht mehr selbst waschen beispielsweise, haben sie keine Macht mehr über ihr Coming-out. Ziehen sie sich aus, oder werden sie ausgezogen, sind sie automatisch geoutet. Ein Erfahrungsbericht zeigt dies eindrücklich. Bei einem stationären Spitalaufenthalt habe eine Frau das Gefühl gehabt, es hätte ihr nach (nicht geschlechtsrelevanter) erfolgter Operation die gesamte Belegschaft einen Besuch abgestattet. Ausserdem erhielt sie ungefragt ärztliche «Beratung», wie: «Das könnte man ohne Problem operieren.»
Gut möglich, dass der Umgang in Alters- und Pflegeheimen generell sorgfältiger ist und solche Äusserungen weniger vorkommen. Das Beispiel bringt es aber auf den Punkt: Wenn wir pflegebedürftig werden – sei das kurz- oder langfristig – sind wir äusserst verletzlich. Noch mehr, wenn wir nicht der «Norm» entsprechen. Was braucht es also, um queeren Menschen einen möglichst unbeschwerten Lebensabend zu ermöglichen?
Baustellen und Lösungsansätze
Um die Situation besser zu erfassen und Lösungen zu finden, brauche es mehr LGBTQIA-Forschung, speziell im Alter, meint Varela. Gabriele Kaes, Dozentin und Beraterin in der Fachstelle Demenz der Alterszentren Stadt Zürich, sieht eine stetige Besserung. Das Bewusstsein wachse, aber die Sexualität sollte generell vermehrt thematisiert werden. Die Bedürfnisse und der Bezug zur Körperlichkeit verändern sich im Alter, gerade auch bei Demenzpatient:innen. Manche Pfleger:innen hätten keine Berührungsängste, andere dagegen schon.
Im regulären Curriculum der Pflegeausbildung gibt es nur punktuell und nur auf freiwilliger Basis Angebote mit dem Thema LGBTQIA.
Der Verein «queerAltern» hat zum Projekt, eine Einrichtung aufzubauen, in welcher verschiedene Generationen, LGBTQIAs und Heterosexuelle ein Zuhause finden. Das Pflegeangebot sollte direkt im Haus sein und verschiedene Levels an Pflege anbieten. Zudem soll mit einem Bistro auch der Kontakt mit der öffentlichen Umwelt hergestellt werden. Dieses Konzept greift laut Paolino gleich mehrere Mankos der heutigen Pflegeeinrichtungen für ältere Menschen auf. Es bewegt sich weg vom spitalähnlichen Charakter der heutigen klassischen Institutionen und bietet weiterhin Anbindung an die Gesellschaft. Es bietet einen diskriminierungsfreien, sensibilisierten Rahmen für LGBTQIAs im Alter und hat ausserdem Raum für stationäre Pflegemöglichkeiten. «queerAltern» bietet also ein gemischtes Wohnen.
Überlegungen bestehen auch zu separaten Einrichtungen. Eine Umfrage ergab: Die ganz sichere Ruhe vor Diskriminierung steht der Angst vor einer möglichen Ghettoisierung gegenüber.
Fehlende Ausbildung
Bereits in der Ausbildung bestehen Mängel. Im regulären Curriculum der Pflegeausbildung gibt es nur punktuell und nur auf freiwilliger Basis Angebote zum Thema LGBTQIA. Auch im herkömmlichen Weiterbildungszyklus sind Seminare zum Thema «Queer» nicht vorgesehen. Es gibt Angebote, wie Kaes klarmacht. Allerdings muss man sich diese aktiv heraussuchen.
Dieser Aspekt fehle auch im Studiengang der sozialen Arbeit. Ausserdem sei bei vielen Ärzt:innen immer noch die alte Lehre präsent, welche Transsexualität pathologisiert, ergänzt Henry Hohmann, ehemaliger Präsident des Vereins Transgender Network Switzerland.
Es ist an der Zeit, die aktuelle Sprachlosigkeit zu brechen, Missstände aufzuzeigen und mögliche Lösungen zu erörtern. Sensibilisierung ist dringend nötig. Sei es in der Aus- oder Weiterbildung, das Thema der Sexualität darf nicht weiter tabuisiert werden. Zudem soll dem Pflegepersonal der Umgang mit traumatischen Erlebnissen vertraut sein. Diese hohen Anforderungen und die grosse Verantwortung sollen sich, anders wie bisher, im Lohn widerspiegeln. Konzepte, die allen Menschen zu einem würdevollen Lebensabend verhelfen, müssen die überholten bisherigen ablösen.
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