
Prof. Knut Ringat
Geschäftsführer des Rhein-Main-Verkehrsverbunds, Initiator des Deutschen Mobilitätskongresses und des Innovationspreises der deutschen Mobilitätswirtschaft
Als Friedrich List 1833 zwischen Dresden und Leipzig die erste Fernbahnstrecke in Deutschland initiierte, war das mehr als ein technisches Meisterstück. Es war der Beginn eines Mobilitätswandels, der das Land wirtschaftlich wie gesellschaftlich veränderte. List war ein Visionär, der früh die Bedeutung eines deutschlandweiten Eisenbahnsystems erkannte. Doch er wusste auch: Allein ist eine solche Vision nicht zu verwirklichen. Mit einer Koalition gestaltungswilliger Unternehmer konnte List nicht nur seine Idee in die Tat umsetzen, sondern er schuf eine Eisenbahnstrecke, die auch fast 200 Jahre später noch zu den bedeutendsten Verbindungen in Ostdeutschland gehört.
Die Herausforderungen der Gegenwart verlangen auch von uns Mut und Pioniergeist, denn der Veränderungsdruck für die Mobilitätsbranche wächst stetig. Der Verkehrssektor war noch nie weiter davon entfernt, seine Klimaziele zu erreichen und es drohen Deutschland deshalb Strafzahlungen in Milliardenhöhe. Gleichzeitig fahren andere Länder bei der Antriebswende davon, während knappe Kassen und Personaldecken in Deutschland die Verkehrswende ins Stocken bringen. Zögern und mit dem Finger auf andere zu zeigen, löst jedoch keines dieser Probleme. Im Gegenteil: Wer wirklich den Eisenbahnboom des 19. Jahrhunderts als Inspiration für ein neues goldenes Mobilitätszeitalter nehmen will, muss sich lossagen vom Kleinklein der Zuständigkeiten und gemeinsam mit allen weiteren Playern das Verkehrssystem in seiner Gesamtheit in den Blick nehmen. Denn – und das ist die gute Nachricht – wir haben die Expertise, die Technik und in so manchen großen Fragen bereits heute die richtigen politischen Voraussetzungen.
Nehmen wir das autonome Fahren: Deutschland hat 2021 als erstes Land weltweit die gesetzlichen Rahmenbedingungen geschaffen, dass voll automatisierte Level-4-Fahrzeuge nicht nur getestet, sondern ganz normal im Regelbetrieb im öffentlichen Straßenverkehr unterwegs sein dürfen. Die neue Bundesregierung geht noch weiter und hat sich vorgenommen, Deutschland zu einem Leitmarkt für autonomes Fahren zu machen. Insbesondere im öffentlichen Nahverkehr könnten autonome Fahrzeuge zum Gamechanger werden: In Zeiten des Fachkräftemangels ist die Technologie Voraussetzung dafür, dass auch entlegene ländliche Räume in Rahmen von On-Demand-Angeboten zu vertretbaren Kosten gut an den Nahverkehr angebunden werden.
Dass die Nachfrage da ist, zeigen zahlreiche On-Demand-Angebote in der ganzen Republik. So hat beispielsweise der Rhein-Main-Verkehrsverbund mit zehn lokalen Partnern ein umfassendes On-Demand-Netzwerk in Kommunen und Landkreisen im Rhein-Main-Gebiet und darüber hinaus geschaffen. Beflügelt von dem Erfolg geht der RMV in Darmstadt und im Kreis Offenbach noch einen Schritt weiter und erprobt zusammen mit der Deutschen Bahn und weiteren Partnern im Projekt Kira, wie autonome Fahrzeuge die Effizienz weiter steigern. Bis 2030 könnte autonomes Fahren – wenn noch offene technische und betriebliche Fragen geklärt sind – in bestimmten Einsatzbereichen wie dem ländlichen Raum, dem Campusverkehr oder als Zubringer im ÖPNV tatsächlich in den Regelbetrieb übergehen. Voraussetzung dafür sind aber nicht nur neue Betriebsmodelle, Investitionen in Leitstellen und eine starke digitale Infrastruktur im ÖPNV – ebenso wichtig ist eine enge Zusammenarbeit zwischen dem öffentlichen Verkehr und der Automobilwirtschaft, damit die Anwendungsfälle im öffentlichen Verkehr bei der Fahrzeugentwicklung mitbedacht werden.
Ein weiteres Feld, wo Mobilitätsträger nur voneinander lernen können, ist die Antriebswende. Im April 2025 lag der Anteil rein elektrischer Pkw-Neuzulassungen laut Kraftfahrtbundesamt bei 18,8 Prozent. Im Busverkehr und bei Lieferfahrzeugen steigt das Interesse, doch vielerorts fehlen Ladeinfrastruktur, Finanzierung und klare Standards. Auch beim Schwerlastverkehr und in der Schifffahrt steckt die Elektrifizierung noch in den Anfängen. Dabei zeigen Beispiele wie Scandlines, dass Großprojekte möglich sind: Auf der Vogelfluglinie zwischen Deutschland und Dänemark betreibt die Reederei zwei E-Fähren. An Bord sind leistungsstarke Batterien mit einer Kapazität von mehreren Megawattstunden verbaut – genug Energie für eine komplette Überfahrt. Die Hochleistungsladeinfrastruktur in den Häfen sorgt dafür, dass die Schiffe in nur zwölf Minuten zu 80 Prozent aufgeladen werden. Ein preisgekröntes Projekt, das nur möglich war, weil Scandlines eng mit weiteren Partnern, wie zum Beispiel dem Energieversorger, zusammenarbeitete. Genau diese enge sektorübergreifende Zusammenarbeit brauchen wir auch, wenn es an Land mit der Antriebswende vorangehen soll. Fahrzeughersteller, Energieversorger, Verkehrsbetriebe und Kommunen müssen ihre Planungen aufeinander abstimmen. Wenn beispielsweise Schnellladehubs nicht nur für Pkw, sondern auch für Busse und Lieferfahrzeuge ausgelegt werden, spart das Platz, Zeit und Kosten. Gehen wir aufeinander zu und stimmen die Rahmenbedingungen bei Förderprogrammen, Wartungskapazitäten und Energieversorgung, könnten bis 2030 E-Autos die Mehrzahl der Neuzulassungen stellen und bis 2035 die meisten Busflotten im ÖPNV elektrifiziert sein.
Diese beiden Beispiele zeigen: Wir haben das Wissen, wir haben die Technik – aber wir brauchen noch mehr Zusammenspiel. Mehr Mut zur Koordination, weniger Kirchturmdenken. Genau deshalb ist es unabdingbar, dass wir über den Tellerrand schauen und uns auf Veranstaltungen wie dem Deutschen Mobilitätskongress über Verkehrsträgergrenzen hinweg austauschen: branchenverbindend, visionär und zielgerichtet.
Text Prof. Knut Ringat, Geschäftsführer des Rhein-Main-Verkehrsverbunds, Initiator des Deutschen Mobilitätskongresses und des Innovationspreises der deutschen Mobilitätswirtschaft
Schreibe einen Kommentar