Der Psychiater, Luftfahrer und Umweltschützer Bertrand Piccard hat mehrere Eisen im Feuer. Bereits seit mehreren Jahren stellt er sich den Herausforderungen unserer Zeit, um die Energiewende zu beschleunigen. Im Interview erklärt der Entdecker, inwiefern Nachhaltigkeitsvorhaben ein qualitatives Wirtschaftswachstum ermöglichen.
Bertrand Piccard, was motiviert Sie, sich weiterhin für eine nachhaltigere Zukunft zu engagieren?
Frustration angesichts der Tatsache, dass die Welt viel besser funktionieren könnte. Und dass es mehr Erfüllung, Gesundheit und gesunden Menschenverstand geben könnte. Ich begnüge mich nie mit der bestehenden Ordnung und denke, dass man immer etwas optimieren kann. Es ist eines meiner grössten Interessen, andere Vorgehens- und Denkweisen zu entdecken, um die Lebensqualität meines Umfelds zu verbessern. Die Erkundungsmentalität zielt darauf ab, Gewissheiten, Paradigmen und Dogmen infrage zu stellen. Ich frage mich laufend selbst, wie man Dinge alternativ angehen kann. Ich mag den Kontakt zu andersdenkenden Menschen und stelle mich bewusst auf die Seite der Häresie. Damit meine ich das Recht, selbst zu entscheiden, was man denken möchte.
Sie setzen sich für ein «qualitatives Wirtschaftswachstum» ein. Weshalb muss man auch heute noch den Vorstellungen von Fortschritt und Wirtschaftswachstum Rechnung tragen?
Heute funktioniert unsere Welt so, dass wir so viel wie möglich produzieren, verbrauchen und wegwerfen. Dies führt zu Verschwendung und Umweltverschmutzung bei minimalem sozialem Nutzen. Aber man könnte völlig anders vorgehen: Anstelle davon, die Quantität zu erhöhen, sollte die Qualität der Effizienz verbessert werden. Dazu gehört, nachhaltiger zu produzieren, indem man weniger Rohstoffe und Energie verbraucht sowie die Kreislaufwirtschaft fördert. Letztendlich ersetzt man das, was die Umwelt belastet, dadurch, was sie schützt. Ein qualitatives Wachstum ermöglicht, die Wirtschaft zu entwickeln und gleichzeitig das soziale Wohlergehen, die Gesundheit, die Bildung oder die Sicherheit zu gewährleisten.
Wie kann man das konkret umsetzen?
Die technologischen Lösungen, die Energie und Rohstoffe einsparen und die Verschwendung verringern, müssen implementiert werden. Das beste Beispiel ist die Energie: Drei Viertel der weltweit erzeugten Energie wird durch ineffiziente Systeme vergeudet. Dabei gibt es heute gut isolierte Häuser, die Wärmepumpen und erneuerbare Energien nutzen und CO2-neutral sind.
Ein weiteres anschauliches Beispiel ist die Wärmerückgewinnung aus Fabrikschornsteinen. Diese Wärme zurückzugewinnen und der Fabrik erneut zuzuführen, würde die Energieausgaben des Betriebes um 20 bis 40 Prozent reduzieren. Solche Massnahmen sind wirtschaftlich äusserst rentabel, da die Gewinnspanne grösser und Ausgaben kleiner werden. Die Umwandlung von umweltverschmutzenden zu umweltschützenden Systemen ist der beste Weg, um Geld zu sparen. Ausserdem werden dadurch Arbeitsplätze geschaffen.
Welche Ziele verfolgt die Solar Impulse Foundation?
Die Foundation hat sich das Ziel gesetzt, mehr als 1000 technische Lösungen zu finden, die sowohl wirtschaftlich rentabel sind, als auch die Umwelt schonen. Innerhalb von sechs Jahren haben unabhängige Expert:innen 1500 Lösungen analysiert. Diesen Ansätzen wurde das «Solar Impulse Efficient Solution Label» verliehen. Es ist das einzige Label weltweit, das die wirtschaftliche Rentabilität umweltschonender Technologien bescheinigt.
Diese Möglichkeiten den Unternehmen und der Politik aufzuzeigen, ist eine enorme Aufgabe. Für Frankreich haben wir deshalb einen Lösungsleitfaden für Städte und ein «Prêt à voter» erstellt. Letzteres besteht aus 50 Empfehlungen für Verordnungen und Gesetze, um Systeme freizuschalten, die noch ungenutzt oder unbekannt sind. Wir sind gerade dabei, dasselbe für die Schweiz zu entwerfen.
Gemeinsam mit Parlamentarier:innen haben wir auch die Swiss Coalition gegründet, bestehend aus Vertreter:innen der sechs grössten politischen Parteien, um nach Lösungen zu suchen, die allen zugutekommen. Zudem arbeite ich mit der Europäischen Kommission als Sonderberater und dem Umweltprogramm der Vereinten Nationen als Goodwill-Ambassador zusammen.
Wir benötigen Regelungen und Standards, die in Bezug auf die Effizienz viel ehrgeiziger sind und neue Lösungen fördern.
Mit wem arbeiten Sie zusammen, um diese Lösungen zu implementieren?
Wir kooperieren mit Clean-Tech-Verbänden, Vereinigungen für erneuerbare Energien, Grossunternehmen und der Politik. Es ist wichtig, Letzterer aufzuzeigen, dass die Energiewende wirtschaftlich nützlich ist. Die Sprache der führenden Politiker:innen ist jene der Wirtschaftsentwicklung, der Schaffung von Arbeitsplätzen und des industriellen Gewinns. Daher war die Debatte lange Zeit gespalten zwischen Umweltschützenden auf der einen und Wirtschaft und Politik auf der anderen Seite. Es ist aber möglich, beide zusammenzubringen, indem man Möglichkeiten aufzeigt, wie die Wirtschaft durch Umweltschutz verbessert werden kann.
Wurden einige dieser Lösungen bereits implementiert?
Ein Grossteil der Lösungen wird schon vereinzelt angewendet, allerdings nur unzureichend. Einige Städte verwenden ein System, während sie bei Häusern ein anderes einsetzen – die Umsetzungen finden also nur isoliert statt. Das Schweizer Unternehmen Holcim ist zum Beispiel in der Lage, Beton aus 100 Prozent recyceltem Bauschutt herzustellen. Weltweit ist es heute jedoch nur erlaubt, zwischen 5 und 50 Prozent recyceltes Material zu verwenden. Es sind die Vorschriften, die verhindern, dass 100 Prozent erreicht werden.
Aus welchen Gründen dauert die Implementierung von nachhaltigen Lösungen so lange?
Die Lösungsansätze prallen mit der Angst vor Veränderungen, der Trägheit des Status quo und mit Menschen zusammen, die schon immer auf dieselbe Weise funktionierten und plötzlich andere technische Lösungen anwenden müssten. Man stösst auf Verwaltungen, die aus Gewohnheit vertikal und nicht horizontal arbeiten. Die Hürden sind psychologischer, nicht technischer Natur – oftmals politische Spaltungen. Es ist noch nicht durchgedrungen, dass technische Lösungen für unser Land sowohl aus klimatischer als auch aus energiewirtschaftlicher Sicht von Vorteil sind. Zum Beispiel ist die Erhöhung der Schweizer Staudämme eine absolute Notwendigkeit, um ganzjährig saubere Energie nutzen zu können. Allerdings sind Landschaftsschutzbewegungen gewillt, jahrelang gegen solche Projekte zu demonstrieren.
Glauben Sie, dass die im Pariser Klimaabkommen festgelegten Ziele erreicht werden?
Es ist möglich, wenn man die verfügbaren schnellen, konkreten und flächendeckenden Lösungen nutzt, statt über die Probleme zu klagen.
Die Schweiz strebt ab 2050 die CO2-Neutralität an. Ist der Bund auf dem richtigen Weg, dieses Ziel zu erreichen? Was muss noch getan werden?
Viele Länder haben sich das Ziel gesetzt, bis 2050 klimaneutral zu sein. Jedoch fehlen ihnen die Werkzeuge und sie treffen ungeeignete politische Entscheidungen. Man sollte alle Lösungen auf den Tisch bringen und sehen, wie man sie nutzen kann. Diese sind kosteneffizient und können leicht finanziert werden.
Die Energiewende ist nicht teuer, schwierig oder aufopferungsvoll. Im Gegenteil, sie ist möglich, begeisternd und wirtschaftlich rentabel. Wir müssen das deprimierende und angstmachende Narrativ ändern, dass die Menschheit aussterben wird, weil wir nicht schnell genug handeln. Wir brauchen stattdessen ein Narrativ, dass die Menschen für zügige Veränderungen begeistert. Es kann aufzeigen, dass wir es schaffen können, wenn wir es wollen. Wenn es keine Lösungen gäbe, wäre die Situation tatsächlich angsteinflössend und deprimierend. Doch diese Lösungen existieren.
Welche Massnahmen können auch im Kleinen eine Verringerung des Ressourcenverbrauchs bewirken?
Jeder Mensch möchte es besser machen. Vorschriften bieten jedoch kaum Anreize für die Nutzung neuer Lösungen. Sie sorgen selbst dafür, dass die Meere weiter verschmutzt und CO2 in die Atmosphäre gelangt. Wir benötigen Regelungen und Standards, die in Bezug auf die Effizienz viel ehrgeiziger sind und neue Lösungen fördern. Dennoch gibt es eine Reihe von nachhaltigen Verhaltensweisen, die sich Privatpersonen aneignen können. Dazu gehören der Konsum lokaler Produkte, die angemessene Gebäudebeheizung und die Verhinderung von Lebensmittelverschwendung.
Welchen Vorhaben widmen Sie sich derzeit?
Ich habe zwei Projekte am Laufen: eine Weltumrundung mit einem Wasserstoffflugzeug sowie eine mit einem solarbetriebenen Luftschiff – beide ohne Zwischenlandung. Mit Letzterem soll die Reise 20 Tage dauern, während jene mit dem Elektroflugzeug auf neun Tage angesetzt ist. Beide Transportmittel befinden sich noch in der Entwicklung.
Bertrand Piccard in wenigen Worten
Was ist Ihre Bettlektüre?
Es fällt mir schwer, mich einer Bettlektüre zu widmen, da ich mehr schreibe als lese.
Wenn Sie Ihren Beruf wechseln müssten, was würden Sie wählen?
Ich habe schon so viele Berufe, dass ich nicht noch einen mehr haben möchte!
Welches ist Ihr Lieblingshobby?
Ich sammle alte Gegenstände der Luftfahrtgeschichte.
Hat Sie ein Land besonders beeindruckt?
Myanmar, das trotz seines derzeitigen diktatorischen Regimes ein wunderbares Land der Gelassenheit und Spiritualität ist.
Was ist Ihr bevorzugtes Transportmittel?
Ich fliege gerne, wenn möglich mit einem Elektroflugzeug.
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