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Gesellschaft Gesundheit

Hirnverletzung: Gestern verlief das Leben noch ganz normal, heute und morgen nicht mehr

31.05.2024
von Linda Carstensen

Plötzlich ist es schwierig, die Kaffeetasse anzuheben und daraus zu trinken. Plötzlich ist es anspruchsvoll, das richtige Wort zu finden und auszusprechen. Und plötzlich ist es fast unmöglich, auf unebenem Terrain zu laufen. Plötzliche Gesundheitsprobleme krempeln das Leben von einem auf den anderen Tag um.

Beeinträchtigte Motorik nach einem Schlaganfall, Sprachprobleme durch ein Schädelhirntrauma bei einem Verkehrsunfall oder Schmerzen im Fussgelenk nach einer Sportverletzung. All diese Einschränkungen können aufgrund eines unerwarteten Ereignisses unvorhergesehen auftreten – und jeden Aspekt des täglichen Lebens der betroffenen Personen verändern. Millionen von Menschen weltweit sind jährlich von plötzlichen gesundheitlichen Einschränkungen betroffen. Die Ursachen reichen von Verkehrsunfällen und Sportverletzungen über Arbeitsunfälle bis hin zu akuten medizinischen Vorfällen wie Schlaganfälle und Herzinfarkte.

Leider ist die Gesellschaft noch zu wenig sensibilisiert auf solche Vorkommnisse. Dieser Meinung ist Yvonne Keller, Sozialarbeiterin bei Fragile Suisse, eine Organisation, die sich für Menschen mit Hirnverletzungen und ihre Angehörigen einsetzt. «Viele glauben, dass nach einer Hirnverletzung irgendwann wieder alles normal funktioniert. Das ist aber bedauerlicherweise fast nie der Fall», erklärt Keller. Häufig kommt es zu körperlichen sowie psychischen Einschränkungen – und die Betroffenen sind in der Alltagsbewältigung auf Hilfsmittel, Betreuung und Therapie angewiesen.

Medizinischer Notfall Schlaganfall

Laut der Schweizerischen Hirnschlaggesellschaft (SHG) erleiden in der Schweiz jedes Jahr etwa 16 000 Menschen einen Schlaganfall. Diese plötzlich auftretende Störung der Hirnfunktion ist die dritthäufigste Todesursache und die Hauptursache für Langzeitbehinderungen bei Erwachsenen. Allerdings: Auch wenn ein Schlaganfall akut auftritt, entwickelt sich die grundlegende Ursache häufig über Jahre hinweg. Es gibt zahlreiche Faktoren, die das Risiko eines Schlaganfalls steigern. Dazu gehören Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörung, Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus), Rauchen und Alkohol, Übergewicht, Alter und das Schlafapnoe-Syndrom (SAS).

Wie erkenne ich einen Schlaganfall?

  • akute Lähmung auf einer Körperseite oder ein gestörtes Berührungsempfinden
  • akuter und heftiger Schwindel oder Gangunsicherheit
  • plötzlich auftretende starke Kopfschmerzen, Erbrechen und/oder Übelkeit
  • Sehstörungen wie akute Doppelbilder oder akute Sehstörung an einem Auge
  • Sprach- oder Sprachverständnisstörungen: einsilbig, abgehackte Sprache, vertauschen von Silben oder Wörtern bis zum kompletten Sprachverlust, undeutliches Sprechen

Sobald die akute Phase eines Schlaganfalls überstanden ist, spielen die Diagnose, Früherkennung allfälliger Begleiterkrankungen sowie die Behandlung eine zentrale Rolle. Fortschritte in der medizinischen Technologie ermöglichen eine immer präzisere Erkennung der zugrunde liegenden Probleme, was eine gezielte und effektive Behandlung erst möglich macht.

Zusätzlich zur von den betreuenden Ärzt:innen empfohlenen Rehabilitation können Betroffene folgendes machen:

  • Auf Warnsymptome eines weiteren Schlaganfalls achten: Das Risiko für einen zweiten Schlaganfall ist in den ersten paar Monaten nach dem ersten erhöht.
  • Risikofaktoren für einen Schlaganfall verstehen und Massnahmen zur Prävention einleiten: Viele Risiken sind glücklicherweise beeinflussbar.
  • Therapie! Häufig kommt es zu einer spontanen und natürlichen Genesung des Hirns, die durch Therapie unterstützt und gefördert werden kann.

Zur Therapie gehört auch die psychologische Gesprächstherapie, die helfen kann, mit dem Schock einer schweren Diagnose umzugehen. Viele Patient:innen leiden nach einem Schlaganfall an Depressionen und Ängsten – weil sich ihre Unabhängigkeit verändert, wegen finanzieller Belastungen oder der Gefahr eines weiteren Schlaganfalls. Auch das Treffen von Gleichgesinnten und Betroffenen kann helfen, die emotionalen und mentalen Auswirkungen einer plötzlichen körperlichen Einschränkung zu bewältigen.
«Wenn etwas Einfaches wie das Wechseln einer Glühbirne plötzlich nicht mehr funktioniert, reagieren viele Betroffene mit Frust und Aggression», so Keller. Laut der Sozialarbeiterin braucht es in solchen Situationen vor allem viel Geduld, sowohl von den Betroffenen sich selbst gegenüber als auch vom Umfeld. Betroffene müssen Strategien finden, wie sie in Situationen, in denen sie sich hilflos fühlen, vorgehen können. «Wichtig ist, dass sie sich trauen, sich Hilfe zu holen», bekräftigt Keller.

Reintegration nach Vorfall

Die soziale und berufliche Integration nach einem solchen Ereignis ist eine Herausforderung. Viele Betroffene benötigen umfassende Anpassungen am Arbeitsplatz oder sogar eine völlige berufliche Neuorientierung. Hierbei sind nicht nur die Betroffenen selbst, sondern auch ihre Familien gefordert. Für sie kann es sich lohnen, sich beraten zu lassen, um ihre Angehörigen bestmöglich unterstützen zu können.

Das Schwierige ist, dass sich das Leben nach einer Hirnverletzung immer verändert. «Man ist nicht mehr die gleiche Person», bedauert Keller. Mit einer solchen Veränderung umzugehen, setzt vor allem Akzeptanz voraus – sowie die Bereitschaft, sich selbst neu kennenzulernen. Ausserdem sei es wichtig, dass sich Betroffene nicht überschätzen – sonst ist die Enttäuschung, dass etwas nicht (mehr) funktioniert, umso grösser, erklärt Keller. «Auch die Angehörigen dürfen nicht vergessen gehen, ihre Unterstützung und Beratung ist zentral.»

«Hilfe zu holen ist eine Stärke»

Keller rät der Gesellschaft, nicht per se davon auszugehen, dass sie genau weiss, was eine bestimmte Diagnose bedeutet. Bei jedem Menschen verläuft die Heilung anders, vor allem beim Hirn – denn es ist ein sehr komplexes Organ. «Wenn du eine betroffene Person im Umfeld hast, erkundige dich über die möglichen Folgen und hole dir Hilfe. Sei mutig und frag die Betroffenen selbst, wie es ihnen geht und was du beitragen kannst», bekräftigt Keller.

Die engagierte junge Frau möchte uns mit auf den Weg geben, grundsätzlich möglichst wenig Annahmen über den Verlauf einer Krankheit oder Heilung zu machen. An die Betroffenen appelliert sie: «Hilfe zu holen ist eine Stärke – und keine Schwäche! Das Leben kann auch mit einer Hirnverletzung lebenswert sein, trotz Einschränkungen.»

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