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Bildungssystem: Alle Bereiche müssen sich wandeln

11.12.2020
von Patrik Biberstein

Kann einen die Schule von gestern und heute noch adäquat auf den Arbeitsmarkt von morgen vorbereiten? Welche Kompetenzen sind in Zukunft gefragt und wie erlernt man diese? «Fokus» hat sich bei einem Experten erkundigt.

Die einzige Konstante in unserer schnelllebigen Zeit ist Veränderung. Eine dieser Veränderungen ist die fortschreitende Digitalisierung praktisch aller Lebensbereiche. Im Zuge dessen wird auch die Arbeitswelt digitalisiert. Man spricht dabei von Industrie 4.0. Doch inwieweit beeinflussen diese Veränderungen in der Arbeitswelt die Welt der Bildung? Schliesslich ist ihr Ziel ja die Arbeitskräfte optimal auf den Arbeitsmarkt vorzubereiten. Dies gilt gerade hier in der Schweiz, mit unserem dualen Bildungssystem. Verändern sich die Anforderungen im beruflichen Umfeld, müssten sich doch eigentlich auch die Aus- und Weiterbildungen weiterentwickeln.

Doch inwieweit beeinflussen diese Veränderungen in der Arbeitswelt die Welt der Bildung? Schliesslich ist ihr Ziel ja die Arbeitskräfte optimal auf den Arbeitsmarkt vorzubereiten. Dies gilt gerade hier in der Schweiz, mit unserem dualen Bildungssystem.

In Bezug auf Kompetenzanforderungen meint Professor Dr. Erik Haberzeth, Inhaber der Professur für Höhere Berufs- und Weiterbildung und Dozent für Weiter- und Höhere Berufsbildung an der Pädagogischen Hochschule Zürich. «In der Schweiz sind die Beschäftigten grundsätzlich sehr kompetent, um den digitalen Wandel nicht nur zu bewältigen, sondern ihn auch zu gestalten. Das Bildungssystem bereitet die Menschen gut auf den Arbeitsmarkt vor. Auch die Betriebe bieten Gelegenheiten des Lernens im Prozess der Arbeit, die es den Beschäftigten ermöglichen, ihre Kompetenzen anzupassen und zu erweitern.»

Die Aktualisierung der Lehrpläne funktioniert

Professsor Haberzeth erläutert: «Die Arbeit hat sich schon immer durch neue Technologien gewandelt und das Bildungs- wie das Beschäftigungssystem haben darauf reagiert.» Am Ende des Tages ist das Thema Digitalisierung nun doch schon länger präsent, also kein komplett überraschend aufgetauchtes Novum.

Was allerdings laut Haberzeth neu ist, ist die gesamtgesellschaftliche Debatte diesbezüglich. «Entsprechend nahm und nimmt das Aus- und Weiterbildungssystem neue inhaltliche und fachliche Anforderungen der Arbeitswelt auf und bediente beziehungsweise bedient sie», erklärt der Experte. Im Bereich der höheren Berufsbildung beispielsweise komme zudem die Innovation der Lehrpläne auch oftmals durch die Lernenden in die Schulen. Denn es sind die Lernenden, die schlussendlich in den Unternehmen tätig sind und wissen, was dort passiert und was an Kompetenzen gebraucht wird. «Im Grossen und Ganzen läuft die Aktualisierung der Lehrpläne und Bildungsinhalte vielleicht etwas schleppend, aber sie funktioniert», schliesst Professor Haberzeth.

Der Blick für’s Ganze

Was der aktuellen digitalen Entwicklungen in praktisch allen Sektoren – sei dies die Industrie oder aber auch andere Wirtschaftszweige – gemein ist, ist die zunehmende Vernetzung von Prozessen. Diese werden dadurch einerseits komplexer, andererseits erhöht sich durch die Vernetzung aber auch die Abhängigkeit unter den einzelnen Bereichen. Dies wiederum kann schwerwiegende Folgen nach sich ziehen, weiss Professor Haberzeth zu berichten: «Fehler, die auch in hochtechnisierten Bereichen – gar nicht so selten! – vorkommen, haben schnell weitreichende Folgen. Man denke nur an eine steckengebliebene Transportgondel in einem Hochregallager. Da stauen sich innerhalb kurzer Zeit weitere Gondeln und im schlimmsten Fall steht das ganze Lager still.»

Deshalb werde es für die Beschäftigten je länger je wichtiger, einiges mehr zu wissen, als was sie für ihre ganz unmittelbare Aufgabe tatsächlich brauchen. Weiter folgert der Experte: «Nur so können die Erwerbstätigen umsichtig und vorausschauend handeln. Auch die Fähigkeit mit Menschen zu sprechen, die aus ganz anderen Bereichen stammen, kommt noch hinzu. Es reicht nicht mehr, wenn jeder und jede nur tut, was seine oder ihre Aufgabe ist; für die Aufrechterhaltung derart vernetzter Prozesse braucht es einen ‹Blick für das Ganze›.»

Verschiedene Wissensformen verknüpfen

«Nicht nur unsere Untersuchungen zeigen, dass dabei die Fähigkeit zur Verknüpfung verschiedener Wissensformen zentral ist. Einerseits nimmt die Wissensintensität zu, und zwar die Notwendigkeit, über systematisches, wissenschaftsbasiertes Wissen zu verfügen», erläutert der Dozent. Ohne dieses Wissen könne man so manche Situation und so manchen Prozess nicht analysieren und verstehen – was natürlich auch richtiges, umsichtiges Handeln verunmöglicht. «Zum anderen», fährt Haberzeth fort, «braucht es Erfahrungswissen, welches sich auf die konkreten Kontexte bezieht, in welchen man agiert und Wissen anwendet, aber auch auf das Faktum, dass es immer Unwägbarkeiten und Ungeplantes gibt. Schliesslich basiert Kompetenz auf einer ganzheitlichen sinnlichen Wahrnehmung. Es geht darum – das ist auch eine zu erlernende Fähigkeit – dies mit den entsprechenden emotionalen und intuitiven Impulsen zuzulassen und als Informationsquelle ernst zu nehmen.»

Es wird einem klar, dass derartige Fähigkeiten nicht über Nacht erlern- oder vermittelbar sind. «Ein entsprechender Kompetenzaufbau braucht Zeit», bekräftigt der Experte, «ich wage eine weitreichende Aussage: Alle Bereiche unsere Bildungssystems müssen sich wandeln, gerade auch die Berufsbildung und die Hochschulbildung. Die Hochschulbildung muss sich in Richtung eines stärkeren Erfahrungsbezugs wandeln, aber auch die Berufsbildung hin zu wissenschaftlichem Wissen.»

Wie genau das Bildungssystem in mehreren Jahren oder Jahrzehnten aussehen wird, mag zwar noch nicht hundertprozentig feststehen. Mit Flexibilität, Neugier und einer positiven Einstellung in Sachen Veränderungen erwirbt man sich auf alle Fälle bereits ein gutes Rüstzeug.

Text Patrik Biberstein 

Experte Professor Dr. Erik Haberzeth war Teil eines kooperativen Forschungsprojekt der Universität Hamburg und der Pädagogischen Hochschule Zürich zum Thema «Kompetenzverschiebungen und Kompetenzentwicklung im Digitalisierungsprozess». Die vom deutschen Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Untersuchung steht Interessierten hier als Open Access Publikation zur Verfügung.

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