Die smarte Fabrik der Zukunft – wo stehen wir und wohin geht die Reise?
«Fokus» fragte drei Experten, welche Themen rund um die smarte Fabrik und künstliche Intelligenz die nächsten Jahre bestimmen werden.
Die Idee der smarten Fabrik ist nicht neu, aber die Umsetzung bleibt eine Herausforderung. Wo stehen wir heute in der Schweiz?
Jeff Winter: Industrie 4.0, Smart Manufacturing, Advanced Manufacturing und so weiter sind in der Tat nicht neu. Doch eine umfassende Umgestaltung der Arbeitsabläufe der Fertigung – oder gar des gesamten Unternehmens – bleibt ein gewaltiges Unterfangen, das bis zu zehn Jahre dauern kann. Wir befinden uns also noch am Anfang unserer Reise zu Industrie 4.0 und Smart Factory.
Andy Fitze: Für europäische Verhältnisse sind wir recht weit: Unsere Gewerkschaften helfen, Entwicklungen zu fördern und der soziale Frieden bildet ein stabiles Fundament für Innovation. Zudem haben wir dank ETH und Co. viel Know-how darüber, wie man robotisiert und automatisiert. Doch im globalen Vergleich zeigt sich, dass die Smart-Factory-Durchdringung bei KMU gering ist.
Stefan Brupbacher: Wir hatten hierzulande keine Deindustrialisierung in den letzten 20 Jahren und sind daher noch immer eines der besten Fertigungszentren der Welt. Doch wenn es um die Umsetzung der Smart-Factory-Prinzipien geht, sind gewisse Unternehmen sehr weit, andere hingegen nicht. Hier kommt Swissmem ins Spiel: Im Bereich DIT (Digitalisierung, Innovation und Technologie) zeigen wir unseren Mitgliedern Neuheiten und Möglichkeiten auf und bieten im Bereich der Digitalisierung mit Next Industries eine Vernetzungsplattform, die Unternehmen hilft, mit der Entwicklung Schritt zu halten.
Wie verändert die digitale Transformation die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie?
Jeff Winter: Sie steigert die Wettbewerbsfähigkeit, indem sie Abläufe rationalisiert, Kosten senkt und Innovation in allen Bereichen fördert. Diese technologiegestützte Überarbeitung ermöglicht es den Unternehmen, schnell auf Marktanforderungen zu reagieren, ihre Produktqualität zu verbessern und letztlich ihre Konkurrenten in einem sich schnell entwickelnden Markt zu überflügeln.
Andy Fitze: Schweizer Unternehmen sind wettbewerbsfähig: Dank Digital Behaviour können lokale Firmen global agieren. Und unsere Hidden Champions könnten sich in ihren Nischen viele neue Optionen eröffnen – wenn sie aktiver digitalisieren würden! Denn obwohl 99 Prozent der hiesigen Mitarbeitenden in KMU tätig sind, machen diese Firmen nur 50 Prozent der Exporte aus.
Stefan Brupbacher: Die Umsetzung der Digitalisierung muss einen Mehrwert für das Unternehmen schaffen und zu einem finanziellen Benefit führen. Gelingt das, entsteht echter Wettbewerbsvorteil. Ein Paradebeispiel dafür liefert Uster Technologies: Das Unternehmen ist im Textilbereich tätig und verbindet mit moderner Sensorik alle Schritte der Garnfertigung. Wir sprechen mittlerweile davon, ob eine Firma «ge-ustert» ist oder nicht.
KI wird im Kontext der Smart Factory immer wichtiger. Wie verändert sie industrielle Prozesse?
Jeff Winter: KI ist eine allgegenwärtige Technologie, die sich wohl auf jeden Aspekt in unserem beruflichen und privaten Leben auswirken wird. Echtzeit-Analysen, vorausschauende Erkenntnisse sowie die Automatisierung von Entscheidungen sind nur drei aktuelle Vorteile für die Fertigungsbranche.
Andy Fitze: KI ist zentral: Moderne Roboter agieren nicht mehr regelbasiert, sondern können durch Beobachtung lernen. Solche AI-Agents werden zum Eintrittstor für KMU, um ihre Betriebe smart zu machen und sich für neue Chancen zu rüsten. Die Bandbreite an Verbesserungen reicht vom Energie- und Abfallwesen bis hin zur Ressourcen- und Einsatzplanungsoptimierung.
Stefan Brupbacher: Muss man mit den Begrifflichkeiten aufpassen. Viele unserer Firmen setzen schon lange auf Machine Learning. Dennoch wird KI mittelfristig aus der hiesigen Industrie nicht wegzudenken sein. Man sollte aber nicht dem Drang der Berater nach neuen Worten zu stark nachgeben, sondern das Thema dezidiert anschauen.
Viele Unternehmen haben Bedenken gegenüber KI in der Produktion. Wo sehen Sie Herausforderungen?
Jeff Winter: Zum einen in den Datensilos: Fertigungsdaten sind oft in isolierten Systemen «gefangen», was es schwierig macht, Erkenntnisse über die Produktion, die Lieferkette und die Geschäftsabläufe miteinander zu verknüpfen. Hinzu kommen veraltete Infrastrukturen – viele Fabriken sind immer noch auf jahrzehntealte Maschinen und Software angewiesen, was die digitale Transformation langsam, teuer und komplex macht. Das Nachrüsten oder Ersetzen veralteter Systeme erfordert grosse Investitionen und eine sorgfältige Ausführung.
Andy Fitze: Die technische Umsetzung ist kein Problem. Doch wer noch den Server im Keller stehen hat, muss erst in die Cloud migrieren und seine Applikationen modernisieren. Die Sicherheitsfrage hingegen hat sich erledigt, denn Sicherheit kann man einkaufen. Essenzieller ist es, dass die Geschäftsleitung versteht, warum die neuen Technologien wichtig sind und diese als Werkzeug begreift.
Stefan Brupbacher: Vor allem in der Tatsache, dass Industriebetriebe keine Mittel haben, die sie unbedarft für neue Projekte verwenden könnten. Schliesslich befinden wir uns mittlerweile im 34. Monat der Industrierezession. Da wägt man Investitionen genau ab. Diesen Betrieben helfen wir mit Next Industries dabei, Beziehung zu Partnern aufzubauen, die sie bei der KI-Thematik wirklich unterstützen können.
Welche Rolle spielt das Industrial Internet of Things (IIoT) für die Zukunft der Fertigung?
Jeff Winter: Eine enorme! IIoT ist ein Teil des Fundaments für die Zukunft der Fertigung. Es ermöglicht die Erfassung von Daten von Maschinen, Sensoren und Prozessen in Echtzeit und schafft so die nötige Transparenz für intelligentere Entscheidungen. Ohne IIoT hätten all die coolen Technologien wie KI, digitale Zwillinge und prädiktive Analysen nicht das Rohmaterial (Daten), das sie benötigen, um ihre Wirkung zu entfalten. Es ist wie beim Bau eines Wolkenkratzers: IIoT ist die solide Grundlage und das Gerüst, das alles darüber hinaus trägt.
Andy Fitze: IIot ist wesentlich, doch damit man es nutzen kann, müssen sich Standards durchsetzen. Nur dann verschwinden Sollbruchstellen. Bei den SBB hat man das verstanden: In einem Bahnwaggon findet man heute mehr IP-Adressen als in einem Büro. Man hat hier erfolgreich standardisiert. Das muss uns auch in der Fabrikation gelingen.
Stefan Brupbacher: Früher hatte man Maschinen, die einfach ihre Aufgaben verrichteten. Heute sehen wir immer mehr Fertigungszellen, die automatisiert sind. Alles wird agiler, hochwertiger und preiswerter. Dies ist nur mit IIOT möglich, weswegen dieser Ansatz zentral ist.
Welche Rahmenbedingungen braucht es, damit sich die Smart Factory noch stärker durchsetzt?
Jeff Winter: Vor allem staatliche Unterstützung – sowohl finanziell als auch in Bezug auf die Ressourcen.
Andy Fitze: Da bin ich sehr föderativ. Initiativen sollten aus der Branche sowie von Verbänden kommen. Meine Message lautet: Wir müssen an die Re-Industrialisierung der Schweiz glauben. Was vor 20 Jahren nach Indien ausgelagert wurde, könnte man dank moderner Technologie zurückholen und autonomer gestalten. Vermehrte Industrialisierung über autonome Fabriken – so lautet für mich die Zauberformel.
Stefan Brupbacher: Am wichtigsten scheint mir die Wertschätzung der Bevölkerung und der Politik für unsere Industrie: 80 Prozent unserer KMU sind Weltleader in ihren Nischen. Hierfür sind gute Exportmöglichkeiten zentral, was in der Trump-Zeit sogar noch an Relevanz gewinnt. Wer heute gegen Freihandelsabkommen ist, fällt dem Schweizer Industriestandort in den Rücken. Zudem müssen wir die Ausbildungsthematik im Auge behalten: ETH und Co. sind wichtig, doch die Berufsbildung spielt ebenfalls eine Schlüsselrolle. Und natürlich dürfen wir nicht zu stark regulieren.
Wenn Sie ein Unternehmen beraten würden, das jetzt mit der Umsetzung einer Smart Factory beginnt – was wäre Ihr wichtigster Ratschlag?
Jeff Winter: Zu viele Unternehmen stürzen sich auf Smart-Factory-Initiativen, indem sie die neueste Technologie kaufen, ohne vorher zu definieren, wie der Erfolg aussieht. Stattdessen sollten sie sich zunächst über ihre Geschäftsziele klar werden – wollen Sie Ausfallzeiten reduzieren, die Qualität verbessern, den Durchsatz steigern oder die Flexibilität erhöhen? Dann kann man festlegen, mit welchen Technologien man dieses Ziel erreichen möchte.
Andy Fitze: Geht auf YouTube und schaut euch alles an, was ihr zu diesem Thema findet. Informiert euch zudem mindestens zehn Minuten pro Tag und verschafft euch einen Einblick. Und holt als KMU ja keine grossen Beratungsfirmen!
Stefan Brupbacher: Kommt zu Next Industries, da sind auch andere Firmen, mit denen man sich austauschen kann, und lernt voneinander!
Was ist Ihr persönlicher Wunsch für die Zukunft der industriellen Fertigung?
Jeff Winter: Ich würde mir wünschen, dass sie intelligenter, anpassungsfähiger und wirklich menschenzentriert wird – dass es bei der Technologie nicht nur um Effizienz geht, sondern auch darum, Menschen zu befähigen.
Andy Fitze: Ich wünsche mir mehr Vernetzung und Clusterbildung. Der Industriesektor sollte sich zudem am Software-Bereich orientieren: Softwares werden immer schneller entwickelt und es geht heute vor allem darum, die vorhandenen Tools sinnvoll einzusetzen. Das würde der Industrie auch guttun. Diesen Wandel muss die Geschäftsleitung anstossen.
Stefan Brupbacher: Die Trump-Ära macht uns klar, dass die Schweiz als Standort geeinter auftreten muss. Die Fertigungsindustrie stellt die Kronjuwelen unserer Wirtschaft dar. Dies müssen die Politikerinnen und Politiker sowie wir als Bevölkerung wertschätzen.
Meilensteine der Industrie
1769
Die Dampfmaschine von James Watt
Das Jahr 1760 gilt als Beginn der industriellen Revolution, bei der Mechanisierung sowie die Nutzung von Dampfkraft im Vordergrund stehen. Ein wichtiger Moment markiert die Verbesserung der Effizienz von Dampfmaschinen durch James Watt. Zuvor war die Technologie in Bergwerken zur Wasserförderung sowie später in ersten Fabriken zum Einsatz gekommen. Dank Watts Optimierung (er ist nicht der Erfinder der Dampfmaschine) konnten die Anlagen standortunabhängiger genutzt werden, wodurch Fabriken nicht mehr an Flüsse gebunden waren.
1913
Das Fliessband kommt zum Einsatz
Die zweite industrielle Revolution beginnt ca. 1870 mit der zunehmenden Elektrifizierung. 1913 entwickelt Henry Ford das erste flexible Fliessband und revolutioniert damit den industriellen Produktionsprozess. Das Fliessband kommt im ersten Ford-Werk in Highland Park, Michigan, zum Einsatz und legt den Grundstein für die Serienproduktion auf der gesamten Welt.
1971
Mikroprozessoren erobern die Welt
Die Einführung des Mikroprozessors (z. B. des Intel 4004 im Jahr 1971) ermöglicht kompakte, günstige und leistungsfähige Computersteuerungen, was Automatisierungen in Fertigungsanlagen, aber auch Büroarbeit und Datenverarbeitung massiv beschleunigt. Dementsprechend wird die dritte industrielle Revolution (Industrie 3.0) oftmals mit dem Zeitalter der IT gleichgesetzt. Ab den 90er-Jahren ist zudem der Siegeszug des Internets nicht mehr aufzuhalten.
Ab 2010
Fabriken werden smart
Vernetzte, intelligente Produktionssysteme, die Daten in Echtzeit analysieren und autonom Entscheidungen treffen können, ebnen den Weg für Smart Factorys. Frühe Beispiele dafür liefern automatisierte Produktionslinien bei Industriegiganten. Doch künstliche Intelligenz (KI) sowie neue Fertigungstechnologien verschieben die intelligente Fabrik vermehrt auch in den KMU-Sektor.
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