
Bettina Husemann
Projektleiterin Ernährung, Gesundheitsförderung Schweiz
Ob als Kind am Familientisch, als Jugendliche:r im Schulstress oder als Senior:in im Altersheim: Essen bedeutet viel mehr als nur Energiezufuhr. Es steht für Erinnerung, Trost, Zugehörigkeit, Freude und Genuss. Die Ernährungspsychologie untersucht unter anderem, wie Erfahrungen, Emotionen und soziale Kontexte unser Essverhalten prägen – oft unbewusst, aber mit grosser Wirkung. Dieses Wissen eröffnet neue Ansätze für die Gesundheitsförderung in jeder Lebensphase.
Eine Freundin hat mir kürzlich erzählt, wie sehr sie der Duft von frischen Kartoffelrösti an ihre Kindheit erinnert. Jeden Freitag bereitete ihre Grossmutter ihre legendären Rösti zu. Und noch heute gibt ihr dieser Duft ein Gefühl von Geborgenheit.
Solche Erfahrungen prägen unser Essverhalten oft stärker, als uns bewusst ist. Die Ernährungspsychologie hilft uns zu verstehen, warum das so ist – und wie wir dieses Wissen für die Gesundheitsförderung in allen Lebensphasen nutzen können.
Kindheit: gesunde Gewohnheiten wachsen lassen
Bereits in den ersten Lebensjahren sammeln Kinder Erfahrungen rund ums Essen. Diese können ihr späteres Essverhalten mitprägen. Besonders wichtig ist dabei das Vorbild der Bezugspersonen. Wie diese mit Essen umgehen, beeinflusst Kinder nachhaltig. Rituale, gemeinsame Mahlzeiten, das Kennenlernen von neuen Lebensmitteln, das spielerische Erleben von Geschmack und Struktur sowie die Freude am Ausprobieren spielen dabei eine bedeutende Rolle. Dabei lernen Kinder nicht nur, was gesund ist, sondern auch, wie sich Hunger und Sättigung anfühlen und wie sich die Ernährung auf das eigene Wohlbefinden auswirkt.
Essen ist nicht nur «Pflichtaufgabe» oder Versorgung mit Nährstoffen. In Kindertagesstätten, Schulen und Familien kann eine Esskultur entstehen, die gesunde Gewohnheiten nicht aufzwingt, sondern wachsen lässt. Der Genuss steht dabei im Vordergrund – denn nur was Freude macht, bleibt langfristig im Alltag verankert.
Jugend: zwischen Gruppendruck und Selbstfindung
Die Jugend ist eine herausfordernde Phase: Identitätssuche, Körperbild, der Einfluss sozialer Medien. Essen kann dabei zum Ausdruck von Selbstbestimmung oder Anpassung werden. Wichtig ist, Jugendliche ernst zu nehmen und positive Vorbilder zu stärken.
In dieser Lebensphase stehen – was das Ernährungsverhalten betrifft – emotionale Bedürfnisse, soziale Zugehörigkeit und das Streben nach Autonomie besonders im Vordergrund. Ein Snack kann Trost spenden oder Zugehörigkeit signalisieren.
Wer Jugendliche begleiten will, muss ihre Lebensrealität verstehen. Sie stehen heute unter hohem Leistungsdruck, sind stark durch soziale Normen geprägt und orientieren sich an schnell wechselnden Trends, insbesondere in den sozialen Medien. Das hat auch Auswirkungen auf ihr Essverhalten – und zeigt, wie wichtig es ist, ein positives Körperbild, Selbstvertrauen und psychosoziale Ressourcen zu stärken.
Partizipative Ansätze, also die aktive Einbindung Jugendlicher in gesundheitsfördernde Massnahmen, können ihre Motivation fördern und die Wirksamkeit der Angebote erhöhen. Schulen und Ausbildungsbetriebe spielen eine zentrale Rolle dabei, gemeinsam mit Jugendlichen gesunde Routinen zu entwickeln und diese im Alltag zu verankern.
Erwachsenenalter: zwischen Autopilot und Achtsamkeit
Stress, Zeitdruck, Familie, Beruf – viele Erwachsene essen nebenbei oder aus emotionalen Gründen. Das Wissen ist vorhanden, doch die Routinen überwiegen. Hier setzt die Gesundheitsförderung an: mit Programmen, die etwa Achtsamkeit und Struktur fördern. Auch das soziale Umfeld spielt eine Rolle für gesundes und genussvolles Essen.
Oft geht es im Alltag nicht darum, was uns guttut, sondern was gerade funktioniert. Die Ernährungspsychologie hilft dabei, solche Automatismen zu erkennen. Warum greifen wir zur Schokolade, wenn wir unter Stress stehen? Was bedeutet ein gemeinsames Abendessen für unser Wohlbefinden? Gesundheitsförderung bedeutet in diesem Kontext auch, Raum für Genuss und Bewusstsein zu schaffen. Dies kann in der Betriebskantine, durch Impulse im Hausarztgespräch oder in Form digitaler Angebote geschehen. Auch niedrigschwellige Massnahmen – wie der Zugang zu gesunden Snacks oder inspirierenden Rezepten für den Alltag – können Veränderungen bewirken.
Alter: Genusspotenziale neu entdecken
Ist es zu spät für Veränderung? Keineswegs! Auch im hohen Alter können Essgewohnheiten positiv beeinflusst werden. Geschmacksempfinden, Appetit und Mobilität mögen sich verändern, trotzdem kann auch im hohen Alter das Essverhalten positiv verändert werden.
Ernährung wird im Alter häufig unterschätzt. Dabei bedeutet sie mehr als nur die Deckung des Bedarfs: Sie steht für soziale Teilhabe, für Lebensqualität und für das Erleben von Selbstbestimmung. Eine warme Suppe im vertrauten Umfeld kann Lebensqualität bedeuten. Wenn Einsamkeit oder Einschränkungen zunehmen, sind kreative, alltagsnahe Lösungen gefragt, die auch kulturelle und biografische Prägungen respektieren.
Im höheren Alter lohnt sich ein genauer Blick auf Gewohnheiten – denn sie prägen den Alltag oft stärker als Wissen oder Absicht. Gesundheitsförderung kann hier ansetzen, ohne zu überfordern: durch kleine Impulse, die vertraute Routinen aufgreifen oder neu gestalten helfen. Mahlzeiten in Gemeinschaft, mobile Ernährungsberatung oder gezielte Unterstützung durch betreuende Angehörige sind nur einige Möglichkeiten, wie Veränderung gelingen kann.
Fazit: eine lebensphasenübergreifende Perspektive für die Praxis
Die Ernährungspsychologie zeigt: Um Menschen in ihren Essgewohnheiten zu verstehen, müssen Gefühle, Bindung, Biografie und Kontext berücksichtigt werden. In allen Lebensphasen. Die Gesundheitsförderung gewinnt, wenn sie dieses Wissen systematisch nutzt – sei es in der Schule, im Betrieb, zu Hause oder im Pflegeheim.
Essverhalten ist mehr als Nährstoffzufuhr. Es wird geprägt von Emotionen, Lebensgeschichte und dem sozialen Umfeld. Wenn wir dieses Wissen konsequent in die Praxis umsetzen, können wir nicht nur Krankheiten vorbeugen, sondern auch Autonomie, Lebensqualität und Freude fördern. Die Ernährungspsychologie bietet hierfür eine wertvolle Grundlage und ist eine Inspiration für eine Gesundheitsförderung, die die gesamte Lebenswirklichkeit des Menschen berücksichtigt.
Bon appétit!
Text Bettina Husemann, Projektleiterin Ernährung, Gesundheitsförderung Schweiz
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