Tabus sind stillschweigende Übereinkünfte, die unser Miteinander regeln. Sie entstehen, weil wir anderen Respekt zeigen und ihre Privatsphäre schützen wollen. Jedoch können gesundheitliche Tabus auch Scham auslösen und zu grosser Ungewissheit führen – zum Beispiel bei Inkontinenz oder Infertilität.
Tabus sind das Ergebnis komplexer sozialer, kultureller und historischer Prozesse. Gesellschaften entwickeln im Laufe der Zeit bestimmte Normen, Werte und religiöse Überzeugungen, aus denen Tabuthemen entstehen können. Tabus können auch als Reaktion auf traumatische historische Ereignisse entstehen oder als Mittel zur Aufrechterhaltung von Machtstrukturen dienen. Die Angst vor einer Stigmatisierung und daraus resultierender sozialer Ausgrenzung oder Ablehnung hält viele Tabus am Leben. Themen, die als stigmatisiert gelten, werden oft gemieden, um negative Reaktionen zu vermeiden.
Unfreiwilliges Urinieren
Viele Tabuthemen im Gesundheitsbereich haben mit Ausscheidungen, Sexualität, psychischer Gesundheit, der schwindenden Lebenslust und dem Tod zu tun. Nehmen wir die Inkontinenz als Beispiel. Darunter versteht man den Verlust der Kontrolle über die Blase oder den Darm, was zu ungewolltem Urinieren oder Stuhlgang führen kann. Inkontinenz ist kein eigenständiges Gesundheitsproblem, sondern ein Symptom. Ursachen gibt es diverse.
Frauen können während der Schwangerschaft und Geburt unter Inkontinenz leiden. Auch das Alter kann eine Ursache für Inkontinenz sein, da der Alterungsprozess die Muskeln und Nerven beeinflusst, die für die Kontrolle von Blase und Darm verantwortlich sind. Neurologische Krankheiten wie Parkinson, Multiple Sklerose oder ein Schlaganfall können Nerven beeinträchtigen, die die Blasen- und Darmfunktion steuern. Bei Männern kann auch die Vergrösserung der Prostata zu Problemen der Blasenkontrolle führen.
Es gibt verschiedene Arten von Inkontinenz: Die Stressinkontinenz tritt auf, wenn der Druck auf die Blase erhöht wird, zum Beispiel beim Niesen, Lachen oder Heben schwerer Gegenstände. Die Dranginkontinenz beschreibt den plötzlichen, intensiven Drang, die Toilette aufsuchen zu müssen, gefolgt von unfreiwilligem Urinverlust. Bei der Überlaufinkontinenz wird die Blase nicht vollständig entleert. Mit der Zeit füllt sie sich und gibt unkontrolliert Urin ab. Funktionelle Inkontinenz tritt auf, wenn physische oder kognitive Beeinträchtigungen es einer Person erschweren, die Toilette rechtzeitig zu erreichen.
Trotz Kinderwunsch nicht schwanger werden
Infertilität ist ein weiteres Thema, über das viel zu wenig gesprochen wird. Sie bezeichnet die Unfähigkeit, trotz regelmässigem ungeschützten Geschlechtsverkehr innerhalb eines Jahres schwanger zu werden. Die Ursachen können sowohl bei der Frau als auch beim Mann liegen. Bei Frauen können Ovulationsstörungen, ein Eileiterverschluss oder Probleme mit der Gebärmutter vorliegen. Männer können Ejakulationsstörungen oder eine niedrige Spermienzahl, aber auch eine schlechte Spermienqualität aufweisen. Die Behandlung der Unfruchtbarkeit hängt von der festgestellten Ursache ab. Sie kann medikamentöse Therapien, chirurgische Eingriffe, assistierte Reproduktionstechnologien (wie In-vitro-Fertilisation, IVF) oder andere Ansätze umfassen.
Unfruchtbare Menschen – insbesondere Frauen – haben oft das Gefühl, dass sie ihre natürliche Funktion nicht erfüllen können und ihr Körper bei dem, wofür er geschaffen wurde, versagt. Dabei ist Infertilität keine Seltenheit. Viele Paare haben damit zu kämpfen. Im April 2023 berichtete die Weltgesundheitsorganisation WHO, dass jede:r Sechste von Infertilität betroffen ist. Auch der Generaldirektor Dr. Tedros Adhanom Ghebreyesus betonte, dass der Bericht eine wichtige Wahrheit offenbare. «Unfruchtbarkeit ist nicht diskriminierend», so Tedros. Deshalb sei es umso wichtiger, den Zugang zu Fruchtbarkeitsbehandlungen auszuweiten. Es müsse bezahlbare Wege zur Elternschaft für alle geben, die dies wünschen.
Viele Paare bilden sich ein, dass ihr Umfeld oder sogar die ganze Gesellschaft erwartet, dass sie Kinder bekommen. So wird die Unfähigkeit, Kinder zu zeugen, häufig als persönliches Versagen empfunden. Hinzu kommt, dass die Fortpflanzung eine sehr intime Angelegenheit ist, worüber viele nicht sprechen möchten – insbesondere dann nicht, wenn sie sich im emotional herausfordernden Prozess der Diagnose und Behandlung befinden. Die Entscheidung, die eigene Privatsphäre zu schützen und die persönlichen Sorgen nicht mit anderen teilen zu wollen, muss respektiert werden. Wenn das Schweigen jedoch auf Schamgefühlen beruht, sollte sich die Gesellschaft als Ganzes bemühen, das Tabu zu brechen.
Verständnis, Empathie und Unterstützung
Inkontinenz und Infertilität sind bloss zwei gesundheitliche Themen, über die wir viel zu wenig sprechen. Es gibt noch viele andere Bereiche, die mit Tabus behaftet sind, wie zum Beispiel die mentale Gesundheit, Genitalgesundheit und -pflege, sexuell übertragbare Krankheiten, Palliativmedizin und der Freitod. Die Liste ist endlos.
Eine offene Diskussion kann helfen, eine Toleranz gegenüber unangenehmen Gesundheitsthemen aufzubauen. Diese Toleranz führt im Idealfall zu einem regen Austausch, der durch die Weitergabe von Informationen und das Teilen von Erfahrungen zu mehr Aufklärung führt. Wer über seinen Schatten springt und sich traut, unangenehme Gesundheitsthemen anzusprechen, geht mit gutem Beispiel voran. Denn wer enttabuisiert, setzt sich für eine ehrliche Kommunikation und Offenheit ein und schafft einen Raum, in dem Verständnis, Empathie und Unterstützung vorherrschen. Und das wollen wir doch alle.
Niemand will sich schämen oder gedemütigt fühlen wegen eines gesundheitlichen Anliegens, wenn die Ursache für die negativen Gefühle eigentlich in fiktiven Erwartungen und unausgesprochenen Übereinkünften liegt. Die Schwierigkeit dürfte darin liegen, selbst zu entscheiden, ob es wirklich unangenehm ist, über ein Thema zu sprechen oder ob es nur unangenehm ist, weil man weiss, dass man eigentlich nicht darüber sprechen «sollte».
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