Das Paul Scherrer Institut (PSI) ist das grösste Forschungsinstitut für Natur- und Ingenieurwissenschaften in der Schweiz. Prof. Dr. Christian Rüegg navigiert das Institut seit fünf Jahren als Direktor durch eine Zeit globaler Umbrüche und wissenschaftlicher Chancen. «Fokus» wollte von ihm wissen, wie Spitzenforschung den Weg in eine nachhaltige Zukunft ebnen kann.
Herr Christian Rüegg, Sie haben die Leitung des Paul Scherrer Instituts im Jahr 2020 übernommen, gerade als die Pandemie weltweit an Fahrt aufnahm. Woran erinnern Sie sich am lebhaftesten, wenn Sie auf diese Phase zurückblicken?
Es ist in der Tat viel passiert, nicht nur am PSI, sondern global und für die Schweiz. Wir haben gelernt, dass massive Herausforderungen auf die Welt und somit auch auf unser Institut zukommen. Der «Courant normal», jener Zustand relativer Stabilität und Vorhersehbarkeit, den wir uns seit Ende der 80er-Jahre gewohnt waren, ist vorbei. Doch diese Zeit bringt auch Positives: Die Zusammenarbeit innerhalb der Schweiz, etwa mit anderen Forschungseinrichtungen und Behörden, wurde deutlich verstärkt. Und es macht mich stolz, dass wir trotz der Umstände wichtige Grossprojekte termingerecht und im budgetierten Rahmen abschliessen konnten. Ein Beispiel hierfür liefert das Upgrade der Synchrotron Lichtquelle Schweiz SLS. Diese Anlage ist ein Multitalent und eignet sich für diverse Untersuchungen, sei es in der Physik, den Materialwissenschaften, der Chemie, der Biologie, der Medizin, der Pharmaforschung oder aus dem Bereich der Energieforschung.
Das PSI ist das grösste Forschungsinstitut der Schweiz. Welche strategische Bedeutung messen Sie dem Forschungsbereich «Energie und Klima» innerhalb des Instituts bei?
Das Thema «Energie und Klima» ist seit Beginn tief in unserer DNA verankert. Aktuell sind rund 450 Forschende, Ingenieurinnen und Ingenieure sowie Doktorierende in diesem Themenbereich tätig – das ist ein signifikanter Teil unseres Instituts. Unsere Arbeit gliedert sich hier in Kernaufgaben: Eine davon ist es, für die nukleare Sicherheit in der Schweiz zu sorgen und unabhängige Kompetenzen hierzu bereitzustellen. Zu diesem traditionellen Pfeiler kam mit zunehmender Dringlichkeit der Forschungsbereich erneuerbare Energien hinzu. Hier konnten wir in den letzten Jahren einen beachtlichen Impact verzeichnen, und zwar nicht nur im Labormassstab. Wir haben auch gezeigt, dass das Scale-up, also die Überführung von vielversprechenden Ansätzen in grössere Pilotanlagen, funktioniert.
Mit rund 2300 Mitarbeitenden und einem jährlichen Budget von etwa 460 Millionen Franken verfügt das PSI über erhebliche Ressourcen. Wie stellt das Institut sicher, dass diese effektiv zur Lösung drängender Energie- und Klimafragen eingesetzt werden?
Als Organisation sind wir Teil des ETH-Bereichs und innerhalb dieses Verbundes der grösste Akteur im Feld der Energieforschung. Der wesentliche Unterschied zu universitären Institutionen liegt in unserem Ansatz: Wir praktizieren «Mission-driven Research». Das bedeutet, wir gruppieren unsere Ressourcen gezielt so, dass sie an der Lösung konkreter, grosser Problemstellungen und gesellschaftlicher Herausforderungen mitwirken können. Das führt auch zu einem anderen Mix bei unseren Mitarbeitenden. Wir beschäftigen beispielsweise rund 1000 Ingenieurinnen und Ingenieure sowie Technikerinnen und Techniker. Dieses Fachwissen ist unerlässlich und erlaubt es uns etwa, komplexe Prozesse zur Herstellung synthetischer Kraftstoffe aus dem Labor in eine entsprechend grosse Pilotanlage zu überführen und so die Skalierung von vielversprechenden Lösungen aus der Grundlagenforschung voranzutreiben, bis diese an die Industrie übergeben werden können oder Spin-offs entstehen.
Was unterscheidet die Energieforschung am PSI von der an Universitäten oder in der Industrie? Welche Rolle spielen dabei die einzigartigen Grossforschungsanlagen des PSI?
Nehmen wir als Beispiel Katalyseprozesse, die für unzählige Energieanwendungen zentral sind. Viel Energie geht dabei in chemischen Prozessen verloren. Denken Sie an die Herstellung von Wasserstoff als Energieträger, die Entwicklung neuer, nachhaltiger Polymere oder die Produktion von umweltfreundlicherem Dünger – all dies erfordert grosse Mengen an Energie und optimierte katalytische Verfahren. Hier können wir am PSI von den fundamentalen Grundlagen bis hin zum Scale-up in Pilotanlagen die gesamte Forschungs-, Prozess- und letztlich Wertschöpfungskette abbilden. Unsere Grossforschungsanlagen erlauben uns Einblicke in Materialien und Prozesse, die anderswo so nicht möglich wären. Ein spannendes Projekt in diesem Kontext ist «SynFuel», eine gemeinsame Initiative mit der Empa. Ziel dieser Initiative ist es, Prozesstechnologien für verschiedene Wege zur Herstellung synthetischer Kraftstoffe, zum Beispiel für die Luftfahrt, entscheidend voranzutreiben. Von der ersten Idee bis zur potenziellen Marktreife vergehen nicht selten 15 bis 20 Jahre. Aber in dieser Zeit kommt es an jedem Meilenstein immer wieder zu wichtigen und für beide Seiten wertvollen «Touchpoints» mit der Industrie, bei denen Erkenntnisse in konkrete Anwendungen überführt werden können. Gerade bei Energiethemen spielen auch die Energieproduzenten eine wichtige Rolle. Der Innovationsbogen ist hier quasi ein Dreieck, bestehend aus Energieproduzenten, die investieren und Anlagen betreiben, Industrie, die Anlagen bauen, und anwendungsorientierten Instituten wie dem unseren.
Anfang dieses Jahres konnte ein Forschungsteam des PSI ein neues Verfahren vorstellen, mit dessen Hilfe sich die elektrochemische Leistung von Lithium-Ionen-Akkus steigern lässt.
Können Sie uns mehr zur generellen Bedeutung der Energiespeicherung erzählen?
Die Energiespeicherung ist eine kritische Komponente für das Gelingen der Energiewende. Um saisonale Schwankungen in der Verfügbarkeit erneuerbarer Energien auszugleichen, müssten wir in der Schweiz mindestens acht Terawattstunden wahrscheinlich chemisch speichern können oder noch einiges mehr. Das ist ein enormes Volumen, zum Beispiel von Wasserstoff.
Heute ist klar, dass für solch grosse Mengen die chemische Speicherung – also die Umwandlung von überschüssiger elektrischer Energie in beispielsweise Wasserstoff und dann die Rückverstromung bei Bedarf – kosteneffizienter ist als reine Batterielösungen. Dennoch bleibt die Batteriethematik zentral, insbesondere für mobile Anwendungen und für kurzfristige Netzstabilität.
Gibt es andere aktuelle Forschungsprojekte im Energie- und Klimabereich am PSI, die Sie als besonders spannend erachten oder die strategisch bedeutsam sind?
Eine Grundfrage, die sich die Schweiz stellen muss, lautet: Wollen wir langfristig mit Kernenergie weitermachen und in neue Anlagen investieren oder nicht? Unabhängig von der politischen und gesellschaftlichen Debatte müssen wir das Zusammenspiel der verschiedenen Energiequellen und -formen im Gesamtsystem verstehen, wissenschaftlich fundierte Optionen und Opportunitäten aufzeigen und Entscheidungsgrundlagen liefern. Wenn wir uns den Bereich der erneuerbaren Energien anschauen, ist die Wirtschaftlichkeit oft noch nicht in dem Masse gegeben, wie es für einen flächendeckenden Einsatz in der Schweiz nötig wäre. Viele Projekte finden auch wenig lokale Unterstützung. Darum muss man eine konsequente, relevante Skalierung der Technologien anstreben, die dann auch Investitionen über einen längeren Zeitraum und in grösserem Umfang attraktiv macht. Hier suchen wir aktuell Partner aus der Industrie und dem Finanzsektor, die bereit sind, gemeinsam mit uns in diese Zukunftsthemen zu investieren und unseren wissenschaftlichen Kontext durch ihre Markt- und Anwendungsexpertise zu ergänzen. Die Transformation des Schweizer Energiesystems wird je nach Szenario Investitionen von 200 bis 300 Milliarden Franken in Produktion beziehungsweise Umwandlung und Speicherung benötigen. Wie lässt sich eine solch gigantische Summe organisieren und optimal investieren? Solche Fragen treiben uns natürlich neben unserer Faszination für erneuerbare und neue nukleare Technologien in unserer strategischen Forschung stark um.
Im Bereich Mobilität beobachten wir enorme Umwälzungen. An welchen Zukunftstechnologien forscht das PSI hier konkret?
Unsere Schwerpunkte liegen in den bereits erwähnten synthetischen Kraftstoffen und in der Batterieforschung. Bei Letzterer ist neben der Arbeit an leistungsstärkeren Batterien auch die Verwendung kritischer Rohstoffe wie Kobalt ein wichtiges Thema. Hier forschen wir an Alternativen, um den Kobaltanteil in Batterien zu reduzieren. Bisher verursachen Herstellung und Betrieb von grossen E-Autos, insbesondere auch wegen der derzeit zum Einsatz kommenden Batterien und je nach Quelle des Stroms, noch grössere Klimaeffekte als kleine, konventionelle Fahrzeuge. Kleine E-Autos wären optimal. Wir haben den «Carculator» entwickelt, mit dem jede und jeder unser umfassendes Life-Cycle-Assessment nutzen und für sich verschiedene Modelle vergleichen kann.
Wie stellt das PSI sicher, dass vielversprechende Forschungsergebnisse nicht im Labor verbleiben, sondern den Weg in die industrielle Anwendung finden?
Wir haben am PSI ein Team, das sich ausschliesslich des Wissens- und Technologietransfers widmet. Zum Beispiel ist am PSI gerade in Zusammenarbeit mit dem Zürcher Start-up Metafuels eine Pilotanlage in Betrieb gegangen, die eine Technologie zur Produktion von nachhaltigem Flugtreibstoff (SAF) aus erneuerbaren Energien zur Marktreife bringen soll. Dieser Flugtreibstoff liesse sich direkt in bestehende Flughafeninfrastrukturen integrieren und mit ein paar Anpassungen in konventionellen Triebwerken nutzen. Auch die direkte Nutzung unserer Grossforschungsanlagen durch die Industrie spielt eine wichtige Rolle. Etwa zehn Prozent der verfügbaren Messzeit werden von Industrieunternehmen gebucht, beispielsweise von vielen Firmen aus dem Pharmasektor.
Zum Schluss ein Blick in die Zukunft: Was sind aus Ihrer Sicht die grössten wissenschaftlichen und technologischen Hürden, die wir auf dem Weg zu einer nachhaltigen Energiezukunft noch überwinden müssen?
Ich bin grundsätzlich optimistisch, dass die Energiewende in der Schweiz gelingen kann oder mindestens ein grosser Schritt in diese Richtung. Die Grössenordnung der Aufgabe ist allerdings enorm: Für die Schweiz bedeutet die Energiewende, dass wir rund 75 Prozent unseres heutigen Energiesystems grundlegend umbauen müssen. Der zentrale Hebel auf dem Weg dorthin liegt meiner Überzeugung nach in der möglichst effizienten Produktion von nachhaltiger Energie und, ganz entscheidend, in deren Speicherung, um Verfügbarkeit und Bedarf in Einklang zu bringen. Das Problem muss auf jeden Fall gelöst werden, mit oder ohne Kernkraft. An all diesen Fronten sind wir am PSI mit unserer Forschung intensiv dran.
Weitere Informationen
Noch näher erlebt man das Thema beim Besuch im Besucherzentrum des PSI,
oder auch im Verkehrshaus an der Ausstellung «Energy Science for Tomorrow».
Ab Juni 2025 kann man den Energie-Kompass des PSI abonnieren.
PSI Carculator: carculator.psi.ch
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