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«Favolacce»: Der Mensch und seine Existenzangst

07.10.2020
von Andrea Tarantini

Ausgezeichnet für das beste Drehbuch an den Internationalen Filmfestspielen Berlin, ist der neue Film von den Gebrüdern D’Innocenzo ein komplexes und vielschichtiges cinematografisches Werk, das durch eine sorgfältige Analyse noch an Wert gewinnt.

Komplex, vielschichtig, hybrid und mutig – so könnte man das neue Meisterwerk der Brüder D’Innocenzo beschreiben. Dieser Film, der auch am 16. Zurich Film Festival gezeigt wurde, kombiniert Genres und unterschiedliche Stile, um so eine albtraumhafte Atmosphäre zu kreieren, die gleichzeitig auch eine seltsame Harmonie erzeugt. Aber welche Hauptthemen gehen die italienischen Regisseure an? Welche Konflikte beinhaltet der Film «Favolacce»? Wir schlagen hier eine thematische Analyse vor.

Die Existenzangst

Auf den ersten Blick ist das Leben der Einwohner des Quartiers Spinaceto, ein Vorort von Rom, friedlich und zufriedenstellend. Die im Film vorkommenden Familien gehören dem Mittelstand an und führen ein ruhiges Leben: Alle kennen sich, treffen sich für ein gemeinsamen Abendessen und an aufblasbaren Schwimmbecken, die Eltern arbeiten und Kinder schreiben gute Noten in der Schule.

Dennoch wird man sich schon zu Beginn des Films bewusst, dass der Schein trügt und etwas seltsames vor sich geht in Spinaceto. Zum Beispiel hören sich die Eltern und ihre zwei Kinder auf dem Sofa diverse morbide Fakten aus dem Fernseher an, ohne diese zu kommentieren oder auch nur mit den Augen zu blinzeln. Während dem Abendessen müssen die Kinder dann ihre Schulzeugnisse laut vorlesen, worauf die Eltern die Kleinen wie Trophäen behandeln.

Bereits ab den ersten Minuten des Films wird klar, dass die Erwachsenen in einer konstanten existenziellen Unklarheit leben. Tatsächlich werden sie gequält: Sie sind weder reich noch arm, weder zufrieden noch glücklich oder traurig. Sie beklagen sich über alles, geniessen schöne Momente nicht und langweilen sich sogar in den Ferien. Ihre gesamte Existenz beruht auf einer fragilen Illusion.

Mensch oder Tier?

Diese spürbare Frustration der Erwachsenen zeigt sich bei den Müttern in einer Unfähigkeit zu lieben, einer generellen Passivität und extremem Egoismus. Diese Eigenschaften führen sogar so weit, dass sie ihre eigenen Kinder erniedrigen. Bei den Männern äussert sich die Unsicherheit und Frustration in konstanter und sinnloser Gewalt. Innerhalb jeder Familie sind es die Väter, die Entscheidungen treffen: Was gegessen wird, wann man lacht oder weint. Ihre Unzufriedenheit führt auch zu sexueller Repression, die in der Form unangebrachter Kommentare, abartiger Wünsche und Handlungen vor den Kindern ausbricht. In «Favolacce» sind die Frauen passiv und die Männer von Urinstinkten beherrschte Tiere. In Folge dessen wird die Verbindung Mensch-Kultur zerstört und durch eine ungesunde Beziehung zwischen Mensch und Natur ersetzt.

Die Erwachsenen leben in einer konstanten existenziellen Unklarheit.

Die gespenstischen Kinder

Und die Kinder in der Geschichte? Obwohl sie still und apathisch sind, sind die Kinder die Hauptpersonen von «Favolacce». Schlussendlich fällt die Frustration der Erwachsenen auf die Kleinsten zurück. Die Kinder sind die eigentlichen Opfer, da sie unfähig sind, zu kommunizieren und ihre Gefühle auszudrücken. Im Grunde genommen sind es «leere» Kinder, gefangen zwischen Kindheit und Erwachsensein, die neugierig sind, die Liebe und den Sex zu entdecken, aber nicht in der Lage sind, auch das Bedürfnis danach zu verspüren.

Genau wie ihre Eltern leben die Kleinsten ebenfalls in existenzieller Unbestimmtheit. Sie befinden sich in einem Zustand, in dem es ihnen unmöglich ist, erwachsen zu werden. Zur selben Zeit ist es ihnen aber genauso unmöglich, die Leichtigkeit der Kindheit zu geniessen. Im Gegensatz zu ihren Eltern möchten die Kinder jedoch um jeden Preis dieser Situation entkommen. Sie versuchen also ihren Frieden zu finden. In Spinaceto gibt es keine Helden oder Anti-Helden – aber die Dinge müssen sich trotzdem ändern.

ACHTUNG: AB HIER SPOILER!

Der einzige Ausweg

Wie können die Kinder ihrer existenziellen Unzufriedenheit entfliehen und Frieden finden? Sie versuchen es damit, eine Bombe zu bauen. Ihr Plan geht derweil nicht auf, da die Cousine des Bauers die explosive Maschine findet. Der Misserfolg demotiviert die Kinder derweil nicht, denn der Tod scheint der einzige Ausweg für ihr Leid zu sein. Aus diesem Grund hören sie ihrem Naturwissenschaftslehrer aufmerksam zu und entscheiden sich für Suizid mittels eines starken Pestizids. Dieser grässliche und niederschmetternde Akt zwingt die Erwachsenen, ihrer Erfolglosigkeit bewusst zu werden. Leider ist es dafür bereits zu spät!

Schlussendlich fällt die Frustration der Erwachsenen auf die Kleinsten zurück.

Der Naturwissenschaftslehrer ist eine weitere seltsame Figur. Im Grunde nimmt er keinen Anteil an der Welt, weder derer der Schüler noch derer der Erwachsenen. Er ist der einzige Erwachsene, der denkt, dass der Tod der einzige Ausweg ist und der, obwohl es verrückt erscheinen mag, versucht, seine Schüler zu retten, bevor sie die zukünftigen Erwachsenen von Spinaceto werden.

Gefangen in einer Welt dazwischen

Eine andere interessante Figur ist Vilma, die junge Frau, die bald in die Welt der Erwachsenen eintreten muss, da sie eine Tochter hat. Dennoch ist sie gefangen zwischen der Welt der Erwachsenen und jener der Kinder. Zudem ist sie wegen ihrer jungen Jahre noch emotional an ihre Mutter gebunden. Es stellt sich heraus, dass Vilma die symbolträchtigste Figur in «Favolacce» ist: Sie muss erwachsen werden, sich um ihr Baby kümmern und so riskieren, denselben Zyklus und dieselben Fehler der Eltern und Erwachsenen in Spinaceto zu wiederholen. Wird sie sich für dieses Leben entscheiden, das Leben als Kopie ihrer Mutter, oder sieht sie den Tod ebenfalls als den einzigen Ausweg?

Der Film regt zum Nachdenken an, sei es in einem positiven oder negativen Sinn.

Die Notwendigkeit der Reflexion

Was sollte man also von dieser Geschichte halten, welche die Erzählstimme aus dem berühmten Tagebuch wiedergibt? Handelt es sich wirklich um ein Tagebuch, «dessen Inspiration von einer wahren Geschichte herrührt, die wiederum von einer erfundenen Geschichte inspiriert wurde, die nicht sehr begeistert»? Ist es eine zu pessimistische Geschichte? Falls das der Fall sein sollte, wie es auch die Erzählstimme suggeriert, muss man wieder an den Anfang zurück.

Freilich bleibt stets eine Frage: Würde ein neuer Anfang das Ende der Geschichte verändern oder wäre es nur der Anfang eines neuen Kreislaufs? Auf jeden Fall, ob er gefällt oder nicht, ob er schockt, aufwühlt oder überrascht, «Favolacce» lässt die Zuschauer nicht unberührt zurück. Der Film regt zum Nachdenken an, sei es in einem positiven oder negativen Sinn. Deshalb empfehlen wir ihn wärmstens!

Das letzte Wort hat der Soundtrack

«Oh come t’inganni
Se pensi che gl’anni
Non hann’ da finire,
bisogna morire.»

«Oh, wie ihr euch täuscht
Wenn ihr denkt, dass die Jahre
Niemals zu Ende gehen,
sterben muss man.»

Für mehr über die Filme des 16. Zurich Film Festival hier lang.

Text Andrea Tarantini
Übersetzung aus dem Französischen Kevin Meier

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