Zuerst Brustkrebs, dann Multiple Sklerose: Schauspielerin Christina Applegate («Eine schrecklich nette Familie», «Dead to Me») weiss, was es heisst, für ihr Leben zu kämpfen – und, dass Aufgeben keine Option ist.
Wenn man nur so viel aufgebürdet bekommt, wie man auch ertragen kann, dann muss Christina Applegate unglaublich stark sein: 2008 liess sie sich nach der Brustkrebs-Diagnose beide Brüste entfernen und vor zwei Jahren gab die Schauspielerin bekannt, dass sie Multiple Sklerose hat.
Inzwischen geht die 51-Jährige mit gravierenden Mitteilungen ihrer Ärzte anders um als früher. Bei unserem letzten Interview im Mai 2020, als sie die zweite Staffel der Netflixserie «Dead to Me» promotete, blickte sie kritisch darauf zurück, wie sie vor fünfzehn Jahren auf die Brustkrebs-Herausforderung reagierte: «Ich habe den Fehler gemacht, sofort auf Vollangriff zu schalten und auch gleich eine Stiftung zu gründen. Dabei habe ich innerlich so gelitten. Heute sage ich: Es ist okay, sich schlecht zu fühlen.» Angst zuzulassen gehört für sie nun dazu. So war sie eine der wenigen Prominenten, die am Anfang der Pandemie offen dazu standen, dass sie mit den Corona-News und dem Lockdown nicht gut klarkam. «Das Ungewisse und die Angst davor macht es für mich wirklich schwierig», sagte sie damals. «Ich sehe auf Social Media Freunde, die es total im Griff haben: Sie machen Zoom Yoga-Klassen, essen gesund und unterrichten ihre Kinder den ganzen Tag. Bei mir läuft nichts dergleichen.» Sie hatte zwar einen Stundenplan und extra ein Lernpult aufgestellt, aber ihre inzwischen zwölfjährige Tochter Sadie Grace hatte trotzdem keine Lust, Mathe zu pauken: «Ich bringe meine Tochter nicht zum Lernen und wir essen Pizza. Jeden Tag stehe ich mit dem Vorsatz auf, mich zu bessern. Aber dann ertappe ich mich, wie ich herumliege und nichts tue, ausser meinen Kopf ins Handy zu vergraben. Ich gebe mir in der Bewältigung der Coronakrise entsprechend eine ungenügende Note.»
Immerhin wusste sie, dass sie mit ihren Gefühlen nicht alleine ist. Privat bekam sie nämlich viel Zustimmung. «Ich wünschte, sie würden dazu stehen und wären auch ehrlich auf Instagram. Es wäre jetzt wirklich hilfreich, sich nicht so alleine zu fühlen.» Gedanken an Verstorbene und ihre Familien zogen sie runter. Beim Zoom-Interview trug sie einen Hut, weil sie sich nicht motivieren konnte, die Haare zu frisieren. Und das ist völlig ok.
Aber wie wir alle seither gelernt haben: Irgendwann wird «the new normal» zum Alltag. Und man rafft sich wieder auf. Und kämpft. Im Fall von Christina Applegate wurde die Coronakrise in den Hintergrund gedrängt, als ihre Freundin und «The Sweetest Thing»-Co-Star Selma Blair ihr riet, dem Kribbeln in ihren Füssen auf den Grund zu gehen und sich für MS testen zu lassen. Blair kämpft seit 2018 selbst gegen diese unheilbare Entzündungserkrankung des zentralen Nervensystems. Gemäss der Webseite der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft lässt die Krankheit «noch viele Fragen unbeantwortet». Das Beschwerdebild ist so unterschiedlich, dass man MS auch «die Krankheit mit den 1000 Gesichtern» nennt.
Christina Applegate ist nun eines dieser Gesichter, und sie hat sich entschlossen, ein Licht auf das Leben mit MS zu werfen: Auf X (ehemals Twitter) bietet sie eine Plattform für Firmen, die Kleider und andere Produkte für in ihrer Mobilität beeinträchtigte Menschen herstellen. Im vergangenen Februar ging sie als Nominierte auf dem roten Teppich der SAG Awards am Stock mit dem Anhänger «FU MS» (steht für «Fuck You Multiple Sklerose»). Den glamourösen Gehstock hat sie in Zusammenarbeit mit der britischen Firma Neo Walk selbst entworfen und fünf Prozent vom Verkauf der Kreation gehen an MS-Stiftungen.
Sie fürchtet, es war ihr letzter Auftritt als Schauspielerin bei einer Award-Show. Die dritte und letzte Staffel von «Dead to Me» zu drehen und schliesslich anzuschauen, war physisch unglaublich anstrengend und psychisch schwierig für sie, erzählte Christina Applegate in einem Interview in der Los Angeles Times: «Ich sehe mir beim Kämpfen nicht gerne zu. Wegen Mangel an Bewegung und den Medikamenten hatte ich 18 Kilo zugenommen. Ich sah nicht wie ich aus und fühlte mich auch nicht wie ich selber.» Die berufliche Zukunft sieht sie nun vor allem in Voiceover-Arbeiten oder Podcasts. Momentan kann sie sich nicht vorstellen, wieder vor der Kamera zu stehen.
Rückzug in eine Welt ohne Kameras
Eine Welt ohne Kameras ist Neuland für die Kalifornierin, denn kaum auf der Welt tauchte sie bereits ins Showbusiness ein: Christina Applegate wurde am 25. November 1971 in Hollywood geboren – der Vater war Plattenproduzent, die Mutter Sängerin und Schauspielerin. Mit drei Monaten trat sie in ihrem ersten Werbespot auf. Ihr Fernsehdebüt gab sie ein paar Monate später an der Seite ihrer Mutter in der Seifenoper «Days of Our Lives». Als Kind nahm sie Tanzunterricht: «Meine Mutter wollte, dass mich etwas Positives süchtig machen sollte. Das Tanzen hat mir auch wirklich viel gegeben, deshalb schickte ich auch meine Tochter ins Tanzen und ich sehe, wie sie dabei aufblüht», so Applegate in unserem Interview von 2015.
Mit zehn Jahren gab sie ihr Kino-Debüt im Horror-Streifen «Jaws of Satan» (auch bekannt unter dem Titel «King Cobra»). Applegate hatte bereits ein beachtliches Résumé von TV-Rollen zusammengetragen (sie spielte beispielsweise die junge Grace Kelly in einer TV-Biographie), als sie die Rolle der Kelly Bundy in der Sitcom «Eine schrecklich nette Familie» landete. Sie war sechzehn, als sie als die «Dumpfbacke» und «Schlampe» der trashy Familie Bundy international berühmt wurde. Als Sex-Symbol sah sie sich selbst nie: «Ich nahm die Rolle nie mit nach Hause. Ich trug privat kein Make-up und lief herum wie ein Hippie. Kelly Bundy war das Gegenteil von mir. Insgeheim stellte ich mir auch vor, dass Kelly eigentlich eine Jungfrau ist und ihr Image nur Fassade.» Die Serie war eine gute Schule für die ambitionierte Schauspielerin: «Ich habe da gelernt, was Komödien sind und was Comedy-Timing ist. Zuvor spielte ich in einem Polizei-Drama mit und war ein Snob, was Komödien betraf – bis ich merkte, wie schwierig die sind.» Man müsse in diesem Genre völlig furchtlos sein und sein Ego in eine Ecke stellen: «Man darf keine Angst haben, sich zu blamieren. Die Serie war wie Variété-Theater, in dem man versucht, aus 200 Betrunkenen eine hörbare Reaktion herauszulocken. Wir waren dabei die kleinen Zirkus-Äffchen mit den Tschinellen.»
Ich sehe mir beim Kämpfen nicht gerne zu. Wegen Mangel an Bewegung und den Medikamenten hatte ich 18 Kilo zugenommen. Ich sah nicht wie ich aus und fühlte mich auch nicht wie ich selber. Christina Applegate, Schauspielerin, in der Los Angeles Times
«Eine schrecklich nette Familie» lief zehn Jahre. Als man ihr nach elf Staffeln und 259 Episoden eine Spin-off-Serie um Kelly Bundy anbot, lehnte Christina Applegate ab. Sie wollte Neues ausprobieren: Sie spielte an der Seite von Will Ferrell in den «Anchorman»-Filmen mit sowie in der Sci-Fi-Komödie «Mars Attacks!» von Tim Burton. Sie sprach auch für die weibliche Hauptrolle in «Titanic» vor, die aber letztlich an Kate Winslet ging. Auch am Broadway trat sie auf, unter anderem im Musical Klassiker «Sweet Charity». Aber schliesslich blieb das Fernsehen ihr Zuhause: Sie spielte Jennifer Anistons Schwester in der Hit-Sitcom «Friends» und war der Star in den Sitcoms «Jesse» und «Samantha Who?», die beide je zwei Jahre liefen.
2001 heiratete Christina Applegate den Schauspieler und Frauenschwarm Johnathon Schaech, aber die Ehe hielt nur vier Jahre. Inzwischen ist sie seit zehn Jahren mit dem Vater ihrer Tochter, dem holländischen Musiker Martyn LeNoble, verheiratet. Er ist mein Traummann», schwärmte sie im Interview zur Komödie «Vacation». «Mit dreizehn visualisierte ich einen Punkrocker aus einem anderen Land, mit Tätowierungen und interessanten Zähnen. Und zwanzig Jahre später habe ich ihn geheiratet.»
Kreative Visualisierung ist ihr Ding. «Heute bin ich weniger spezifisch, aber früher visualisierte ich konkret eine Show mit Duran Duran, da ich ein grosser Fan der Band war. Es dauerte zwar lange, aber schliesslich drehte ich ein paar Szenen mit John Taylor für ‹Samantha Who?›.»
Diese Methode wird ihr hoffentlich auch jetzt helfen, ihre Zukunft positiv zu gestalten. Denn wie sagt sie als Jen zu ihrer krebskranken Freundin Judy in der letzten Staffel der Tragikomödie «Dead to Me»: «Wir sind noch lange nicht bei der Apokalypse angekommen.»
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