Prof. Dr. Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung analysiert den Status quo des deutschen Verkehrssystems, kritisiert die anhaltende Abhängigkeit von fossilen Energien und fordert eine umfassende Modernisierung von ÖPNV, Digitalisierung und Elektromobilität. Im Interview erläutert sie, wie der Ausbau ländlicher Verbindungen, Mobility-as-a-Service und kluge politische Weichenstellungen zu einer klimafreundlichen und zukunftsfähigen Mobilitätswende beitragen können.
Prof. Dr. Kemfert, wie bewerten Sie den aktuellen Zustand der Mobilität in Deutschland – sind wir auf dem richtigen Weg?
Nicht wirklich. Die Emissionen sind noch immer zu hoch und das Verkehrssystem insgesamt zu fossillastig und -freundlich. Die zaghafte Förderung von Elektromobilität und Deutschlandticket sind grundsätzlich Schritte in die richtige Richtung. Aber Bahn und ÖPNV sind nicht modern genug und werden zu wenig finanziell unterstützt. Ausbau und Modernisierung der Infrastruktur sind dringend notwendig, um die Attraktivität des ÖPNV zu erhöhen. Wir brauchen zudem dringend eine verbesserte Digitalisierung des Verkehrs zur Bereitstellung von Mobilitätsdienstleistungen oder auch autonomes Fahren. All dies könnte die Attraktivität der Mobilität verbessern und auch zur Reduzierung von Emissionen beitragen.
Welche Rolle spielt der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) für eine klimafreundliche Mobilitätswende?
Der ÖPNV spielt eine Schlüsselrolle für eine klimafreundliche Mobilitätswende aus mehreren Gründen: Wenn er gut funktioniert und preislich attraktiv ist, senkt er Emissionen, da weniger Fahrzeuge unterwegs sein müssen. Das mindert außerdem auch noch Staus. Zudem kann die soziale Teilhabe und Gerechtigkeit verbessert werden. Und: Elektrische Busse und Bahnen fördern die Energie- und Verkehrswende. Um seine Rolle voll auszuschöpfen und eine nachhaltige und effiziente Mobilität für alle zu gewährleisten, muss jedoch in den Ausbau, die Attraktivität und die Integration des ÖPNV investiert werden.
Elektroautos boomen zwar, doch reicht das, um unsere Klimaziele zu erreichen?
Elektroautos können einen wichtigen Beitrag zur Reduzierung von Treibhausgasemissionen leisten, und nicht nur das: Durch die sehr effiziente Nutzung von Ökostrom und Einbeziehung von Batteriespeichern als Netzentlastung können sie ein wertvoller Beitrag zur Energiewende sein. Aber sie sind nur ein Teil der Lösung. Statistisch gesehen stehen Fahrzeuge 23 Stunden am Tag herum, 80 Prozent aller Fahrten sind nur 20 Kilometer kurz. Es sind somit eher Steh- als Fahrzeuge. Somit muss es auch um eine Reduzierung des Individualverkehrs gehen. Carsharing und Fahrgemeinschaften, Rad- und Fußwege und öffentlicher Transport müssen gefördert werden. Nur so kann die nachhaltige Verkehrswende gelingen.
Wenn der ÖPNV gut funktioniert und preislich attraktiv ist, senkt er Emissionen, da weniger Fahrzeuge unterwegs sein müssen. – Prof. Dr. Claudia Kemfert
Wie können wir ländliche Regionen besser an das nachhaltige Mobilitätsnetz anbinden?
Zunächst einmal sollte der öffentliche Nahverkehr in ländlichen Gebieten ausgebaut und optimiert werden. Dazu bedarf es mehr und besserer finanzieller Förderung. Der ÖPNV könnte durch flexible und bedarfsorientierte Dienste ergänzt werden, wie z. B. Rufbusse oder Fahrgemeinschaftsangebote. Eine Plattform zur Integration verschiedener Mobilitätsangebote wie Busse, Bahnen, Carsharing und Fahrradleihsysteme könnte den Nutzenden helfen, die besten Verbindungen und Optionen zu finden. Eine einfache Buchungs- und Bezahlmöglichkeit wäre ebenfalls von Vorteil. Der Ausbau von Radwegen und die Schaffung sicherer Abstellmöglichkeiten für (Elektro-)Fahrräder wäre wichtig.
Sehen Sie in digitalen Lösungen wie Mobility-as-a-Service das Zukunftsmodell für deutsche Pendlerinnen und Pendler?
Ja, durchaus. Mit Mobility-as-a-Service können Pendler verschiedene Verkehrsmittel wie Bus, Bahn, Carsharing, Fahrräder nahtlos kombinieren, was den gesamten Reiseprozess vereinfacht und flexibler gestaltet. Nutzerinnen und Nutzer können in Echtzeit die beste Verbindung und das passendste Verkehrsmittel wählen, auch und gerade bei Verspätungen und hohen Auslastungen. So ließe sich der Individualverkehr verringern und Staus reduzieren, was sowohl ökologisch als auch ökonomisch vorteilhaft ist. Damit kann ein umfassendes Mobilitätsnetzwerk geschaffen werden, besonders auch in ländlichen und suburbanen Gebieten. Herausfordernd ist es, bestehende Systeme zu integrieren und Datenschutz- und Sicherheitsanforderungen zu erfüllen.
Welche politischen Weichen müssen jetzt gestellt werden, um den Verkehrssektor wettbewerbsfähig und emissionsarm zu machen?
Die Elektromobilität samt Ausbau der Ladeinfrastruktur sollte gefördert werden. Social-E-Leasingprogramme für Niedrigeinkommensbeziehende wie in Frankreich sind sinnvoll. Die Investitionen in den öffentlichen Nahverkehr müssen erhöht werden, ein flächendeckender Ausbau von U-Bahn-, Straßenbahn- und Busnetzen, insbesondere in ländlichen Regionen, ist nötig und sollte preislich attraktiv sein: Stichwort 9-Euro-Ticket. Rad- und Fußwege müssen ausgebaut werden, auch um die Sicherheit zu gewährleisten. Zudem muss der multimodale Verkehr stärker gefördert werden. Auch muss mehr und umfassender in die Digitalisierung investiert werden. Es sollten striktere Emissionsvorschriften für den Pkw- und Lkw-Verkehr gelten und Anreize für emissionsfreie Fahrzeuge gesetzt werden. Auch der im Jahr 2027 eingeführte CO2-Preis wird Anreize schaffen, um vom fossilen Verbrenner wegzukommen. Die zukünftige Mobilität muss elektrisch, smart, vernetzt, digital und autonom sein. Nur dann ist sie wettbewerbsfähig.
Wie realistisch sind kurzfristige Prognosen zur CO2-Reduktion im Verkehrssektor bis 2030?
Die Realisierbarkeit hängt davon ab, wie gut die politischen Maßnahmen angegangen und umgesetzt werden. Wenn klare politische Maßnahmen und Anreize gesetzt werden, um die Emissionen im Verkehrssektor signifikant zu reduzieren, können kurzfristige Fortschritte realistischer werden. Dazu gehören beispielsweise die Förderung von Elektromobilität samt Einführung einer E-Auto-Quote oder aber Fahrverbote für ältere fossile Fahrzeuge und eine deutlichere Stärkung des öffentlichen Nahverkehrs. Die Abschwächung von Emissionsgrenzwerten für Fahrzeuge ist absolut kontraproduktiv.
Gibt es überraschende Innovationen aus Forschung und Industrie, die das Mobilitätsbild radikal verändern könnten?
Künstliche Intelligenz wird auch die Mobilitätsdienstleistungen und autonomes Fahren massiv verändern. Die jetzigen Fortschritte in der Batterie- und Antriebstechnologie können die Einführung von Elektrofahrzeugen beschleunigen.
Welche sozialen Folgen sehen Sie, wenn Mobilität immer stärker privatisiert und digitalisiert wird?
Eine Privatisierung kann die soziale Teilhabe weiter vermindern, da nur rentable Strecken und Projekte angeboten werden und Preise noch weiter steigen können. Der ÖPNV bedarf umfassender öffentlicher finanzieller Unterstützung, damit alle Regionen abgedeckt und preislich attraktiv sind. Die Digitalisierung für mehr Mobilitätsdienstleistungen kann hingegen durchaus helfen, die soziale Teilnahme zu stärken.
Was raten Sie Politik und Wirtschaft, um Mobilität in Deutschland krisenfest und zukunftssicher aufzustellen?
Wir brauchen mehr Private-Public-Partnerships. Durch Kooperationen zwischen Kommunen, Verkehrsunternehmen und dem privaten Sektor könnten innovative Lösungen entwickelt werden, um Mobilitätsangebote zu schaffen, die allen Bedürfnissen gerecht werden. Die Wirtschaft sollte verstärkt in Elektromobilität auf Straße und Schiene sowie in die Digitalisierung investieren.
Schreibe einen Kommentar