Treppensteigen als Kriterium, ob man den Bürojob wahrnehmen kann oder nicht. Was aus dieser Perspektive absurd klingen mag, ist die Realität in Unternehmen, die keine Barrierefreiheit gewährleisten. Symbolisch steht das Treppensteigen für allerlei Faktoren, die es Menschen mit Behinderungen schwer machen, einer Arbeit nachzugehen. Das «Treppensteigen» hat nichts mit Arbeitskompetenzen zu tun und doch verlieren Unternehmen daran wertvolle Mitarbeitende.
Frau Kolb, was müssen Menschen ohne Behinderung ändern, um den Weg in die Arbeitswelt für Menschen mit Behinderung zu ebnen?
Die Barriere in den Köpfen von uns allen ist das grösste Hindernis. Wir alle müssen uns bewusst sein, dass eine Behinderung oder chronische Krankheit nicht etwas ist, das lediglich «die anderen» betrifft. Um genau zu sein, werden alle von uns irgendwann mit dem Thema konfrontiert, treten doch rund 97 Prozent aller Behinderungen erst im Laufe des Lebens auf. Wir sollten deshalb eine (Arbeits-)Welt schaffen, in der wir alle gerne leben möchten, mit und ohne Behinderung. Das Ziel sollte sein, alle Menschen gerecht und respektvoll zu behandeln, was nicht gleichbedeutend mit einer identischen Behandlung für alle ist. Chancengleichheit und Gleichberechtigung bedeuten, dass jeder Mensch die gleichen Möglichkeiten und Rechte hat. Das erfordert natürlich individuelle Anpassungen und Unterstützung, um den unterschiedlichen Bedürfnissen der Menschen gerecht zu werden. Es gibt viele Vorteile eines inklusiven Unternehmens, doch durch fehlende Sensibilisierung rücken Probleme in den Vordergrund und Chancen in den Hintergrund.
Inwiefern lohnt sich Inklusion für ein Unternehmen?
Zum einen wird Innovation in Teams gefördert. Denn Menschen mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten verfügen oft über einen einzigartigen Blickwinkel und hohe Problemlösungskompetenzen, sind sie doch im Alltag mit Hürden konfrontiert, die kreative Lösungen erfordern. Zum anderen sind Mitarbeitende mit Behinderungen engagiert und loyal, sie können unter den passenden Bedingungen eine überdurchschnittliche Leistungsbereitschaft an den Tag legen. Für das Image und die Unternehmenskultur ist Inklusion ebenfalls stärkend und potenzielle Kund:innen können erkennen, dass das Unternehmen ihre soziale Verantwortung wahrnimmt und verschiedene Bevölkerungsgruppen repräsentiert. Nebenbei wirkt das Unternehmen gleich auch dem Fachkräftemangel entgegen.
Zudem ergab eine Befragung des Center for Disability and Integration an der HSG im letzten Februar, dass 15 Prozent der Arbeitnehmer:innen eine Behinderung haben. Unternehmen könnten also bereits betroffene Mitarbeiter:innen haben, ohne es zu wissen. Krankheitsfälle können immer auch während des Arbeitsverhältnisses auftreten. Eine inklusive Unternehmenskultur kann die Chancen erhöhen, Mitarbeiter:innen zu erhalten und dafür sorgen, dass eine auftretende Behinderung nicht den Verlust einer Arbeitskraft nach sich zieht.
Und was zeichnet eine inklusive Betriebskultur aus?
Eine inklusive Betriebskultur bedeutet, eine Umgebung zu schaffen, in der alle Mitarbeitenden ihr volles Potenzial entfalten können und sich wertgeschätzt und respektiert fühlen. Ein wichtiger Punkt in diesem Zusammenhang ist die Barrierefreiheit: Die Arbeitsumgebung sollte sowohl physisch als auch digital so gestaltet sein, dass sie für Menschen mit verschiedenen Behinderungen zugänglich ist. Der erste und wichtigste Schritt zur Inklusion ist Offenheit. Wenn man offen ist für alle Mitarbeitenden und in Chancen und nicht in Problemen denkt, kommt man einen entscheidenden Schritt voran und enttabuisiert das Thema Behinderung und Krankheit. Gezielte Schulungen und Workshops könnten die Bewusstseinsbildung fördern und einen Grundstein in der inklusiven Unternehmenskultur bilden.
Wann kann das Helfen die Selbstbestimmung eines Menschen beeinträchtigen, und was sollte das Ziel einer Unterstützung sein?
Unaufgefordertes Helfen bevormundet, schränkt die Autonomie ein und ist belästigend. Wer beispielsweise jemanden im Rollstuhl unaufgefordert schiebt, verhält sich übergriffig. Die Unterstützung von Menschen mit Behinderungen sollte darauf abzielen, ihnen eine gleichberechtigte Teilhabe am Leben zu ermöglichen. Dies bedeutet, dass die angebotene Hilfe den individuellen Bedürfnissen und Zielen der Betroffenen entsprechen sollte, ohne ihre Selbstbestimmung einzuschränken. Bei EnableMe liegt der Fokus darauf, Menschen mit Behinderungen und ihren Umfeldern sowie Organisationen zu unterstützen, indem wir ihnen Autonomie ermöglichen und ihnen die Möglichkeit bieten, gleichberechtigt am Leben teilzuhaben. In der Community können Betroffene sich austauschen und erhalten wichtige Hinweise von Fachpersonen.
Und was kann getan werden, wenn ein Mensch am Arbeitsplatz aufgrund der Behinderung benachteiligt wird?
Grundsätzlich sollten Betroffene oder Zeug:innen den Vorfall nach Möglichkeit den Vorgesetzten oder der Personalabteilung melden. Häufen sich die Vorfälle, kann es hilfreich sein, diese genau zu dokumentieren, damit man die Diskriminierung möglichst detailliert schildern kann. Gerade subtile Diskriminierungen werden von aussen oft nicht wahrgenommen. Grundsätzlich ist es ratsam, zu reagieren, wenn die Vorfälle sich negativ auf die mentale Gesundheit auswirken oder das Diskriminierungsverbot verletzt wird.
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