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Benoît Revaz: «30 Jahre sind im Energiebereich eine sehr kurze Zeit»

27.11.2020
von Kevin Meier

Energiestrategie 2050, innovative Technologien und keine neuen Kernkraftwerke – in Sachen Energie kommen viele Veränderungen und Herausforderungen auf uns zu. «Fokus» hat mit Benoît Revaz, dem Direktor des Bundesamtes für Energie (BFE), über den derzeitigen Stand und zukünftige Herausforderungen der Schweizer Energiepolitik gesprochen.

Herr Benoît Revaz, die Energiepolitik ist seit 1990 in der schweizerischen Verfassung verankert. Wie hat sich deren Konzept und Wahrnehmung seit damals verändert?

Dass es in der Schweiz überhaupt einen Energieartikel in der Bundesverfassung und damit eine nationale Energiepolitik gibt, haben wir der Erdölkrise Anfang der 1970er-Jahre zu «verdanken». Denn die Erdölkrise hat damals sehr schmerzhaft aufgezeigt, wie energieabhängig wir sind, besonders von fossilen Energien, die vollständig aus dem Ausland importiert werden. Das Stichwort war also damals die Versorgungssicherheit. Und das ist es auch heute noch. Den Verbrauch der fossilen Energien in Gebäuden konnten wir seither schon beachtlich reduzieren. Auch dank der Klimapolitik, die seit den 1990er-Jahren parallel zur Energiepolitik aufgebaut worden ist. Heute wissen wir: Energiepolitik ist Klimapolitik und beides spielt sich nicht nur innerhalb der eigenen Landesgrenzen ab. Wenn wir also auch in Zukunft einen bewohnbaren Planeten und eine sichere, umweltfreundliche und bezahlbare Energieversorgung haben wollen, dann muss jedes Land – auch die Schweiz – jetzt vorwärtsmachen.

Jedes Land – auch die Schweiz – muss jetzt vorwärtsmachen. Benoît Revaz

Was liegt derzeit im Fokus in der Arbeit des BFE? Wo besteht der grösste Handlungsbedarf?

Unser Fokus liegt auf der Weiterentwicklung unseres Energieversorgungssystems. Energieinfrastrukturen sind teuer und zudem sehr langlebig, haben also lange Investitionszyklen. Darum ist es wichtig, möglichst rasch zu entscheiden, in welche Richtung wir gehen wollen. Denn das gibt Klarheit für Investitionen in neue Anlagen, die ins neue System passen. Mit diesem Ziel arbeiten wir derzeit auf einigen Baustellen: Einerseits am Strommarkt der Zukunft, an der Bereitstellung eines sicheren Investitionsumfelds für den Ausbau der Wasserkraft und der anderen erneuerbaren Energien und generell an den neuen Technologien im Energiebereich. Ich denke zum Beispiel an die stark wachsende Elektromobilität, an neue Speichertechnologien, die Digitalisierung, die Kopplung der Energienetze mittels Power-to-X-Technologien, oder auch an Technologien zur Abscheidung und Speicherung von Treibhausgasen.

Unser Fokus liegt auf der Weiterentwicklung unseres Energieversorgungssystems. Benoît Revaz

Mit der Energiestrategie 2050 ändert sich einiges. Wo steht die Schweiz auf dem Weg dahin?

Man kann sagen, dass die zunächst «theoretische» Energiestrategie 2050 den Weg vom Papier in die Praxis gefunden hat. Draussen im Feld läuft enorm viel; vieles wird umgesetzt, vieles haben wir bereits erreicht. Denn es kommen laufend neue Akteure ins Spiel, neue Technologien und Dienstleistungen. Es ist ein anspruchsvolles Umfeld; die Energiewelt ist in Bewegung. Zentral wichtig ist deshalb, Rechtssicherheit und Planungssicherheit zu schaffen, und teils auch neue Verantwortliche zu definieren. Nur als Beispiel: Im Energiegesetz steht immer noch: «Die Energieversorgung ist Sache der Energiewirtschaft». Aber so eine klar abgegrenzte «Energiewirtschaft» gibt es heute gar nicht mehr. Neben den traditionellen Energieversorgungsunternehmen tummeln sich im Energiesektor zunehmend auch branchenfremde Technologiefirmen, Telekom-Unternehmen, Blockchain-Dienstleister und viele andere. Denn sie alle sollten sich im Idealfall nicht nur ihren Partikularinteressen, sondern auch dem übergeordneten Interesse «Versorgungssicherheit Schweiz» verpflichtet fühlen. Das ist nicht zuletzt auch eine regulatorische Herausforderung.

Eine stark dezentrale, erneuerbare und unregelmässige Stromproduktion verhält sich ganz anders als die «trägen» grossen Kraftwerke der Vergangenheit. Benoît Revaz

Was sind die grössten Herausforderungen in der Erreichung der Ziele der Energiestrategie 2050?

Die Stimmbevölkerung hat 2017 entschieden, dass in der Schweiz keine neuen Kernkraftwerke mehr gebaut werden dürfen. Damit fällt in den nächsten Jahrzehnten ein Teil der inländischen Stromproduktion weg. Diesen Teil wollen und müssen wir mit erneuerbaren Energien ersetzen – und zwar möglichst rasch! Nur neue Stromproduktionsanlagen zu bauen reicht aber nicht aus. Eine stark dezentrale, erneuerbare und unregelmässige Stromproduktion verhält sich zudem ganz anders als die «trägen» grossen Kraftwerke der Vergangenheit. Es braucht also eine andere System- und Netzsteuerung, eine andere Regulierung, andere Tarife. Auch müssen technische Fragen geklärt werden.

Gleichzeitig strebt die Schweizer Klimapolitik zudem bis 2050 das Netto-Null-Ziel bei den Treibhausgasemissionen an. Das bedeutet, dass wir uns auch von den fossilen Energien rasch verabschieden müssen. Wir können sie entweder einsparen, zum Beispiel durch bessere Gebäudehüllen, oder aber durch Strom ersetzen – beispielsweise mit der Umstellung auf Elektromobilität, auf Wärmepumpen, auf strombasierte Energien wie Wasserstoff. Andere Ersatzenergien sind erneuerbare Energien wie Biomasse oder Erdwärme. Denn wir haben nur 30 Jahre Zeit, beide Ziele – die der Energiestrategie und der Klimastrategie – zu erreichen. Und 30 Jahre sind im Energiebereich eine sehr kurze Zeit: Darin liegt wohl eine der grössten Herausforderungen.

Die Stimmbevölkerung hat 2017 entschieden, dass in der Schweiz keine neuen Kernkraftwerke mehr gebaut werden dürfen. Benoît Revaz

Kernkraftwerke werden keine neuen gebaut. Erhöht das die Gefahr eines Stromversorgungsengpasses? Wenn ja, wie kann man diesen vermeiden?

Wir sind derzeit daran, neue Energieperspektiven zu erarbeiten. Da schauen wir genau solche Fragen an. Stromengpässe müssen wir in den kommenden Jahren nicht befürchten solange die Schweiz gut ins europäische Stromnetz eingebunden bleibt. So kann sie ihre Überschüsse exportieren oder bei Bedarf, vor allem im Winter, Strom importieren. Aber klar: Allein darauf dürfen wir uns nicht verlassen. Heute haben wir übers ganze Jahr gesehen meist eine ausgeglichene Bilanz, können also den Strombedarf der Schweiz durch die inländische Produktion decken. Wenn die verbleibenden vier Schweizer Reaktoren vom Netz gehen, geht diese Rechnung nicht mehr auf. Damit wir spätestens 2050 übers Jahr gesehen wieder eine ausgeglichene Bilanz haben, müssen wir im Inland die erneuerbare Stromproduktion und auch die Speichermöglichkeiten ausbauen. Damit das rechtzeitig geschieht, braucht es geeignete regulatorische Rahmenbedingungen bei Bund und Kantonen, es braucht auch noch ein gewisses Mass an finanzieller Förderung, und es braucht die Akzeptanz der Bevölkerung für die neuen Technologien.

Die E-Mobilität erreicht neue Höhen. Sind wir denn bereits auf einem guten Weg in der Schweiz?

Ja, das sind wir tatsächlich. Es wird allerdings schon noch eine Weile gehen, bis die Elektromobilität einen bedeutenden Anteil an der gesamten Fahrzeugflotte auf der Strasse hat. Doch es sieht gut aus. In den nächsten Jahren kommen viele neue Modelle auf den Markt, sodass wohl alle ein passendes E-Auto finden können. Ausserdem gibt es auch immer mehr Leute, gerade jüngere, die gar kein eigenes Auto mehr brauchen oder wollen. Auch das ist ein wichtiger Trend, denn die Umstellung von Verbrennungs- auf Elektromotoren ist nur ein Teil der Lösung unserer Energie- und Klimaprobleme.

Der grösste Teil des Schweizer Stromverbrauchs geht auf die Kosten der Haushalte. Wie viel Sparpotenzial ist dort noch vorhanden?

Noch einiges! Ich denke da an bessere Gebäudehüllen, an effizientere Heizsysteme, oder auch weitere Effizienzverbesserungen bei Beleuchtung und Elektrogeräten. Viel Energie können wir in Zukunft auch einsparen, wenn wir konsequent alle Elektroheizungen und Elektroboiler ersetzen. Die Beleuchtung allein hat noch ein Sparpotenzial von 50 Prozent!

Beim Thema Stromnetze und Smart Grids arbeitet das BFE an einer Strategie und einer Roadmap. Wie gross ist der Handlungsbedarf und wie sieht die Weiterentwicklung aus?

Die erneuerbare Stromproduktion wird in den nächsten Jahrzehnten kontinuierlich wachsen. Dadurch wird sie dezentraler und unregelmässiger: Scheint die Sonne, wird viel Solarstrom produziert, bei starker Bewölkung nur wenig. Auch der Stromverbrauch ändert sich: Werden zudem gleichzeitig viele Elektroautos getankt, saugen sie eine grosse Energiemenge aus dem Netz. Für die Netze, vorab für das Verteilnetz, und letztlich auch für das Übertragungsnetz, sind das grosse Herausforderungen. Intelligent gesteuerte Netze, also Smart Grids, halten Stromproduktion und -verbrauch auch unter derartigen Bedingungen im Gleichgewicht und das Stromnetz kann so sicher betrieben werden. In der Roadmap haben wir beispielsweise aufgezeigt, welche Funktionalitäten solche Smart Grids haben müssen, welche Technologien und welche Regulierung es dazu braucht.

Bei der «Strategie Stromnetze» geht es um den künftigen Um- und Ausbau der Stromnetze. Darin wird beispielsweise geregelt, wann eine Stromleitung als Erdkabel verlegt werden muss und wie die Mehrjahrespläne der Netzbetreiber erstellt werden müssen. Weiter enthält sie Regelungen zu intelligenten Messsystemen. Die «Strategie Stromnetze» wurde zudem mit einer Revision des Elektrizitäts- und des Stromversorgungsgesetzes umgesetzt und ist schon seit Mitte 2019 in Kraft.

Viel Energie können wir in Zukunft auch einsparen, wenn wir konsequent alle Elektroheizungen und Elektroboiler ersetzen. Benoît Revaz

Seit September 2020 liegt der Schlussbericht zum Projekt «Quartierstrom» in Walenstadt SG vor. Welche Lehren kann man aus diesem Projekt ziehen?

Es hat gezeigt, dass lokale Strommärkte gut funktionieren und ein beachtliches Potenzial für den Ausbau und die Nutzung der dezentralen Stromproduktion erschliessen können. Es ist wichtig, solche neuen Marktstrukturen in der Praxis zu testen. Wenn der Strommarkt vollständig geöffnet ist, was ja mit der bevorstehenden Revision des Stromversorgungsgesetzes geplant ist, können sich solche lokalen Strommärkte in der ganzen Schweiz etablieren. Sie sind nicht nur ein interessanter Markt für kleine Produzenten. Denn durch den Ausgleich von Stromproduktion- und -verbrauch auf Quartierebene entlasten sie auch die Verteilnetze und tragen im Zuge dessen auch zur Versorgungssicherheit der Schweiz bei.

Interview Kevin Meier

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