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Digitales Horten erkennen und vermeiden

12.05.2020
von Lars Meier

Unmengen von Daten zu speichern stellt zwar technisch kein Problem dar. Sogenanntes digitales Horten kann aber in vielerlei Hinsicht zu einer grossen Belastung führen. Für die Energiebilanz, das Portemonnaie und nicht zuletzt auch für die Psyche.

Wer das Wort horten liest, denkt vermutlich zuerst an Messies und deren Wohnungen, die vor lauter Krempel im Chaos versinken und kaum noch betretbar sind. Obwohl wir uns so stark wie nie zuvor von der Digitalisierung geprägt sehen, ist digitales Horten kaum erforscht.

Löschen als Blockade

Es passiert schneller, als man denkt. Die Ordner auf dem Computer oder Handy quellen über. Mit ungelesenen Mails, längst vergessenen Dateien und Urlaubsfotos, die man sich noch immer nicht angeschaut hat. Wieso löscht man diese Daten nicht? Hier greift dasselbe Prinzip wie beim Horten von physischem Material. Die Nachrichten könnten eines Tages doch wichtig sein, genauso stellen Fotos eine schöne Erinnerung dar.

Inzwischen ist auch die Forschung auf das Phänomen aufmerksam geworden. So beschäftigen sich auch die Professorinnen Ute Schmid von der Universität Bamberg und Cornelia Niessen von der Universität Erlangen in einem Forschungsprojekt damit. Sie fragen sich, wie man Menschen – insbesondere im Arbeitsalltag – unterstützen kann, digitalen Müll loszuwerden. Das Projekt trägt den treffenden Namen Dare2Del – zu Deutsch: Trau dich zu löschen. Das Ziel ist die Reduktion von Kosten und Energie – schliesslich benötigt man weniger Cloud-Speicher – sowie die Lenkung des Fokus auf die eigentliche Arbeit.

Wer ist betroffen?

Doch wie kann man digitales Horten überhaupt erkennen? «Digitales Horten kann man als einen spezieller Fall von allgemeinem Horten, einer Art Zwangsstörung, sehen», erläutern Schmid und Niessen. Für das Horten gibt es laut den Expertinnen eine Reihe von Symptomen (siehe Infobox).

«Digitales Horten ist demnach durch die exzessive Sammlung und Aufbewahrung von digitalen Objekten sowie durch die massive Abneigung gegen das Löschen von digitalen Objekten, die irrelevant geworden sind, gekennzeichnet», erklären die beiden Forscherinnen. Personen hätten das Gefühl, Dateien aufbewahren zu müssen, auch wenn die gespeicherten Dateien das Arbeiten erschweren.

Obwohl wir uns so stark wie nie zuvor von der Digitalisierung geprägt sehen, ist digitales Horten kaum erforscht.

Was ist noch Aufbewahren, was bereits Horten?

Eine Wohnung, die im Chaos versinkt und die man deswegen nur noch mühsam betreten kann, würden Aussenstehende vermutlich ohne zu Zögern als Resultat von Horten einordnen. Abgesehen von den Betroffenen selbst. Wo verläuft folglich die Grenze zwischen Aufbewahren und Horten? Schmid und Niessen kennen die Antwort. «Die Grenze ist, ob sich Personen mit diesem Verhalten schaden oder anderen Schaden zufügen.» Aufbewahren ist laut den Expertinnen ein zielorientierter, reflektierter Prozess, dem eine Entscheidung vorausgeht. «Horten hat eher einen zwanghaften, habituellen Charakter und kann nicht aus eigener Kraft beendet werden», halten Schmid und Niessen fest.

Neuer Forschungsgegenstand

Wie bereits erwähnt, steht digitales Horten noch nicht lange im Fokus der Forschung. «Es wird aktuell besonders in Bezug zur E-Mail-Flut, dem Umgang mit Bookmarks und dem persönlichen Datenmanagement untersucht», wissen die Expertinnen. Allerdings steht man hier vor grossen Herausforderungen, wie sie ergänzen. Die Datenlage sei spärlich. Es gäbe hier kaum belastbare Untersuchungen. In jedem Fall führt digitales Horten weiterhin zu Problemen, wie die Expertinnen aufzählen. «Immer wenn ein schneller Zugriff auf wichtige Dateien gefordert ist, verursacht dies Stress. Suchen kostet schliesslich Zeit. Zudem ist die Verwechslung von Dateien eher möglich, was Fehler begünstigt.»

Was kann man zur Prävention unternehmen?

Auch auf diese Frage wissen Schmid und Niessen eine Antwort. «Man kann Assistenzsysteme entwickeln, die dem Nutzer Vorschläge unterbreiten, irrelevante Dateien zu löschen, wie wir das mit dem KI-System Dare2Del tun.» Zudem könne man schon Kindern in der Schule das Aufräumen auf digitalen Geräten lehren sowie Aufräumroutinen etablieren. Nicht zuletzt kann auch der Besuch von entsprechenden Trainings ein wichtiger präventiver Schritt sein.

Künstliche Intelligenz als zentrale Hilfe

Künstliche Intelligenz dürfte für die meisten immer noch ein Buch mit sieben Siegeln sein. Wie kann künstliche Intelligenz konkret bei digitalem Horten Abhilfe schaffen? «Unser System Dare2Del basiert auf zwei grundsätzlichen Methoden der Künstlichen Intelligenz», informieren die beiden Forscherinnen. «Maschinelles Lernen wird genutzt, um ein fortlaufendes Lernen zu ermöglichen, mit dem sich Dare2Del an Nutzer-Vorlieben und auch Änderungen von Vorgaben und Vorlieben anpassen kann. Dies wird mit einem wissensbasierten Verfahren kombiniert, in das bekannte Vorgaben vordefiniert werden können.» Beispiele hierfür sind laut Schmid und Niessen datenschutzrechtliche Vorgaben oder gesetzliche Aufbewahrungsfristen. Eine Rolle spielen aber auch eigene Vorlieben. Diese berücksichtigt Dare2Del dann garantiert.

Natürlich löscht Dare2Del niemals eine Datei, ohne den Nutzer oder die Nutzerin zu fragen. Ute Schmid & Cornelia Niessen

Kann man einem solchen System vertrauen?

Die Vorstellung, dass ein System dieser Art über das Löschen persönlicher Informationen bestimmt, dürfte Unbehagen auslösen. «Natürlich löscht Dare2Del niemals eine Datei, ohne den Nutzer oder die Nutzerin zu fragen», entwarnen Schmid und Niessen. Dare2Del verfolge einen Ansatz des sogenannten erklärbaren und interaktiven maschinellen Lernens. Viele KI-Systeme entziehen dem Menschen die Kontrolle und entscheiden autonom. Dare2Del liefere dem Nutzer und der Nutzerin aber natürlichsprachige Erklärungen für seine Löschvorschläge.

«Das kann man sich so vorstellen, dass einige Dateien als irrelevant vorgeschlagen werden», erklären die beiden Forscherinnen. Diese würden direkt auch im Datei-Manager hervorgehoben. Der Nutzer könne dann zustimmen oder ablehnen oder eben nach einer Erklärung fragen. Diese Erklärung könne der Nutzer akzeptieren oder korrigieren.

Aufgrund dieser Nutzerinteraktionen lerne Dare2Del fortwährend weiter. Der aktuelle Ansatz ist folglich die Entwicklung einer partnerschaftlichen KI. «In empirischen Studien überprüfen wir aktuell, wie sich Erklärbarkeit und Interaktivität auf das Vertrauen der Nutzer auswirken», fassen Schmid und Niessen zusammen. Erste Ergebnisse legen aber bereits jetzt eine Schlussfolgerung nahe. Vertrauen erhöhe sich, wenn Nutzer auf diese Art mit in den Lern- und Entscheidungsprozess miteinbezogen werden.

Horten

Horten im allgemeinen Sinne ist in der Forschung durch folgende Merkmale definiert:

• Anhaltende Schwierigkeiten, sich von Besitztümern zu trennen oder sie wegzuwerfen, unabhängig von ihrem tatsächlichen Wert

• Gefühl, Besitztümer aufbewahren zu müssen

• Massive Anspannung bei dem Versuch, Dinge wegzuwerfen, was zu einer Anhäufung von Besitztümern, einer Überfüllung oder sogar Vermüllung der Wohnung führt

• Das Horten verursacht eine klinisch signifikante Belastung oder Beeinträchtigung in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen, einschliesslich der Aufrechterhaltung einer sicheren Umgebung für sich selbst und andere

Das Projekt Dare2Del ist Teil eines grossen, von der DFG geförderten Forschungsschwerpunkt, bei dem es generell um das Vergessen in Organisationen geht (www.spp1921.de)

Text Lars Gabriel Meier

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