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Editorial Gesundheit

Ist «uneingeschränkt Leben» nur ein Traum?

19.03.2021
von SMA

Stephan Hüsler
Stephan Hüsler
Präsident Agile.ch, die Organisationen von Menschen mit Behinderungen

Im Jahr 2004 trat das Behindertengleichstellungsgesetz BehiG in Kraft. Niemand darf wegen einer Behinderung diskriminiert werden und der Staat soll Diskriminierungen abbauen. Durch die Unterschrift auf der UNO-Behindertenrechtskonvention (UNO-BRK) im April 2014 verstärkte er diese Verpflichtung. Spätestens seitdem sollte auch die Schweiz den Begriff «Inklusion» kennen. Inklusion ist das zentrale Anliegen der UNO-BRK. Dass zumindest die offizielle Schweiz nicht weiss, was «Inklusion» bedeutet, zeigt sich in der deutschen Übersetzung. Das englische «Inclusion» wird mit «Integration» falsch übersetzt. 

Wo liegt der Unterschied? Wer in die Fremde zieht, soll sich in der neuen Gesellschaft integrieren. Diese Person wird zuerst einmal ausgeschlossen. Sie soll sich anpassen, also assimilieren. Durch Assimilation gibt man ein Stück weit die eigene Herkunft auf. Wenn dies gelingt, geschieht Integration. Ich vergleiche sie mit einem englischen Rasen, auf dem ein kleines Männchen mit Lupe und Nagelschere arbeitet. Erst, wenn alle Grashalme in dieselbe Richtung zeigen und gleich lang sind, es kein Unkraut mehr gibt, ist Integration erreicht. Erst jetzt sind die betreffenden Personen eingeladen, am öffentlichen und gesellschaftlichen Leben zu partizipieren, sprich teilzuhaben. Und Inklusion? Dafür verwende ich das Bild der Magerwiese. Es gibt darauf viele verschiedene Pflanzen und Lebewesen, die alle miteinander in Beziehung stehen. Es gibt kein Unkraut und kein Ungeziefer. Alle Bewohner der Magerwiese sind für deren Existenz wichtig und wertvoll. Ohne Partizipation ist eine inklusive Gesellschaft wie die Magerwiese nicht möglich. Genau dies will die UNO-BRK: dass Menschen mit Behinderungen «gleichgestellt mit anderen» am öffentlichen Leben teilhaben können.

Zu oft werden wir als Hindernis, als Störende, als finanzielles Risiko oder ganz einfach ‹fremdartig› gesehen.

Stephan Hüsler, Präsident Agile.ch Die Organisationen von Menschen mit Behinderungen

Sind wir eine inklusive Gesellschaft? Aus der Sicht von Menschen mit Behinderungen ist diese Frage mit «Nein» zu beantworten. Zu oft werden wir als Hindernis, als Störende, als finanzielles Risiko oder ganz einfach «fremdartig» gesehen. Der öffentliche Raum ist nicht barrierefrei, private und öffentliche Dienstleistungen sind oft nicht zugänglich. Anpassungen an die Vorschriften des Behindertengleichstellungsgesetz BehiG werden als zu teuer und nicht zumutbar abgelehnt und viel zu oft durch die Gerichte verhindert. Damit stehen viele Menschen mit Behinderungen vor unüberwindlichen Hindernissen und werden systematisch vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen. Barrierefreiheit dient jedoch allen Menschen. Nicht zuletzt wird dadurch ein Leben in den eigenen vier Wänden bis ins hohe Alter ermöglicht.

«Uneingeschränkt Leben» ist für viele Menschen mit Behinderungen ein Traum und wird es wohl noch lange Zeit bleiben. Wir Menschen mit Behinderungen brauchen deshalb Ihre Unterstützung! Nur wenn wir alle gemeinsam hindernisfreie Architektur, zugängliche Dienstleistungen sowie Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten fordern, werden wir diesen Traum realisieren. Es dient uns allen!

Text Stephan Hüsler

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