»Investoren brauchen nicht noch mehr Nachhaltigkeitsversprechen. Was sie brauchen, sind belastbare Belege – und KI bietet die Möglichkeit, diese offenzulegen«

Dr. Benjamin Krusche
Head of Strategy und Geschäftsleiter DACH-Region
Herr Dr. Krusche, derzeit wird viel über die Glaubwürdigkeit von ESG und Sustainable Finance diskutiert. Warum ist Vertrauen Ihrer Meinung nach zu einer so großen Herausforderung geworden – und kann KI dabei helfen, dieses Problem zu lösen?
Das Vertrauen in ESG ist aus zwei Hauptgründen erodiert. Erstens hat regulatorische Unsicherheit – von der EU-Initiative »Omnibus 2025« bis hin zu den wechselnden politischen Vorgaben in den USA – zu Verwirrung und geschwächtem Vertrauen geführt. Zweitens hat das Fehlen klarer und konsistenter Definitionen von »nachhaltig« dazu beigetragen, dass Marketingversprechen oft die Realität überholen. Unsere Untersuchungen zeigen, dass rund 60 Prozent der Fonds mit Umweltbegriffen im Namen gegen EU-Vorgaben verstoßen – ein deutliches Beispiel dafür, warum die Glaubwürdigkeit von ESG häufig infrage gestellt wird. Um diese Lücke zu schließen, muss mehr getan werden – und KI gibt uns die Werkzeuge an die Hand, indem sie skalierbaren Zugang zu transparenten Daten ermöglicht und diese Probleme sichtbar macht.
Die Dringlichkeit ist offensichtlich. Allein der Klimawandel hat die Weltwirtschaft im vergangenen Jahrzehnt durch Extremwetterereignisse über zwei Billionen US-Dollar gekostet – fast so viel wie das jährliche BIP von Brasilien oder Kanada. Um Vertrauen wiederherzustellen, muss Nachhaltigkeit deutlich transparenter, vergleichbarer und stärker datengetrieben werden. Das bedeutet: weg von Versprechen, hin zu konsistenten Nachweisen, auf die sich Investoren, Aufsichtsbehörden und Verbraucher verlassen können. KI kann dabei entscheidend sein: Sie macht Nachhaltigkeitsaussagen in großem Maßstab prüfbar und unterstützt bessere Entscheidungen. Kurz gesagt: KI kann die Grundlage dafür bilden, Vertrauen zurückzugewinnen und Sustainable Finance zukunftsfähig zu machen. Und über die reine Regulierung hinaus hilft KI auch dabei, Nachhaltigkeit umfassender anzugehen – indem sie große Datenmengen verarbeitet, versteckte Risiken aufdeckt und Verzerrungen reduziert, um bessere Entscheidungen im gesamten System zu ermöglichen.
In welchem Maße kann KI Expertise ersetzen oder menschliches Urteilsvermögen in Sustainable Finance ergänzen?
KI sollte ganz klar als Ergänzung menschlicher Expertise gesehen werden – nicht als Ersatz. Die ESG-Regulierung ist enorm komplex: Seit 2011 hat die Zahl der Vorschriften weltweit um 155 Prozent zugenommen – mehr als 1250 neue Regeln in über 80 Jurisdiktionen. Gleichzeitig veröffentlichen heute 98 Prozent der Unternehmen weltweit Nachhaltigkeitsinformationen, doch vieles davon ist unvollständig, uneinheitlich oder schwer vergleichbar. Die Kombination aus fragmentierter Regulierung und lückenhaften Daten macht eine manuelle Analyse praktisch unmöglich. KI kann hier die Fleißarbeit industrialisieren – Dokumente verarbeiten, Daten extrahieren, Nachweise verknüpfen, Richtlinien prüfen und externe Quellen wie Unternehmensberichte oder Nachrichten einbeziehen.
Bei Clarity AI konzentrieren wir uns darauf, komplexe Nachhaltigkeitsinformationen durch fortschrittliche KI nutzbar zu machen. Gleichzeitig wissen wir, dass Technologie allein nicht ausreicht. Fragen wie Wesentlichkeit, Methodik, Stewardship-Prioritäten oder Risikobereitschaft erfordern menschliche Interpretation und Verantwortlichkeit. Deshalb verfolgen wir einen hybriden Ansatz: Unsere Modelle sind transparent und an sich entwickelnde regulatorische Taxonomien angepasst, während unsere Expert:innen im Prozess eingebunden bleiben – sie prüfen Ergebnisse, markieren Auffälligkeiten und trainieren Modelle bei Bedarf neu.
Wie wird KI Ihrer Meinung nach die Entscheidungsfindung im Bereich Sustainable Finance in den nächsten fünf Jahren verändern? Können Sie ein Beispiel nennen?
KI wird Sustainable Finance sowohl in der Skalierung als auch in der Qualität der Analysen grundlegend verändern. Einerseits kann sie repetitive, aber zentrale Aufgaben übernehmen – etwa Offenlegungen prüfen, Richtlinien testen oder Lieferketten abbilden – und das in einer Geschwindigkeit und Tiefe, die kein menschliches Team erreichen könnte. Andererseits verbessert KI die Entscheidungsfindung, indem sie Erkenntnisse sichtbar macht, die sonst verborgen blieben – zum Beispiel indem Klimaziele mit Investitionsausgaben verknüpft oder Portfolios gegenüber physischen Risiken Stresstests unterzogen werden. Aber die Grundlage ist entscheidend: Wenn die Daten unvollständig oder inkonsistent sind, verstärkt KI beim Skalieren lediglich die Schwächen. Deshalb sind vertrauenswürdige Eingaben und menschliche Kontrolle unerlässlich. Unsere Analysen zeigen die Lücke deutlich: Nur rund 40 Prozent der Unternehmen veröffentlichen einen Klimatransitionsplan und nur wenige stellen die notwendigen Verbindungen zwischen Zielen, Investitionen und Governance her, die Investor:innen benötigen. KI kann diese Lücke schließen – indem sie Ziele mit Investitionsausgaben und Anreizsystemen verknüpft, Portfolios in Echtzeit neu bewertet und physische Risikokarten mit finanziellen Exposures zusammenführt.
KI wird Sustainable Finance sowohl in der Skalierung als auch in der Qualität der Analysen grundlegend verändern. – Dr. Benjamin Krusche, Head of Strategy und Geschäftsleiter DACH-Region
Wir sehen das bereits in der Praxis. Ein Investor kam beispielsweise mit der Frage zu uns, welche Biodiversitätsrisiken in seinem Portfolio bestehen. Traditionelle Offenlegungen deckten weniger als zehn Prozent ab. Durch den Einsatz von KI-Modellen, die Lieferkettendaten, Handelsströme und Geodaten kombinierten, konnten wir die Abdeckung auf über 90 Prozent erhöhen und Landnutzungsrisiken sichtbar machen, die zuvor unsichtbar waren. Genau diese systemische Sichtweise ist der Bereich, in dem KI den größten Unterschied macht.
Wie verändert das die Art und Weise, wie Investoren, Unternehmen oder sogar Verbraucher:innen Entscheidungen treffen?
Entscheidungen im Bereich Sustainable Finance verschieben sich von ratinggetrieben zu evidenzbasiert. Bisher stützten sich Investoren stark auf Analystenberichte und rückwärtsgerichtete Ratings – Instrumente, die schnell veralten und für die dynamischen Nachhaltigkeitsrisiken zu statisch sind. Mit KI können Investoren diese Risiken nun mit der gleichen Strenge bewerten wie Kredit- oder Marktrisiken. So lassen sich Kapitalallokation und Stewardship-Prioritäten in Echtzeit anpassen, sobald neue Informationen verfügbar werden. Für Unternehmen bedeutet das: Statische ESG-Scores reichen nicht mehr aus. KI ermöglicht es Investoren und Kreditgebern, die Glaubwürdigkeit von Transitionspfaden genauer zu prüfen – indem Ziele mit Investitionsausgaben, Vorstandsvergütung und Lieferkettenresilienz verknüpft werden. Firmen, die solche Nachweise erbringen können, sichern sich klare Vorteile – von niedrigeren Finanzierungskosten bis hin zu höherem Investorenvertrauen.
Auch für Verbraucher:innen eröffnet KI ein neues Maß an Transparenz. Grüne Versprechen in Publikumsfonds, Renten- oder Versicherungsprodukten lassen sich mit den tatsächlichen Beständen und Ausschlüssen abgleichen. Darüber hinaus treibt KI zunehmend Tools wie CO₂- oder Wasserfußabdruck-Rechner an, die es Einzelpersonen ermöglichen, die Auswirkungen ihrer täglichen Entscheidungen sichtbar zu machen.
Wie sehen Sie den deutschen Markt in Bezug auf die Einführung von Sustainable Finance und KI-gestützten Lösungen – und welche Rolle spielt er in Ihrer globalen Strategie?
Deutschland war schon immer ein Markt, in dem Glaubwürdigkeit eine zentrale Rolle spielt. Hier treffen einige der größten Asset-Owner und Asset-Manager Europas auf eine ausgeprägte Prüfungskultur und eine Gesetzgebung, die eng an die EU-Standards angelehnt ist. Das macht den Markt zugleich entscheidend und anspruchsvoll. Das regulatorische Umfeld entwickelt sich weiter: So werden Teile des Lieferkettengesetzes derzeit abgeschwächt, während die aktuellen Aufsichtsschwerpunkte der BaFin die sehr realen finanziellen Risiken des Klimawandels hervorheben – von Extremwetterereignissen bis hin zu Störungen in den Lieferketten. Dieser doppelte Druck führt dazu, dass deutsche Institutionen Lösungen fordern, die nicht nur compliant, sondern auch prüf- und testierbar sind.
Deutschland nimmt daher in unserer globalen Strategie eine Schlüsselrolle ein. Auf institutioneller Ebene arbeiten wir mit einigen der größten Investoren der EU zusammen, die strenge, zukunftsorientierte Instrumente verlangen, um die Greenwashing-Kontroversen der Vergangenheit zu vermeiden. Für die Asset-Management-Community – insbesondere aber auch die großen KVGen, die die Produktprüfung in der DACH-Region prägen – ist die Akzeptanz entscheidend. Deshalb investieren wir stark in generative KI-Lösungen, die Nachhaltigkeitsbewertungen nachvollziehbar, erklärbar und prüfbar machen. Auch auf der Retailseite ist Deutschland ein Vorreiter: Verbraucher:innen setzen sich intensiv mit der Verfolgung ihres persönlichen CO₂-Fußabdrucks auseinander. Mit unserer jüngsten Übernahme des Berliner Unternehmens Ecolytiq skalieren wir KI-gestützte Verbraucherangebote, die Millionen von Menschen ermöglichen, ihren Klimaeinfluss zu messen und zu reduzieren. Diese drei Säulen – institutionelle Investoren, KVGen und Konsument:innen – machen Deutschland zu einem der Schlüsselmärkte für Innovation im Bereich Sustainable Finance und für die Mission von Clarity AI weltweit.
Über Clarity AI:
- Clarity AI ist ein Nachhaltigkeitstechnologie-Unternehmen, das modernste Technologien und künstliche Intelligenz einsetzt, um Investoren, Unternehmen, Regierungen und Verbraucher:innen Umwelt- und Sozialanalysen bereitzustellen.
- Clarity AI ist weltweit tätig und baut seine Präsenz in Deutschland mit Büros in Frankfurt und Berlin weiter aus.
- Dem Unternehmen vertrauen Kund:innen, die weltweit Vermögenswerte von rund 70 Billionen US-Dollar verwalten.
Mehr erfahren Sie unter www.clarity.ai
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