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Industrie Innovation Interview

«Es genügt nicht, nur die Prozesse zu digitalisieren»

26.06.2020
von SMA

Die Digitalisierung verändert die Logistikbranche. Mauro Manacchini, Leiter strategische Beschaffungs-/ SCM-Projekte Coop Gruppe, erklärt, wie sie bei Coop umgesetzt wird und welche Faktoren zudem wichtig sind.

Mauro Manacchini

Mauro Manacchini

Starten wir das Interview doch in der Zukunft. Wenn es beispielsweise im August nächstes Jahr in Zürich regnet, viele Leute in den Ferien sind und am Wochenende die Street Parade stattfindet – werden diese Faktoren bald einmal zusammengeknüpft und die Liefermengen in den einzelnen Coop-Filialen entsprechend angepasst?

Diese Zukunft ist bei Coop bereits Realität! Denn unser «Sales Based Order Tool» (SBO) unterstützt uns mit ausgeklügelten Algorithmen mit der Prognoseberechnung zum «idealen» Bestellvorschlag. Dabei werden Einflussfaktoren wie Wetter und spezielle Ereignisse wie beispielsweise die Street Parade, Ferien und Baustellen berücksichtigt. Der Handel ist auch ein promotionsgetriebenes Geschäft – dafür unterstützt uns ein KI-basiertes IT-Tool, um filialspezifisch die ideale Promotionsmenge vorauszusagen.

Warum?

Der Wettbewerb um den Kunden entscheidet sich am Regal. Wenn dort das gewünschte Produkt fehlt, waren alle Bemühungen im Vorfeld umsonst. Deshalb ist es unser Ziel, dass alle Coop Kunden das gewünschte Produkt zum richtigen Zeitpunkt im Regal vorfinden. «Out-of-Stock-Situationen» wollen wir soweit wie möglich vermeiden, gleichzeitig aber auch das Risiko von Überbeständen im Frische- und Ultrafrische-Bereich, damit keine Abschriften für nicht verkaufte Ware nötig sind – ganz im Sinne der Food-Waste-Reduktion.

Dann sind wir ja bereits bei den Stichworten «Total digital» und «Künstliche Intelligenz». Ist gerade die Künstliche Intelligenz bald in der Lage, Kausalzusammenhänge zwischen Konsumverhalten und den oben erwähnten Faktoren herzustellen?

Unsere Kunden (und nicht nur die «technologieaffinen») gestalten zudem das Einkaufserlebnis neu und anders als bisher und das alles zu einem Zeitpunkt, in dem die Lieferketten anspruchsvoller und gleichzeitig immer dynamischer werden. Ein Beispiel zur Veranschaulichung: Convenience Produkte wie Sandwiches, Fertigsalate, Frischsuppen, Sushi, Drinks to go etc. sind alles Produkte mit einer sehr kurzen Mindesthaltbarkeit. Gleichzeitig ist der Verkauf dieser Produkte nicht nur vom Wetter und der gefühlten Aussentemperatur abhängig – die Kunden entscheiden meist spontan im Laden, welches Produkt sie kaufen. Wie können wir denn nun – bleiben wir beim Beispiel Sandwiches – eine möglichst zuverlässige Prognose und damit Bestellvorschläge entwickeln, wenn der Konsument allein bei den Sandwiches zwischen mehreren Sorten entscheiden kann und das in über 1000 Filialen schweizweit?

Was meinen Sie damit?

Die klassische «händische» Disposition basierend auf der Erfahrung des jeweiligen Verkaufsmitarbeitenden reicht da nicht. Hier unterstützt uns das KI-basierte «Sales Based Order» Tool (SBO) mit einer professionellen, innovativen Datenanalyse. Historische Daten sowie viele weitere Faktoren und komplexe Zusammenhänge werden durch das SBO-Tool in die Analyse zur Prognose des Bestellvorschlags einbezogen. Damit sind wir in der Lage, pro Verkaufsstelle individuell pro Tag die möglichen Kaufpräferenzen unserer «Sandwich-Kunden» vorherzusagen.

Und innerhalb welchem Zeithorizont werden Waren mit autonomen Fahrzeugen und/oder Drohnen transportiert?

Im Logistikbereich ist das durch die Digitalisierung mögliche Einsatzpotenzial erheblich. Autonomes Fahren ermöglicht es zudem, bisherige Strukturen und Prozesse neu zu denken und zu gestalten. Im Strassen- und im Schienenverkehr lassen sich mittelfristig automatisch gesteuerte Fahrzeuge einsetzen.

Langfristig wird davon ausgegangen, dass Assistenzsysteme die Fahrzeuge auf Autobahnen steuern und dabei die Fahrer bei vielerlei Fahrsituationen entlasten. Innerhalb der Logistik ergeben sich durch diese technische Entwicklung neue Chancen. Innerbetriebliche Werkverkehre können so automatisiert und vollkommen neu konzipiert werden. Bei Coop verfolgen wir diese Entwicklungen zudem sehr eng.

Was unternimmt Coop für die Entlastung des strapazierten Strassenverkehrs?

Für eine wirksame Entlastung des strapazierten Strassenverkehrs arbeitet Coop zudem zusammen mit namhaften Partnern proaktiv am Projekt «Cargo Sous Terrain» mit. Das Ziel dabei ist, den Warenverkehr der sogenannten Wirtschafts-Banane entlang von St. Gallen bis nach Genf unterirdisch durchzuführen. Das vom Bundesrat unterstütze Projekt soll ab 2031 so die grossen Zentren der Schweiz verbinden.

In allen Umfragen sehen die meisten Unternehmen nur Vorteile durch die Digitalisierung. Schnellere und flexiblere Lieferung wird vor allem erwähnt und auch Kosteneinsparungen. Sind diese Erwartungen berechtigt?

Ja und Nein. Ja, weil Digitalisierung tatsächlich einen Mehrwert bringen kann. Nein, weil es meiner Meinung nach nicht genügt, einfach nur die Prozesse zu digitalisieren. Denn unter dem Einfluss von Innovationen in den Bereichen Künstliche Intelligenz (KI) und Maschinelles Lernen vollziehen sich aktuell signifikante Veränderungen in vielen unterschiedlichen Geschäftsfeldern. Um die vielen Daten jedoch wirklich zu erschliessen und KI zu nutzen, müssen die diversen KI-Geschäftsfelder sinnvoll zu einer integrierten KI-Strategie verknüpft werden.

Warum?

Seit geraumer Zeit beeinflusst die Digitalisierung zudem nicht nur, was wir kaufen, sondern auch wann und wo wir es tun. Denn das reine Verkaufen genügt nicht mehr – für den Kunden muss ein konkreter Mehrwert erkennbar sein. Wie beispielsweise im Onlinehandel: Hier können Kundinnen und Kunden Lebensmittel bequem über Coop@home bestellen. Und nicht nur die üblichen Food- und Non-Food-Produkte – sondern auch beispielsweise einen Blumenstrauss, ein Stück Fleisch, einen frischen Fisch oder eine Auswahl von Lieblingskäse zusammen mit einem frischen, knusprigen Brot.

Wenn man auf die Nachteile der digitalisierten Logistik zu sprechen kommt, werden als erstes die Sicherheitsbedenken erwähnt – und die hohen Kosten für den Datenschutz. Sind diese Bedenken denn berechtigt? Ist es möglich, dass Hacker eine ganze Logistikkette lahmlegen könnten?

Coop befasst sich im Rahmen des eigenen Risk-Managements selbstverständlich zudem mit Cyber-Bedrohungs-Szenarien mit dem Ziel, auch jederzeit die Sicherheit physischer Transportketten und der Datenflüsse zu gewährleisten. Dabei stehen nicht nur technische Lösungen im Vordergrund wie zum Beispiel entsprechende Firewalls. Sich beim Schutz nur auf technologische Mittel zu verlassen reicht nicht aus – obwohl diese ein wichtiger Teilaspekt ist. Neben dem technischen Schutz ist es genauso wichtig, das eigene Personal in regelmässigen Abständen zu sensibilisieren und laufend zu schulen. Das alles mit dem Ziel, in der Organisation ein nachhaltiges Sicherheitsbewusstsein zu schaffen und möglichst widerstandsfähige Prozesse zu gestalten

Denn so können wir dem Risiko der Cyberkriminalität optimal Rechnung tragen und die Angriffspunkte für illegale Zugriffe bei den unzähligen Schnittstellen innerhalb der Transportketten bestmöglich minimieren sowie in unserem Risk-Management berücksichtigen.

Welche Auswirkungen werden die Digitalisierung auf die Anzahl der Mitarbeitenden und deren Ausbildung in den kommenden zehn Jahren haben?

«Digitale Disruption» wird als Schreckgespenst in vielen Medienberichten thematisiert. Ist die Digitalisierung ein Jobmotor oder ein Jobkiller? Darauf gibt es keine Schwarz-Weiss-Antwort. Denn die Digitalisierung verspricht mehr Effizienz und Kosteneinsparungen – bedeutet aber gleichzeitig auch die Chance für neue Aufgaben.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Hier ein Beispiel aus der Praxis, um die positiven Aspekte der Digitalisierung zu verdeutlichen. Kommen wir zurück auf das Sales Based Order System (SBO). In der Vergangenheit musste die für den Rayon verantwortliche Person im Verkaufsladen täglich manuell den Bestand im Regal erfassen und aufgrund der persönlichen Erfahrung eine Prognose für die nächsten Tage erstellen. Darauf basierend erstellte sie anschliessend die Bestellungen im PC und übermittelte diese an die Zentrale. Bei über 1000 Verkaufsstellen kann man sich vorstellen, mit welcher Zuverlässigkeit die Warenverfügbarkeit im Regal in der Vergangenheit sicherzustellen war.

Was heisst das konkret?

Die digitale Lösung: Das heutige SBO-System kennt den aktuellen physischen Bestand der jeweiligen Filiale. Gestützt auf Vergangenheitsdaten und weiteren Einflussfaktoren wie unter anderem dem Wetter, schlägt das System dann die ideale Bestellmenge vor. Mit wenigen Klicks bestätigt der Mitarbeitende die vorgeschlagene Bestellmenge. Neben zuverlässigeren Bestelldaten und damit wesentlich gesteigerte Warenverfügbarkeit für unsere Kunden hat der Mitarbeitende durch die automatisierten Prozesse mehr Zeit, sich der Kundenberatung/-betreuung zu widmen. Im gleichen Zusammenhang mit dem SBO-System wurden in den letzten Jahren neue Arbeitsplätze für Data Scientist geschaffen, welche die vielen Daten analysieren, miteinander verknüpfen und mittels Algorithmen das SBO-System laufend optimieren.

Was braucht es für die erfolgreiche Umsetzung einer digitalen Transformation?

Meiner Meinung nach braucht es vier
wesentliche Faktoren, um eine digitale Transformation erfolgreich umzusetzen.

  1. Firmen müssen ihr «Silodenken» überwinden. Eine digitalisierungsfreundliche Unternehmenskultur und holistisches, bereichsübergreifendes Denken sind eine Prämisse für die digitale Transformation
  2. Die Einführung neuer Methoden und Managementansätze bei der digitalen Transformation ist Chefsache – ein Top-Down-Ansatz ist wichtig, um die notwendigen Rahmenbedingungen zu definieren.
  3. Digitalisierung erfordert eine dezidierte Sicherheitsstrategie.
  4. «Orchestrierung» des Change Managements. Ich behaupte: Wenn die Digitalisierung das Unternehmen auf eine höhere Stufe der Wertschöpfung bringen soll, ist Technik die notwendige Voraussetzung. Nur Unternehmen, die gelernt haben, ihr Geschäftsmodell, ihre Strukturen und ihre Prozesse systematisch und nachhaltig im Einklang mit der Digitalisierung zu verändern, sind für die Herausforderungen der Zukunft gerüstet. Dabei muss man sich mit einem Thema ohne Tabus konsequent auseinandersetzen. Das «magische Thema» heisst «Unternehmenskultur».

Welche Vorteile bringt eine stark ausgeprägte digitale Kultur mit sich?

Unternehmen mit einer stark ausgeprägten digitalen Kultur sind nachweislich erfolgreicher und haben zufriedenere Mitarbeitende. Denn die digitale Strategie und die digitale Kultur müssen zwingend zusammen gedacht und umgesetzt werden. Die aktive Gestaltung des digitalen Kulturwandels muss durch die Unternehmensleitung als Role-Model vorgelebt werden. Dabei ist es wichtig, den Fokus stärker auf den Menschen als auf die Technologie zu setzen. Und gerade das, lebt Coop jeden Tag vor, denn hier stehen die Kundinnen und Kunden sowie die Mitarbeitenden in allen Überlegungen im Zentrum. Die Schaffung einer Kultur des Vertrauens, eine ausgewogene Fehlerkultur und die frühestmögliche Einbindung der Betroffenen in die Transformation sind ebenso wichtig wie die Bereitschaft, Freiraum für Eigeninitiativen zu gewähren.

Text SMA  Foto zvg 

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