Interview von Aaliyah Daidi

Virginia Maissen: «Was zählt, ist das Gefühl, das ein Raum auslöst»

Im Interview verrät Virginia Maissen, wie sie über Umwege zur Interior Designerin wurde und warum Räume vor allem Gefühle wecken sollen.

Ein Puppenhaus, grüne Wände und ein geplatzter Studienplatz in Los Angeles – der Weg von Virginia Maissen zur Interior Designerin war alles andere als geradlinig. Geprägt von Kindheitserinnerungen, mutigen Abzweigungen und kreativen Begegnungen fand sie schliesslich ihre eigene gestalterische Sprache. Im exklusiven Interview mit «Fokus» spricht sie über Räume, die weit mehr sind als Kulisse – denn für sie ist Wohnen nicht nur eine Frage des Stils, sondern Ausdruck von Persönlichkeit und Leben.

Wie hat Ihre Reise als Interior Designerin begonnen? Gab es einen Schlüsselmoment?

Schon als Kind war ich vom Einrichten fasziniert. Mein erstes Projekt war ein Puppenhaus, das ich immer wieder mit Stoffmustern aus dem Architekturbüro meines Vaters neu ausstattete. Später verlagerte sich diese Leidenschaft auf mein eigenes Zimmer – inklusive tiefgrüner Wände! Meine Mutter hatte ein wunderbares Gespür für Räume. Besonders dann, wenn mein Vater – kein Fan von Baustellen zu Hause – auf Reisen war, wurden die Zimmer kurzerhand umgestaltet.

Trotz meines grossen Interesses an Einrichtung riet mir mein Vater von einer gestalterischen Laufbahn ab – also wurde ich Lehrerin. Später hatte ich bereits einen Interior-Design-Studienplatz in Los Angeles in der Tasche, doch alles kam anders: Jean Pierre Dovat, einer der renommiertesten Schweizer Gestalter, stellte die Schule infrage – und plötzlich führte mich mein Weg stattdessen in die Pariser Modewelt.  

Heute verbindet mich eine wertvolle Freundschaft mit Jean Pierre Dovat und er freut sich sehr, dass ich mich letztlich doch als Interior Designerin etabliert habe. 

Virginia Maissen

© Oliver Spies

Wie würden Sie Ihren persönlichen Designstil beschreiben?

Das ist schwer in ein paar Worte zu fassen, aber ich würde sagen «Classic with a Twist!». Die Möbel halte ich eher klassisch, der «Twist» entsteht durch das Kombinieren sämtlicher Elemente und durch Akzente.

Was ist Ihnen bei der Gestaltung von Räumen besonders wichtig?

Jeder Raum, jedes Gebäude ist anders. Wichtig ist, die Räumlichkeiten zuerst intensiv zu betrachten und die Bauherrschaft zu verstehen, um dann gestalterische Türen zu öffnen und unsere Kunden umfassend auf der gemeinsamen Reise zu begleiten. Jedes Projekt ist einzigartig – dies gilt es zu erkennen und gestalterisch zu würdigen. 

Woher nehmen Sie Ihre Inspiration – aus der Kunst, der Natur, Reisen? 

Während ich Messebesuche eher als eine Pflicht empfinde, sind die Natur, Kunst und Inspirationen auf Reisen die Kür und das Elixier.

Wie verändern sich Ihre Inspirationsquellen im Laufe der Zeit?

Ich bin heute gezielter. Früher habe ich wie ein Schwamm alles aufgesogen. Wenn mich heute etwas interessiert, möchte ich alles darüber wissen, gehe Dingen auf den Grund und recherchiere intensiv. Die Fülle bleibt, aber mein Blick ist fokussierter. 

Arbeiten Sie mit Moodboards, Skizzen oder anderen Tools, um Ideen zu sammeln?

Definitiv. Das hat sich aber durch die Digitalisierung in den letzten Jahren verändert. Früher habe ich liebevoll dicke Agenden gefüllt – mit Collagen, Schnipseln, Fundstücken. Heute nutze ich Instagram, Pinterest oder unser eigenes digitales Bildarchiv. Trotzdem liebe ich es nach wie vor, durch Bücher zu blättern und klassische Cuttings zu sammeln – manchmal braucht es einfach echtes Papier zwischen den Fingern. 

Ich liebe Räume mit Geschichte, mit Ecken und Kanten, Überraschungen, Raritäten und einer Prise Humor.

Wie sieht der kreative Prozess bei Ihnen aus – von der ersten Idee bis zur Umsetzung?

Oft fliegen mir die Ideen einfach zu – ganz intuitiv. Dann wird sortiert, gefiltert und verwoben, bis sich ein roter Faden ergibt. Manchmal reicht auch ein einziges Stück Stoff, ein Bild oder ein Vintage-Möbel, um den kreativen Funken zu zünden – und plötzlich entfaltet sich das ganze Projekt wie von selbst. 

Gibt es Designer:innen, Künstler:innen oder Architekt:innen, die Sie bewundern oder die Ihre Arbeit beeinflussen?

Flora Steiger-Crawford, die erste diplomierte Architektin der ETH Zürich, ist ein Vorbild. Auch Charlotte Perriand, die viele ikonische Möbel im Hause Le Corbusiers entwarf, ist eine grosse Inspiration. Aber auch die geniale Ray Eames oder die visionäre Textilkünstlerin Anni Albers beeindrucken mich mit ihren Werken voller Kraft, Eigenständigkeit und zeitloser Schönheit. Dies auch im Hinblick darauf, dass diese Frauen, in der Welt von Architektur und Design lange im Schatten ihrer Männer wirkten und erst heute die verdiente Anerkennung erhalten.

Was sind für Sie absolute No-Gos in der Innenarchitektur?

Für mich gibt es keine strikten No-Gos – Gestaltung lässt sich nicht in Regeln pressen. Was zählt, ist das Gefühl, das ein Raum auslöst. Ob ein Raum als stimmig empfunden wird, liegt immer im Auge des Betrachters. Oftmals begeistert uns ein Raum, ohne dass wir sofort sagen können, warum. Das Zusammenspiel und das grosse Ganze überzeugen, nicht einzelne Regeln. 

Ich liebe Räume mit Geschichte, mit Ecken und Kanten, Überraschungen, Raritäten und einer Prise Humor. Ein durchkomponierter Stil ist schön, aber es ist oft der kleine Bruch, das Unperfekte, das einem Raum Charakter verleiht. Ich glaube an den Zauber des Unvorhersehbaren und daran, dass ein guter Raum sich nicht nur logisch erklären lässt. 

Erzählen Sie von einem Projekt, das Ihnen besonders am Herzen liegt.

Ehrlich gesagt: Jedes Projekt bedeutet mir etwas. Besonders berührend sind jene, bei denen über Jahre eine vertrauensvolle Zusammenarbeit gewachsen ist. Mit der Zeit entstehen Freiräume – für Ideen, Experimente und echte Kreativität. Es freut mich sehr, dass viele unserer Kund:innen mit weiteren Projekten wieder auf uns zukommen. Das ist das schönste Kompliment!

Wie sehen Sie die Zukunft der Innenarchitektur – was verändert sich gerade grundlegend?

Das Angebot an flexiblem Mobiliar und kreativen Konzepten wächst stetig – als Antwort auf den knapper werdenden Wohnraum, besonders in urbanen Zentren. Wir haben kürzlich ein solches «Raumwunder» realisiert: ein kompaktes Haus in den Bergen für zehn Personen – ohne gestalterische Kompromisse. Dies gelingt vor allem durch die Planung von massgeschneiderten Schreinerlösungen wie zum Beispiel versteckter Stauraum oder ausziehbare Betten. 

Nachhaltigkeit wird wichtiger, auch wenn sie im Alltag durch einen gewissen Preisdruck manchmal noch verdrängt wird. In der Hotellerie beobachten wir aber ein wachsendes Bewusstsein: Durch kluges Design wird zum Beispiel Strom- und Wasserverbrauch reduziert. Innenarchitektur wird funktionaler, bewusster und individueller – das ist unsere Herausforderung.

Welche Interior-Design-Trends sehen Sie 2025 auf uns zukommen?

Seit Jahren prägen weiche, organische Formen die Interior-Welt und sind inzwischen auch beim breiten Publikum angekommen. Der Design-Olymp hingegen beschäftigt sich bereits intensiv mit der Gegenbewegung. Das Schöne daran: Aktuell herrscht eine grosse stilistische Freiheit. Mit viel Freude und Kreativität darf man sich aus der vollen gestalterischen Palette bedienen – ganz nach dem Motto: «Alles ist erlaubt.»

Gibt es bestimmte Materialien, Farben oder Formen, die im kommenden Jahr besonders präsent sein werden?

Die Vielfalt an neuen Materialien ist beeindruckend und manchmal fast schon ein bisschen verrückt: Besticktes Holz, gehäkeltes Metall, experimentelle Werkstoffe aus Pilzen oder Outdoor-Stoffe, die sich so weich anfühlen wie Indoor-Textilien. Zugleich erleben die 70er-Jahre ein fröhliches Comeback: Spiegel, Aluminium, Edelstahl und Glas in allen nur denkbaren Farben und Strukturen. 

Wabi Sabi bleibt als ruhiger Gegenpol bestehen – eine Haltung, die uns lehrt, das Unvollkommene wertzuschätzen, und dem schnellen Wandel mit Gelassenheit begegnet. 

Was hat in der Inneneinrichtung Substanz und Zukunft?

Wer dem Hype entgehen und sich vor Fehlkäufen schützen möchte, setzt auf Klassiker, Vintage und kleine Manufakturen. Trends hingegen werden schnell kopiert und der Markt im Nu überschwemmt. 

Gibt es einen Trend, mit dem Sie persönlich nicht warm werden?

Das mit den Trends ist so eine Sache. Der Trend von heute ist morgen schon der Trend von gestern! Natürlich gibt es einen Zeitgeist, dem man sich nicht entziehen kann. Auch ich werde davon auf die eine oder andere Weise beeinflusst, ob bewusst oder unbewusst.

Virginia Maissens Tipps für eine stilvolle Inneneinrichtung

  • Möbel neu anordnen – schon kleine Veränderungen können die Raumwirkung deutlich beeinflussen.
  • Mut zur Farbe: Teppiche oder farbige Wände setzen gezielte Akzente und bringen Leben ins Zuhause.
  • Zeitlose, schlichte Möbelstücke wählen – sie bleiben oft über viele Jahre hinweg treue Begleiter.
  • Ein Sofa muss nicht an der Wand stehen – gekonnter ist es, aus der Raummitte heraus zu möblieren.
  • Inneneinrichtung darf Spass machen – Perfektion ist nicht das Ziel, sondern eine Atmosphäre, die Identität schafft und in der man sich vor allem wohl fühlt.

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30.05.2025
von Aaliyah Daidi
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