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Editorial Familie

Was Familien heute wirklich brauchen

04.10.2025
von SMA
Eva-Maria Kaufmann Rochereau, Direktorin von Pro Familia Schweiz

Eva-Maria Kaufmann Rochereau
Direktorin von Pro Familia Schweiz

Wenn ich mit Eltern spreche, erzählen sie oft von dem täglichen Spagat, den sie leisten: zwischen Beruf und Betreuung, eigenen Bedürfnissen und den Erwartungen von aussen. Zwischen dem Wunsch, alles richtig zu machen, und der Realität, dass die Kraft manchmal nicht reicht.

Doch diese Gespräche beginnen selten mit Klagen. Vielmehr erzählen Eltern von Liebe, vom verschlafenen Kind, das morgens in der Tür steht und Nähe sucht, von Partnerinnen und Partnern, Grosseltern und Nachbarschaft, die einspringen, wenn es brennt. Von einem Leben, das fordert und trägt. Familien sind keine idealisierten Rückzugsorte. Sie sind lebendige Orte voller Verantwortung, Fürsorge, Konflikte und Entscheidungen, und sie zeigen sich in unterschiedlichsten Formen und Lebensmodellen. Sie sind unverzichtbar für unsere Gesellschaft, unser Zusammenleben und unsere Zukunft.

Familien tragen viel, oft still und unbemerkt

Eltern organisieren den Alltag: stehen früh auf, damit das Kind pünktlich in die Kita kommt, arbeiten konzentriert im Homeoffice, während im Nebenzimmer ein krankes Kind fiebert, helfen bei den Hausaufgaben, koordinieren Arzttermine und Freizeitaktivitäten und kochen gleichzeitig das Abendessen.

Diese Arbeit sieht man nicht immer, vieles geschieht im Hintergrund. Aber sie ist da und hält unsere Gesellschaft zusammen. Die Bedingungen für Familien sind oft alles andere als einfach. Betreuungsplätze fehlen. Teilzeitarbeit wird nicht immer wertgeschätzt. Wer Angehörige pflegt, gerät schnell in finanzielle Unsicherheit. Und wer Nachhaltigkeit im Familienalltag leben will, merkt schnell, wie teuer und aufwendig das sein kann.

Eltern übernehmen Verantwortung, oft leise und unbemerkt. Politik, Gesellschaft und Wirtschaft sind gefragt, ihnen den Rücken zu stärken.

Vereinbarkeit ist zentral, doch Familien brauchen mehr

Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist entscheidend. Doch sie allein reicht nicht, um Familien wirklich zu entlasten. Auch Beziehungskrisen, Krankheit, psychische Belastung und Einsamkeit gehören ebenso zum Alltag.

Viele junge Familien erleben, wie zerbrechlich dieses Gleichgewicht sein kann. Zwischen der ersten Schwangerschaft und dem Schulstart liegen Jahre voller Fragen und schlafloser Nächte. In dieser Zeit braucht es ein stabiles Netz, keine Patentrezepte, sondern praktische Unterstützung.

Nicht jede Familie hat Grosseltern in der Nähe. Viele können sich zusätzliche Angebote nicht leisten. Und längst nicht alle sprechen offen, wenn es schwierig wird. Deshalb brauchen wir Strukturen, die auffangen, bevor es zu spät ist. Es geht nicht um mehr Kontrolle, sondern um verlässliche Rahmenbedingungen, die Eigenverantwortung ermöglichen und stärken.

Fünf Dinge, die Familien wirklich helfen

1. Gute Betreuung für alle Kinder
In der Schweiz nutzen rund zwei Drittel der Kinder unter 13 Jahren familienergänzende Betreuung. Grosseltern spielen neben Kitas und schulergänzenden Angeboten eine wichtige Rolle. Die Nutzung variiert je nach Region, je nachdem, wie verfügbar die Angebote sind.

Ein Kita-Platz darf kein Luxus sein. Frühkindliche Betreuung ist eine Investition, die Eltern Arbeit ermöglicht und Kinder gut fördert. Sie bietet Bildung, soziale Kontakte und sichere Rahmenbedingungen. Gute Betreuung ist mehr als ein praktischer Service. Sie ist ein Grundpfeiler für ein funktionierendes Familienleben und eine starke Gesellschaft.

2. Faire Arbeitsmodelle für Mütter und Väter
Teilzeitarbeit darf weder für Mütter noch für Väter ein Karrierehindernis sein. Care-Arbeit darf nicht in Altersarmut führen. Wer Verantwortung übernimmt, verdient Sicherheit und Respekt im Beruf.

Familienfreundliche Unternehmen profitieren langfristig von motivierten Mitarbeitenden und geringerer Fluktuation. Faire Arbeitsmodelle stärken nicht nur Familien, sondern auch die Wirtschaft.

3. Begleitung im digitalen Familienalltag
Eltern stellen sich heute Fragen, die vor zehn Jahren kaum jemand kannte: Wie viel Bildschirmzeit ist gesund? Wie schütze ich mein Kind im Internet, ohne zu kontrollieren?

Digitale Bildung und Medienkompetenz vermitteln Sicherheit im Umgang mit digitalen Herausforderungen und helfen, Kinder vor Risiken zu schützen.

4. Nachhaltigkeit, die Familien umsetzen können
Viele Familien möchten umweltbewusst leben. Doch nachhaltige Produkte, Mobilität und Ernährung sind oft teuer oder schwer zugänglich. Deshalb muss es für Familien einfacher werden, nachhaltig zu handeln.

5. Mehr Wertschätzung für Beziehungsarbeit
Ob Eltern, Pflegepersonen oder Grosseltern, wer sich um andere kümmert, trägt entscheidend zum gesellschaftlichen Zusammenhalt bei. Diese Arbeit verdient nicht nur Dank, sondern auch politische Unterstützung. Die Vielfalt der Familien wird anerkannt. Ohne diese Beziehungsarbeit wäre unser Sozialsystem nicht tragfähig.

Familie ist nicht das Problem. Sie ist Teil der Lösung

Viele gesellschaftliche Herausforderungen wie Bildung, psychische Gesundheit, Integration oder Fachkräftemangel können ohne Familien nicht bewältigt werden. Familien stehen im Zentrum unseres Zusammenlebens und brauchen die richtigen Rahmenbedingungen.

Es reicht nicht, sie nur in der Werbung zu zeigen. Wir müssen sie im Alltag wirkungsvoll unterstützen, bevor Überforderung entsteht. Familie zu leben bedeutet Organisation, Mut und Verantwortung. Und darin liegt die Stärke und Kraft unserer Gesellschaft.

Wir brauchen mehr Miteinander

Wir sprechen oft von Selbstverantwortung. Doch Familie ist mehr als ein individuelles Projekt. Sie ist ein Gemeinschaftswerk. Sie gelingt, wenn Arbeitgeber mitdenken, Schulen zuhören und Politik sowie Gesellschaft verstehen, was Familien wirklich bewegt.

Eine partnerschaftliche Zusammenarbeit von Politik, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Familien kann viel bewirken. Bei Pro Familia setzen wir uns dafür ein, Familie als gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu begreifen, nicht als Last, sondern als wertvolle Chance. Wir setzen uns dafür ein, dass Eltern und Familien verlässliche, strukturelle, faktenbasierte und nachhaltige Unterstützung erhalten.

Mein Wunsch ist, dass es in der Schweiz selbstverständlich wird, Eltern zu unterstützen, nicht weil sie schwach sind, sondern weil sie jeden Tag stark sein müssen. Eltern sollen sagen können: Ich werde gesehen, ich werde gehört, und Kinder sollen spüren: Meine Familie ist willkommen, so wie sie ist. Nur gemeinsam können wir eine Umgebung schaffen, in der Familien gedeihen und alle Generationen miteinander verbunden sind. Denn wenn Familien stark sind, ist unsere Gesellschaft es auch.

Text Eva-Maria Kaufmann Rochereau, Direktorin von Pro Familia Schweiz

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