Die SBB sind die grösste ÖV-Anbieterin der Schweiz. Dafür sind nicht nur unzählige Zugwaggons sowie kilometerlange Schienennetze notwendig, sondern auch ein gewaltiger IT-Apparat. «Fokus» blickte hinter die digitalen Kulissen der SBB – und erfuhr unter anderem, wie künstliche Intelligenz den Zugfahrplan optimieren kann und eine energieoptimierte Fahrweise der Züge erlaubt.
Jochen Decker, auf der Website der SBB heisst es «IT bewegt die Bahn».Was ist damit genau gemeint?
Die meisten Menschen denken beim Begriff SBB an unser Rollmaterial, das umfangreiche Schienennetz oder den dichten Fahrplan. Doch wir sind gleichzeitig auch einer der grössten IT-Arbeitgeber der Schweiz, mit 2500 Leuten. Heute ist unser IT-Bereich untrennbar mit unserem Kernbusiness des Personen- und Warentransports auf der Schiene verbunden. Man könnte auch festhalten: Ohne digitale Technologie läuft, oder fährt, nichts.
Was fällt alles in den Aufgabenbereich der SBB-IT?
Wir sind für diverse Aspekte zuständig. Man kann diese in zwei Blöcke aufteilen: Zum einen kümmern wir uns um die Anwendungen, welche direkt von unseren Kundinnen und Kunden genutzt werden. Dazu gehören etwa die App SBB Mobile, unsere Website sowie sämtliche Kundeninformationssysteme, Verkaufsstellen und Billettautomaten. Auf elektronischem Weg werden bei uns mittlerweile pro Jahr Dienstleistungen im Wert von vier Milliarden Franken bezogen. Andererseits sind wir bei den IT-Themen zuständig, die auf unsere internen Prozesse und Bedürfnisse ausgerichtet sind, etwa für unser ERP-System, das Intranet sowie die firmeneigenen HR- und Finanzsysteme. Darüber hinaus stellt unsere zentralisierte IT-Abteilung die Anwendungen zur Verfügung, um die Fahrplanerstellung zu ermöglichen, den Verkehr zu lenken, die Instandhaltung des Rollmaterials sicherzustellen oder den Energieverbrauch zu tracken und zu optimieren. Damit halten wir im wahrsten Sinne des Wortes die Bahn am Laufen.
Das ist eine enorme Verantwortung.
Das stimmt, doch genau das macht unseren Job so sinnstiftend und aufregend. Wenn etwas mal nicht komplett reibungslos läuft, zum Beispiel wenn der Ticketverkauf der App harzt, hat das direkte Auswirkungen auf Tausende Menschen in der Schweiz. Wir sind mit unseren Systemen sehr exponiert und fühlen den Puls der Bahn. Das ist Fluch und Segen zugleich, weil die eigene Leistung jeden Tag aufs Neue gemessen wird – und zwar immer in Echtzeit. Doch wie gesagt: Das macht unsere Arbeit so spannend. Und die Digitalisierung hält viele weitere interessante Herausforderungen für uns in petto.
Zum Beispiel?
Neben unserer Konzern-IT gibt es noch viele IT-Systeme, die in unseren Anlagen verbaut sind. Im Rollmaterial, in den Stellwerken und den Gebäuden. Diese Systeme werden von unseren Divisionen verantwortet. Doch aufgrund der Digitalisierung beginnen diese Welten nun zu verschmelzen, das Internet der Dinge (Internet of things, IoT) wird Realität. Dadurch ergeben sich aufregende neue Potenziale, wie etwa die Möglichkeit, vorausschauende Instandhaltung basierend auf digitalen Daten zu betreiben. Die IT spielt sich künftig also nicht mehr «nur» auf dem Bildschirm ab. Alles rückt zusammen. Menschen, Eisen und IT – das ist für mich die Bahn. Das sehen wir übrigens auch an unseren Verkaufsdaten: Mittlerweile gehen 72 Prozent aller Tickets nur noch über die digitale Theke der App, was ein sehr hoher Wert ist. Fünf Prozent der Verkäufe erfolgen über die Website, der Rest verteilt sich auf unsere Billettautomaten sowie die Schalter.
Sie sind seit 2021 CIO der SBB. Im Unternehmen sind Sie seit 2008 und haben in dieser Zeit diverse IT-Projekte vorangetrieben. Welches waren die «grossen Baustellen» hinsichtlich Digitalisierung?
Zu den besonders ambitionierten Projekten, die eine grosse Aussenwirkung entfaltet haben, gehört sicherlich das Erweitern von SBB Mobile sowie die Einführung und Einbindung des Swisspass. Wir tun seit Jahren unser Bestes, um einen möglichst individuellen Service zu bieten. Dafür waren – und sind – riesige Umstellungen notwendig. Dabei muss man auch bedenken, dass wir als SBB nicht allein sind in unserem Segment: 248 verschiedene Verkehrsunternehmen stellen die Mobilität in der Schweiz sicher. Über alle diese Anbieter hinweg ein gemeinsames Ticket anbieten zu können, stellte eine Mammutaufgabe dar. Gleiches gilt für die Zentralisierung unseres gesamten Bahnbetriebes. Wir betreiben heute nur noch vier Leitzentralen. Diese Konzentration sorgt dafür, dass wir das bestehende Schienennetz besser nutzen können, ohne es ausbauen zu müssen. Denn dank der neuen Möglichkeiten der Digitalisierung können wir unsere Effizienz steigern und mehr Kapazität aus dem Netz herausholen. Doch nicht nur Projekte mit grosser Aussenwirkung, sondern auch mit einem enormen Impact «nach innen» konnten wir in der Vergangenheit erfolgreich umsetzen.
Natürlich ist KI auch für uns ein essenzielles Thema, und wir nutzen sie im Bahnbetrieb. Wir haben den Vorteil, dass wir mit den Realtime-Daten aus unserer Infrastruktur Big Data im Bahnbetrieb umsetzen können. Jochen Decker, Mitglied der Konzernleitung und CIO der SBB
Können Sie ein Beispiel dafür nennen?
2015 rüsteten wir 33 000 SBBler und SBBlerinnen mit einem Handy oder einem Tablet sowie ihrem persönlichen Useraccount aus, von den Railclean-Mitarbeitenden bis hin zu den Rangierteams. Dies bildete die Basis, um unseren Betrieb weiter digitalisieren zu können. Dieser Schritt half uns unter anderem dabei, mit der Coronapandemie sowie der Energiekrise umzugehen. Apropos Energie: Die Steuerung des Bahnbetriebes über vier zentrale, hochgradig digitalisierte Leitstellen hilft uns massiv beim Stromsparen. Wir können zum Beispiel aktuelle Fahrdaten nutzen, um auch im Zugsverkehr eine «grüne Welle» zu ermöglichen, um unnötiges Bremsen und Beschleunigen zu verringern und trotzdem pünktlich zu sein. Diese Informationen werden den Lokführerinnen und Lokführern in Echtzeit auf ihr Tablet zugespielt. Dadurch entsteht eine energieoptimierte Fahrweise, was Kosten und Strom einspart.
Welche künftigen IT-Projekte befinden sich in der Pipeline?
Die Bahnbranche ist von sehr langfristigen Entwicklungen geprägt. Es findet also weniger Revolution statt Evolution statt. Im Bereich Verkehrssteuerung wollen wir Verbesserungspotenziale ausschöpfen. Dort können wir noch mehr Effizienz erwirken, besser disponieren und damit mehr Energie einsparen und mehr Kapazität auf dem bestehenden Netz schaffen. Auch im Bereich der Fahrplanerstellung möchten wir noch flexibler werden. Zudem werden wir die Personal- und Rollmaterialplanung kombinieren und damit optimieren. Das führt auch für unsere Angestellten zu mehr individueller Planbarkeit, was das Arbeiten bei der SBB attraktiver macht.
Da Sie das Arbeiten bei der SBB ansprechen: Wie stellen Sie daher sicher, dass Ihr Bedarf an IT-Expertinnen und -Experten trotz Fachkräftemangel gedeckt ist?
Der Fachkräftemangel stellt auch uns vor Herausforderungen. Diesen müssen wir mit kreativen Ideen begegnen. Zu diesem Zweck investieren wir viel in die Aus- und Weiterbildung unserer Mitarbeitenden. Zudem steigern wir bewusst die Diversität in unserem Unternehmen. Wir verfügen in unserer IT über einen vergleichsweise hohen Frauenanteil von 20 Prozent, versuchen aber natürlich, uns dort zu steigern. Darum bieten wir zum Beispiel Wiedereinstiegsprogramme nach der Babypause an. Auch dem zunehmenden Bedürfnis nach mehr Teilzeitarbeit kommen wir entgegen: 40 Prozent der IT-Belegschaft arbeitet bereits Teilzeit. Zudem denke ich, dass wir dank unserer modernen IT, die stark auf Open Source setzt, für junge Talente attraktiv sind. Hinzu kommt die Tatsache, dass wir als führender ÖV-Anbieter einen starken Purpose haben, spannende Projekte anbieten können und über eine moderne und kooperative Kultur verfügen.
Machine Learning und künstliche Intelligenz (KI) gelten als die nächsten grossen technologischen Treiber. Wie nutzt die SBB diese Technologien?
Natürlich ist KI auch für uns ein essenzielles Thema, und wir nutzen sie im Bahnbetrieb. Wir haben den Vorteil, dass wir mit den Realtime-Daten aus unserer Infrastruktur Big Data im Bahnbetrieb umsetzen können. Das ist auch notwendig, denn unsere Fragestellungen hinsichtlich Planung und Betrieb sind komplex: Wie lässt sich auf einer dicht befahrenen Strecke noch ein zusätzlicher Zug einbinden? Oder wie kann Predictive Maintenance dazu beitragen, die Wartung von Zugkompositionen zu erleichtern? Solche Fragestellungen beschäftigen uns und eignen sich ideal für den Einsatz von KI. Heute sind wir in der Lage, Fahrplanabweichungen bis zwei Stunden in die Zukunft zu prognostizieren. Diese können wir dann in den meisten Fällen automatisiert verhindern. Grössere Störungen sind aber so komplex, dass wir sie nicht automatisiert beheben können. Vielleicht führt eine KI dereinst dazu, dass sie sehr schnell Lösungsvorschläge erstellen kann und diese durch den Lerneffekt über die Zeit immer besser werden. Am Ende entscheidet aber immer noch der Mensch darüber, was gemacht wird.
Welche Herausforderungen, Chancen und allenfalls neue Technologien sehen Sie auf die Schweiz und die SBB zukommen?
Innovation ist für uns ein wichtiges Thema. Technologietrends kommen und gehen. Wir haben das beim Metaverse ebenso gesehen wie bei der Blockchain. Aktuell sind sprachbasierte Systeme wie ChatGPT stark in der Diskussion. Und so spannend diese Aspekte auch sind, muss für uns immer die Frage im Zentrum stehen: Welchen konkreten Nutzen bietet die Technologie tatsächlich? Und funktioniert sie auch sicher? Die SBB kann sich diesbezüglich auf keine Experimente einlassen, gerade auch der Datenschutz muss jederzeit gewährleistet sein. Darum eruieren wir immer penibel, ob uns eine Technologie tatsächlich dabei hilft, schneller und besser zu werden. Was wir dabei ebenfalls gelernt haben: Die Digitalisierung allein führt nicht zum Erfolg. Man muss unbedingt die Menschen mitnehmen sowie ihre Bedürfnisse und Ängste adressieren. Dann – und nur dann – kann man einen digitalen Wandel gestalten, der wirklich nachhaltig ist.
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