Interview von Katja Deutsch

Viktor von Essen: Wie KI den Anwaltsalltag revolutioniert

»Der Anwaltsberuf verändert sich fundamental, aber er verschwindet nicht.«

Viktor von Essen studierte Jura an der Bucerius Law School in Hamburg und an der University of Oxford, wo er einen Master of Jurisprudence (M.Jur.) erwarb. Er war etwa zehn Jahre lang als Prozessanwalt für internationale Schiedsgerichtsbarkeit tätig, unter anderem bei der renommierten Kanzlei Freshfields Bruckhaus Deringer LLP. Dort wurde er in die Juve »Top 40 unter 40«-Liste aufgenommen. Vor knapp zwei Jahren, im November 2023, gründete er das Start-up Libra, das sich auf die Automatisierung juristischer Routinetätigkeiten mithilfe künstlicher Intelligenz spezialisiert hat. Hier spricht er darüber, wie KI den Anwaltsalltag schon heute verändert und welche Auswirkungen das auf den Anwaltsberuf generell haben wird.

Herr Viktor von Essen, was hat Sie ursprünglich an Jura fasziniert und geprägt?

Mich faszinierte früh die Verbindung von Sprache und Mathematik, wie Recht, Gerechtigkeit ermöglicht und wie Anwälte für andere einstehen. Besonders geprägt hat mich später die Bucerius Law School, wo ich als Mitglied einer der ersten Studienjahrgänge Teil einer inspirierenden Gemeinschaft sein durfte.

Welche Erfahrungen aus Ihrer Zeit als Prozessanwalt – etwa bei Freshfields – helfen Ihnen heute am meisten als Gründer?

In meiner Zeit in der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit – zunächst am International Court of Arbitration in Paris, später bei Freshfields – war ich mit mühsamer Detailarbeit konfrontiert. Fallakten füllten damals buchstäblich Lastwagen. Im Freshfields Lab begegnete ich 2015 ersten Legal-Tech-Ansätzen: deterministischen Modellen, die Massenverfahren effizienter machten. Doch mir stellte sich bald die größere Frage: Wie lässt sich Streitlösung intelligenter, zugänglicher und visuell nachvollziehbarer gestalten? Diese Frage begleitete mich auch in meiner Zeit als Deputy Secretary General der Deutschen Institution für Schiedsgerichtsbarkeit.

Das Buch von Richard Susskind Online Courts and the Future of Justice bestärkte mich dann darin, dass der Rechtsmarkt vor einer grundlegenden Transformation steht. Parallel dazu experimentierte ich mit Blockchain-Lösungen, gründete erste Projekte und suchte nach Wegen, ein inklusiveres, effizienteres Gerichtssystem zu gestalten.

Viktor von Essen

Die eigentliche Wende kam jedoch mit generativer KI. Sie ist mächtig, aber auch ungestüm. Der KI juristisches Denken beizubringen und die Technik nahtlos in den Alltag von Jurist:innen zu integrieren – mit dem Mensch im Vordergrund und in verantwortungsvoller Art und Weise – ist eine der spannendsten Herausforderungen unserer Zeit.

Was war der Auslöser zur Gründung einer KI-Plattform für Juristen?

Mein Ziel war von Anfang an nicht bloß Produktivitätssteigerung, sondern ein Werkzeug, das Anwälte in jedem ihrer Workflows unterstützt und sich nahtlos einfügt – selbst dann, wenn es um ganze Lastwagenladungen von Text geht. Denn Anwälte brauchen KI, die wirklich praxisnah ist. Gemeinsam mit meinem Mitgründer Dr. Bo Tranberg – er ist promovierter Physiker – habe ich deshalb Libra entwickelt: eine End-to-End-Plattform für die Automatisierung juristischer Arbeitsabläufe.

Welche Lücke oder welches Problem im Rechtsmarkt wollten Sie mit Libra unbedingt schließen?

Wir sehen uns nicht nur als Tech-Entwickler, sondern eher als Architekten einer Brücke. Auf der einen Seite steht die traditionelle Rechtswirklichkeit mit all ihrer Komplexität, auf der anderen die Möglichkeiten moderner KI. Libra ist der Bauplan, der beide Seiten verbindet – damit das Recht nicht in der Vergangenheit verharrt und die Innovation nicht im luftleeren Raum bleibt, sondern gemeinsam eine neue Rechtskultur entstehen kann.

Welche großen Vorteile bietet Libra?

Der Vorteil liegt in der Verbindung von juristischer Praxis und technologischer Exzellenz. Aus dieser Kombination ist ein KI-Workspace entstanden, der Recherche, Dokumentenanalyse, Vertragsprüfung und individuelle Assistants in einer Plattform bündelt – bis hin zur direkten Integration in Tools wie Word. Darüber hinaus lassen sich auch führende Rechtsdatenbanken wie jene vom Verlag Dr. Otto Schmidt direkt einbinden. Anwälte können damit komplexe Fragen stellen, Hunderte Dokumente durchdringen oder Workflows automatisieren, ohne ihre gewohnten Abläufe zu verlassen. Für uns zählt nicht die Technologie an sich, sondern dass sie sich nahtlos in den Alltag der Juristen einfügt: präzise, verlässlich, benutzerfreundlich.

Über 9000 Anwälte und 650 Kanzleien nutzen Libra bereits. Was waren die wichtigsten Hebel, um dieses Wachstum zu erreichen? Und wie konnten Sie die skeptischen Juristen überzeugen?

Seit unserem Markteintritt im Herbst 2024 hat sich Libra in rasantem Tempo entwickelt – heute sind wir wahrscheinlich das am schnellsten wachsende Legal-Tech-Start-up Europas. Mit einem Team von zunächst zehn Personen haben wir die Marke von zwei Millionen Euro ARR in weniger als einem Jahr seit Markteintritt überschritten.

Mein Ziel war von Anfang an nicht bloß Produktivitätssteigerung, sondern ein Werkzeug, das Anwälte in jedem ihrer Workflows unterstützt und sich nahtlos einfügt. – Viktor von Essen

Unser Erfolg beruhte auf drei Faktoren: persönliche Glaubwürdigkeit, absolute Sicherheit und eine starke Community. Unsere Erfahrung aus der Praxis schuf von Anfang an Vertrauen, mit hundertprozentiger Compliance nach § 203 StGB konnten wir alle Bedenken beim Umgang mit sensiblen Daten ausräumen. Und mit der Libra Academy haben wir bereits mehreren hundert Jurist:innen pro Woche einen geschützten Raum geboten, in dem sie KI ausprobieren und verstehen konnten.

Was ist für Sie das Schönste an der Arbeit im Legal-Tech-Start-up-Umfeld?

Wir erleben gerade eine Dynamik, die es im Rechtsmarkt so noch nie gab. Und mitten in diesem Umbruch zu stehen, zu lernen, zu wachsen und gemeinsam mit einem starken Team die Zukunft des Rechts mitzugestalten, ist ein Privileg.

Wie wird sich Ihrer Meinung nach der Anwaltsberuf innerhalb der kommenden Jahre verändern?

Ich sehe drei große Entwicklungslinien für den Anwaltsberuf in den kommenden Jahren. Erstens: Strukturell wird es normal werden, dass jede Person, die Rechtsrat sucht, zunächst eine KI-Antwort erhält – wie etwa Fluggastrechten, unbezahlten Rechnungen oder dergleichen.

Zweitens: Wir werden hybride Modelle sehen, bei denen KI und Anwalt Hand in Hand arbeiten. KI übernimmt die erste Ebene der Analyse, Anwälte die strategische Beratung, die Verhandlungen und das menschliche Urteilsvermögen.

Drittens: Am Horizont entstehen aktuell native KI-Kanzleien, in denen der Mandant nur noch mit einer KI interagiert, die im Hintergrund von Anwälten flankiert wird. Das klingt futuristisch, aber genau jetzt gehen die ersten Player in diesem Feld an den Start.

Kurz gesagt: Der Beruf verändert sich fundamental, aber er verschwindet nicht. Er wandelt sich von einer reinen Wissensquelle hin zu einer Rolle, in der menschliche Urteilskraft, Strategie und Vertrauen noch wertvoller werden.


Bilder © Libra

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25.09.2025
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