Interview von SMA

Thomas Gächter: «Kritisches Denken ist zentral – ganz besonders im digitalen Zeitalter»

Thomas Gächter, Dekan der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Uni ZH, über die Zukunft des Legal-Sektors.

Das Berufsfeld von Juristinnen und Juristen wird von der Digitalisierung erfasst und grundlegend verändert. Dies hat nicht nur Auswirkungen auf den Arbeitsalltag der Rechtsfachkräfte von heute und morgen – sondern stellt auch deren Ausbildung vor neue Chancen und Herausforderungen. «Fokus Rechtsguide» wollte mehr erfahren.

Dr. iur. Thomas Gächter, Dekan der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Uni ZH

Dr. iur. Thomas Gächter
Dekan der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Uni ZH

Thomas Gächter, die Digitalisierung verändert derzeit sämtliche Branchen, Industrien und Organisationen. Inwiefern macht sich dieser Megatrend im juristischen Handlungsfeld bemerkbar?

Auch in unserem Segment zeichnet sich der Einfluss der Digitalisierung immer stärker ab, daran besteht kein Zweifel. Als juristische Fachpersonen üben wir einen Beruf aus, der zu grossen Teilen aus dem Lesen und Verfassen von Texten sowie dem Zusammentragen von Wissen besteht. Für diese Aufgaben wird schon heute die KI-Anwendung (künstliche Intelligenz) ChatGPT als wegweisende neue Lösung angesehen.

Zu Recht?

Absolut – zumindest teilweise. Denn gewisse Schreibaufgaben lassen sich durchaus mithilfe künstlicher Intelligenz effektiver abwickeln. Dies könnte den juristischen Alltag künftig massgeblich erleichtern. Doch es ist meines Erachtens naiv anzunehmen, dass eine Anwendung, nur weil sie kohärente Sätze formulieren kann, auch Sinn und Absicht vermittelt. Dies dürfte auch in Zukunft den Menschen vorbehalten bleiben. Ich bin daher der Ansicht, dass die zentralen Aufgaben der Anwältinnen und Anwälte von morgen noch viel mehr darin bestehen werden, Dinge zu hinterfragen und zu analysieren. Wir haben es also mit einer potenziell positiven Entwicklung zu tun, da die neuen KI-Tools den juristischen Fachpersonen mehr Ressourcen erschliessen, die sie für ihre Kernaufgaben verwenden können.

Der Beruf der Anwältin oder des Anwalts wird dementsprechend nicht verschwinden?

Keineswegs, da darf man unbesorgt sein. Historisch gesehen flammt immer dann, wenn sich ein grundlegender technologischer Paradigmenwechsel vollzieht, die Angst vor Veränderung auf. Insbesondere die Furcht, dass Berufsbilder verschwinden könnten, ist in solchen Zeiten akut. Doch das Berufsbild der Architektin und des Architekten ist nicht verschwunden, als sich das digitale Zeichnen mit CAD etablierte. Im Gegenteil: Neue Technologien und Werkzeuge haben in vielen Berufen neue Potenziale geschaffen. Das Gleiche erwarte ich auch für das Recht. Zudem dürfen wir eines nicht vergessen: Das Bearbeiten von juristischen Texten ist äusserst anspruchsvoll. Man darf sich daher niemals darauf verlassen, dass ein Algorithmus eine komplexe Sachlage korrekt wiedergibt. Der Mensch wird, gerade in unserer Branche, immer die kontrollierende Instanz bleiben müssen. Dieser Herausforderung sowie der sich wandelnden Rolle von Rechtsexpertinnen und -experten tragen wir auch im Studium vermehrt Rechnung.

Sprechen wir darüber: Wie verändert die Digitalisierung des juristischen Sektors die Ausbildung an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich?

Wir haben wichtige Weichen gestellt, um unseren Studierenden für die Themen und Herausforderungen von morgen das notwendige Rüstzeug bereitstellen zu können. Was mir als Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Uni Zürich enorm wichtig ist: Wir müssen den künftigen juristischen Fachpersonen das Prinzip des kritischen Hinterfragens näherbringen. Dies ist einerseits essenziell für ihre tägliche Arbeit, andererseits wird es aber auch immer entscheidender, um im Zeitalter der Digitalisierung fundierte Entscheidungen zu treffen. Die Berufsleute von morgen werden über ganz neue Tools verfügen, doch gerade aus diesem Grund muss ihr juristisches Skillset noch stärker geschärft sein. Den qualifizierten Umgang mit KI und Co. müssen wir als Bildungsinstitution ebenso vermitteln wie die juristischen Grundlagen, auf die wir uns ebenfalls klar fokussieren. Das kritische Hinterfragen von Dingen steht in beiden Kontexten im Vordergrund.

Der Generationenwechsel sorgt für einen veritablen Fachkräftemangel im juristischen Feld, die Nachfrage nach Expertinnen und Experten ist also klar ausgewiesen. Dr. iur. Thomas Gächter

Der Siegeszug von KI-Anwendungen und weiteren digitalen Werkzeugen wird auch die juristischen Fragestellungen verändern, mit denen Anwältinnen und Anwälte zu tun haben. Und genau aus diesem Grund haben wir an unserer Fakultät einen Schwerpunkt auf Forschung und Lehre im Zusammenhang mit der Digitalisierung gelegt, der von hervorragenden und hoch qualifizierten Leuten laufend vertieft wird. Verschiedene Kolleginnen und Kollegen setzen sich mit essenziellen Themen wie KI und deren Regulierung auseinander und ermöglichen es unseren Studierenden, praxisrelevantes Wissen zu erwerben und sich mit realen Fragestellungen auseinanderzusetzen. Ferner haben wir das «Center for Legal Data Sciences» eröffnet, an dem die empirische Datenforschung im Fokus steht. Die Studierenden zeigen daran enormes Interesse. Darüber hinaus konnten wir jüngst einen weiteren Lehrstuhl für das Feld «Legal Tech» besetzen, der die Fragestellungen methodisch differenziert angehen kann. Hierbei kommt uns die Tatsache zugute, dass die Rechtswissenschaftliche Fakultät in Zürich gross genug ist, um Lehrstühle zu solchen Spezialthemen schaffen zu können, ohne dass dadurch die Qualität der juristischen Kernausbildung leidet. Dies versetzt uns in die komfortable Lage, dass wir schon heute die Studierenden und jungen Forschenden mit Fähigkeiten ausstatten können, die sie nicht nur heute, sondern auch morgen und übermorgen benötigen.

Die dritte Bologna-Studienreform wurde kürzlich vollzogen. Welche Veränderung bringt diese mit sich?

In den mittlerweile rund 20 Jahren seit der Einführung des Bologna-Modells konnten wir zahlreiche Erfahrungen sammeln und diese kontinuierlich analysieren. Einen der Negativpunkte, die wir festgestellt haben, versuchen wir im Rahmen der dritten Reform zu adressieren: Den Missstand nämlich, dass die Studierenden durch die zunehmende Segmentierung des Studiums für einzelne Einheiten lernen – nur um dann nach dem erfolgreichen Bestehen eines Moduls das Erlernte rasch wieder zu vergessen. Durch das Aufbrechen des Studiums in solche Teilelemente ging der holistische Ansatz verloren und den jungen Leuten wurde es erschwert, ihre Ausbildung aus einem umfassenderen Blickwinkel zu sehen. Dies wollen wir ändern. Das bedeutet keineswegs, dass wir uns vom Bologna-Prinzip verabschiedet hätten, doch wir haben sichergestellt, dass die juristischen Kernfächer bis zum Erreichen des Masters ein essenzielles Gewicht haben und laufend weiterentwickelt werden. Das erforderliche juristische Wissen soll beim Berufseinstieg noch frisch und aktuell sein und nicht bereits Jahre zurückliegen. Dazu gehört für uns auch, dass unsere Studierenden viel mehr selbst schreiben müssen als zuvor, um ihre Schreib- und Textverständniskompetenzen zu schärfen und zu erhalten. Das setzt natürlich gerade im Zeitalter von ChatGPT und Co. auch eine erhöhte Prüfungskompetenz von unserer Seite voraus, namentlich bei schriftlichen Hausarbeiten.

Wir haben bisher vor allem über das Berufsfeld von Juristinnen und Juristen sowie über die Studieninhalte gesprochen. Wie aber wird sich der Studienbetrieb an sich verändern?

Die Art und Weise, wie gelernt wird, wandelt sich sicherlich auch, obschon natürlich die Eckpfeiler die gleichen bleiben. Ein Thema, das uns allerdings Sorgen bereitet und von dem alle grossen Universitäten betroffen sind: Wir stellen fest, dass rund ein Drittel der Studierenden unter extremen Stress leidet und sich während ihrer Zeit an einer Fakultät enormen Druck macht. Hierauf müssen wir ein Auge haben und Lösungen anbieten.

Was sagen Sie den Studierenden, wenn es um deren spätere Karriereaussichten geht?

Die Zahlen sprechen eine klare Sprache: Der Anteil an arbeitslosen Juristinnen und Juristen beträgt nahezu null Prozent. Und die Perspektiven sind für junge Leute exzellent: Der Generationenwechsel sorgt für einen veritablen Fachkräftemangel im juristischen Feld, die Nachfrage nach Expertinnen und Experten ist also klar ausgewiesen. Gleichzeitig handelt es sich bei diesem Beruf um eine ebenso interessante wie auch lukrative Tätigkeit, die darüber hinaus auch sehr sinnstiftend ist: Man kann sich entsprechend den eigenen Vorlieben etwa für rechtsstaatliche Themen oder auch gesellschaftspolitische Anliegen wie Nachhaltigkeit oder soziale Gerechtigkeit einsetzen und sich genau dort engagieren, wo man Bedarf und Sinn erkennt. Das ist ein sehr schöner Aspekt unseres Berufes. Und obschon es sich beim Jurastudium um einen «Massenstudiengang» handelt, ist die fachliche Ausdifferenzierung am Ende so gross, dass dennoch keine Übersättigung entsteht.

Was raten Sie demnach jungen Menschen, die sich für den juristischen Sektor interessieren?

Sie sollen und können sich ein eigenes Bild machen. Etwa, indem sie einfach mal an einer Vorlesung teilnehmen und in die Unterlagen reinschauen. Zudem haben wir für fortgeschrittene Interessierte unseren Weiterbildungsbereich enorm ausgebaut, die Palette an spannenden Angeboten ist mittlerweile sehr breit.

Über die Rechtswissenschaftliche Fakultät

Als grösste Rechtsfakultät der Schweiz und eine der grössten Rechtsfakultäten im deutschsprachigen Raum deckt die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Zürich das gesamte fachliche Spektrum von Rechtsgebieten ab. Auf dieser fachlichen Tiefe und Breite baut die fundierte Ausbildung der Studierenden im Bachelor, Master und im Doktorat auf. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Professorinnen und Professoren, Titularprofessorinnen und -professoren, Privatdozierenden, aber auch des akademischen Mittelbaus und der Forschungszentren prägen den Inhalt der Lehrveranstaltungen und ermöglichen bereits während des Studiums vertiefte Einblicke in aktuelle Forschungen und Entwicklungen.

Weitere Informationen unter
www.ius.uzh.ch

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10.06.2023
von SMA
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