Die Mobilität und ihre Auswirkungen auf Mensch, Umwelt und Gesellschaft sind in den letzten Jahren zu einem brennenden Thema geworden. «Fokus» wollte von Gerd Scheller, CEO von Siemens Schweiz, wissen, wo er die grössten Potenziale für eine nachhaltigere Mobilität sieht. Und wo die grössten Stolperfallen lauern.
Herr Gerd Scheller, in dieser Ausgabe richten wir unser Augenmerk auf die verschiedenen Facetten und Sphären der Mobilität. Daher die Frage an Sie: Wie kommen Sie morgens zur Arbeit – und welches Verkehrsmittel ist Ihr persönlicher Favorit?
Ich darf mich als passionierten ÖV-Nutzer bezeichnen. In einem Land mit einer derart gut ausgebauten ÖV-Infrastruktur wie der Schweiz ist diese Art der Fortbewegung eine angenehme. Vor einiger Zeit habe ich das Velo als sinnvolle Erweiterung meines persönlichen Verkehrsmix entdeckt. Positiver Nebeneffekt: Durch mein vermehrtes Radfahren wird im ÖV mein Platz für eine andere Person frei – idealerweise für eine Autofahrerin oder einen Autofahrer (lacht). Ich erachte den kombinierten Verkehr als eine moderne und sinnvolle Lösung. Das hat aber auch damit zu tun, dass in meinem Wohnort Kilchberg der öffentliche Verkehr äusserst umfassend ausgebaut wurde. Hier darf ich den VBZ ein Kränzchen winden.
Haben Sie als CEO von Siemens Schweiz hinsichtlich Mobilität eine Vorbildfunktion?
Ich denke zumindest, dass Führungspersonen, wenn immer möglich, mit gutem Beispiel vorangehen sollten. Dies möchte auch ich tun und hoffe, dass sich manche unserer rund 6000 Mitarbeitenden in der Schweiz inspirieren lassen. Wie gesagt: In einem ÖV-Land wie der Schweiz ist zumindest ein weitestgehender Verzicht aufs Auto meines Erachtens gut möglich.
Die Mobilität ist auch ein wichtiger Faktor im Bestreben nach mehr Nachhaltigkeit. Welches Bild von Mobilität haben Sie persönlich für das Jahr 2050 vor Augen?
Ich bin der Ansicht, dass sich im Mobilitätsbereich einiges tun wird. Manche dieser Entwicklungen werden sich langfristig vollziehen, da hierfür auch die Raumentwicklung und -planung eine Rolle spielen. Grundsätzlich werden wir als Gesellschaft die Dekarbonisierung fördern und damit die Elektrifizierung vorantreiben. Dies setzt unter anderem voraus, dass wir die dafür benötigten Ladestationen und die dazugehörige Energieinfrastruktur bereitstellen und somit eine Abdeckung mit E-Ladelösungen schaffen, die eine komfortable sowie planbare Mobilität ermöglicht. Doch nicht nur der Personenverkehr, sondern auch der Gütertransport wird grundlegende Veränderungen erfahren. Dies ist ein essenzielles Handlungsfeld und Zukunftslösungen wie unterirdische Logistiksysteme oder der vermehrte Gebrauch von E-Lastwagen eröffnen hier spannende Chancen. Leisere Lastfahrzeuge sowie automatische Fahrsysteme könnten künftig auch den Wegfall des Nachtfahrverbots für Lastwagen einläuten, wodurch die Strassen tagsüber entlastet würden. Zudem muss es uns gelingen, mehr Fläche für den Langsamverkehr zu erschliessen. Hier kommt die erwähnte langfristige Raumplanung ins Spiel. Und da wir heute bereits den Trend erkennen können, dass der Freizeitverkehr künftig ansteigen wird, werden intermodale Mobilitätsformen zunehmend an Relevanz gewinnen. Mobility as a Service stellt meines Erachtens ein spannendes Zukunftsmodell dar. Und obschon sich die Automobilbranche auf den E-Antrieb als «Way to go» verständigt hat, denke ich doch, dass die Wasserstoffthematik nicht gänzlich vernachlässigt werden sollte. In diesem Bereich bestehen noch einige interessante Aspekte und Potenziale.
In welchen Bereichen der Mobilität orten Sie momentan den grössten Handlungsbedarf, wenn es darum geht, Städte und Gemeinden nachhaltiger und verkehrsfreundlicher zu gestalten?
Generell muss es uns gelingen, die Komplexität zu verringern und damit die Nutzung verschiedener Verkehrsträger zu fördern. Auch um den CO2-Footprint zu reduzieren, ist der Wechsel vom motorisierten Individualverkehr hin zu mehr ÖV unerlässlich. Das Ganze muss so angenehm und zuverlässig sein wie möglich, die Reisenden sollen sich sicher und wohlfühlen im ÖV. Daher müssen wir die Verfügbarkeit erhöhen. Die aktuellen Probleme mit dem beschädigten Gotthard-Tunnel zeigen uns zusätzlich auf, dass die Verkehrssysteme mehr Resilienz benötigen. Zu diesem Zweck ist die Verringerung der Komplexität ratsam. Wenn wir den Handlungsbedarf auf Gemeindeebene herunterbrechen, zeigt sich, dass wir nicht nur E-Ladestationen fördern, sondern auch ein stabiles Versorgungsnetz als Grundlage dafür schaffen müssen. Hier ist ebenfalls der Gesetzgeber gefordert, die Rahmenbedingungen zu vereinfachen.
Inwiefern?
Der Wille zur E-Mobilität wird heute durch verschiedene Hindernisse gebremst. Es muss einfacher werden, eine Ladestation bauen zu dürfen. Siemens beschäftigt in der Schweiz 1200 Servicetechniker:innen. Diese können ihre E-Fahrzeuge nicht alle bei uns auf den Firmenparkplätzen laden. Wir benötigen daher eine pragmatischere Gesetzgebung. Generell erachte ich das Feld der E-Mobilität als vielversprechend, aber wir werden dementsprechend mehr Strom benötigen. Die Energieversorgung muss daher durch ein nachhaltiges Gesamtsystem sichergestellt werden. Dieses sollte möglichst resilient sein und ans europäische System angebunden werden. Auch die Batterieforschung hat noch einen gewissen Weg vor sich. Zusammenfassend kann ich sagen, dass ich die E-Mobilitätszukunft durchaus als rosig betrachte, es bleibt aber noch viel zu tun, damit sie flächendeckend Realität wird.
Welche Rolle spielt die Digitalisierung in der zukünftigen Gestaltung von Mobilitätslösungen?
Eine zentrale! So gibt es beispielsweise KI-gestützte Systeme, welche die Weichensteuerung im Zugverkehr optimieren. Auch im Feld der Predictive Maintenance, der «vorausschauenden Wartung», gibt es enormes Potenzial. Allerdings: Die Digitalisierung ist nur ein Mittel zum Zweck, ein Werkzeug. Sie darf nie selbst zum Ziel oder zum Selbstzweck avancieren. Technology benötigt Purpose. Ein solcher Purpose kann etwa in der Erhöhung der Ressourceneffizienz liegen. Mit BIM (Building Information Modelling) können wir wiederum verhindern, dass wir Bauprojekte in die falsche Richtung entwickeln. Diese Art der virtuellen Modellierung stellt auch für die Verkehrsinfrastruktur einen enormen Mehrwert dar: Erst dann, wenn sich die digitalen Modelle bewährt haben, werden sie in der realen Welt umgesetzt. Welch positive Wirkung das Zusammenspiel von Digitalisierungslösungen, KI und Real-Life-Anwendung entfalten kann, beweisen unter anderem unsere Fahrerassistenzsysteme, die «Driver Advisory Systems» für Lokführer:innen.
Was darf man sich darunter vorstellen?
Die Fachleute von Siemens Mobility haben ein ATO-System (Automatic Train Operation) entwickelt. Der automatisierte Zugverkehr soll dabei nicht die menschlichen Lokführer:innen ersetzen, sondern vielmehr deren Arbeit optimieren. Ein begleitendes Gesamtsystem führt zum Beispiel bezüglich energieeffizientem Fahren und Haltegenauigkeit zu besseren Resultaten. Letzteres ist deshalb wichtig, weil exaktes Halten ein schnelleres Ein- und Aussteigen und somit optimierte Fahrgastwechselzeiten ermöglicht. Zudem haben Tests mit der RhB und SBB gezeigt, dass der Einsatz dieses Systems Energieeinsparungen von bis zu 30 Prozent bringen kann.
Wie bewerten Sie den aktuellen Stand der Infrastrukturen in der Schweiz, Deutschland und weltweit? Wo sehen Sie dringenden Nachholbedarf?
Es gibt einige Nadelöhre, doch man sollte primär an der Optimierung mittels Elektronik und Digitalisierung arbeiten und nicht auf eine Ausweitung der Infrastruktur setzen – Elektronik statt Beton, sozusagen. Boden ist rar und kostbar. Die Art und Weise hingegen, wie wir diese Infrastrukturen nutzen, müssen wir optimieren. Und das geht nur mittels Digitalisierung.
Welche aktuellen Innovationen oder Projekte können wir in den nächsten Jahren von Siemens Mobility erwarten, die speziell auf den Bereich der nachhaltigen Mobilität abzielen?
Auf strategischer Ebene setzen wir uns für «Technology with Purpose» ein, aus den bereits genannten Gründen. Die Dekarbonisierung ist in diesem Zusammenhang ein wesentlicher Faktor. Optimierte Dispositionssysteme und Leittechik-Technologien wiederum werden der Wegbereiter eines besseren und resilienteren ÖVs und Schienenverkehrs sein. Wir verfolgen dabei immer das Ziel, die Verfügbarkeit und damit die Effizienz zu erhöhen, womit automatisch auch eine Zunahme der Kundenzufriedenheit einhergeht. Und genau darum geht es ja letztendlich bei allen Massnahmen: Wir wollen den Menschen eine bessere, komfortablere und umweltschonende Mobilität ermöglichen. Weitere Zukunftsthemen sind neuartige Ansätze beim Leichtbau von Fahrzeugen sowie innovative Zugsysteme. Und auch im Stellwerk-Bereich sehen wir Potenzial, unter anderem durch die Anbindung an die Cloud. Sie sehen: Die Zukunft wird spannend.
Zu: „ein schnelleres Ein- und Aussteigen … ermömglichen“
Achtung: Allzu technologisches Denken kann die Gleichstellung von Gehbehinderten inkl. Senior:innen erschweren!