Sichtbare Behinderungen: «Es geht um die Bilder in den Köpfen, die von Menschen mit Behinderungen kursieren»
Barrieren und Vorurteile in Bezug auf Behinderungen sind allgegenwärtig und verhindern Inklusion. Kommunikations- und Inklusionsexpertin Saphir Ben Dakon veranschaulicht im Interview, welche Verantwortung jede:r von uns trägt, eine Gesellschaft zu schaffen, an der alle Menschen sich aktiv beteiligen können.
Saphir Ben Dakon, welche Denk- und Verhaltensweisen sind verbreitet, die suggerieren, dass Menschen mit Behinderungen keine vollwertigen Teilhaber:innen der Gesellschaft sind?
Im Alltag wird kontinuierlich suggeriert, dass Menschen mit Behinderungen keine vollwertigen Mitglieder der Gesellschaft sind. Zum Beispiel im Lebensbereich Freizeit, wenn Freund:innen dafür gelobt werden, dass sie mit einem Menschen mit Behinderungen befreundet sind. Als würden sie für die Freundschaft ein grosses Opfer erbringen müssen. Doch beginnt es bereits bei der Geburt, denn Eltern von Kindern mit Behinderungen wird oft nicht gratuliert, sondern kondoliert. Eine infantilisierende Haltung gegenüber Menschen mit Behinderungen setzt sich bis ins hohe Alter fort, wenn mit den vermeintlichen Betreuungsperson in der dritten Person über Menschen mit Behinderungen gesprochen wird, anstatt direkt mit ihnen zu sprechen. Gleichzeitig herrscht im öffentlichen Raum Distanzlosigkeit. Fremde Menschen erfragen voyeuristisch persönliche Details wie Diagnosen, gefolgt von unerwünschten Mitleidsbekundungen.
Wie kann jeder einzelne Mensch dazu beitragen, Menschen mit Behinderungen besser an der Gesellschaft teilhaben zu lassen?
Zunächst ist es wichtig, dass jede:r Einzelne durch Selbstreflexion erkennt, wo der eigene Handlungsspielraum für inklusives Denken und Handeln liegt und gleichzeitig am eigenen Verständnis von Inklusion arbeitet. Ich würde als Reflexionsübung vorschlagen, sich mit dem eigenen Ableismus zu beschäftigen. Hierzu lohnt es sich, Bücher und Blogs zum Thema zu lesen. Es würde bereits helfen, wenn Menschen aufhören würden, Behinderungen zu interpretieren, und stattdessen respektvoll nach der Realität fragen, ohne dabei distanzlos oder voyeuristisch zu sein. Menschen mit Behinderungen sind als Expert:innen zu behandeln. Ihr Wissen können sie aber nur in einem wirklichen Partizipationsprozess teilen. Inklusive Prozesse sind heute noch sehr selten. So würde Teilhabe und Teilgabe für alle möglich werden. Das inklusive Mindset von Menschen ohne Behinderungen kann nach aussen getragen werden, indem man sich gemeinsam mit Menschen mit Behinderungen für tatsächliche Gleichstellung einsetzt und die durch das Bewusstsein entstandene Empörung konstruktiv nutzt, um Missstände gemeinsam anzugehen.
Dabei hat die Sprache einen hohen Stellenwert, denn sie bestimmt unser Denken. Menschen mit Behinderungen sollen also auch als solche bezeichnet werden, denn nur so wird inklusive Kommunikation gefördert.
Warum fällt es Menschen so schwer, eine Behinderung eines anderen Menschen auch als solche zu bezeichnen?
Nun, die Gründe für dieses Verhalten sind komplex und umfassen ganze Bücher. Viele Menschen betrachten Behinderungen als medizinisches Problem und verbinden sie mit Negativität und Leiden. Hinzu kommt dann noch die Angst, selbst behindert zu werden. Das ergibt im Umgang mit dem Thema eine ungute Mischung, die den Diskurs unmöglich macht. Der Glaube, dass ein Leben mit Behinderungen weniger lebenswert ist, führt zu einer Abwertung des Begriffs. Doch auch weil Behinderung oft als Synonym für «dumm» oder «fehlerhaft» verwendet wird, bedienen sich Menschen dieser Bezeichnung nicht mehr, um nicht unter Verdacht zu geraten, sie würden Menschen mit Behinderungen abwerten. Indem Sie das Wort «Behinderung» im richtigen Kontext vermeiden, tun sie jedoch genau das – abwerten. Der Begriff «Behinderungen» ist lediglich der Beschrieb einer Lebensrealität und enthält an sich keine Wertung. Er zeigt auf, dass Menschen in der Interaktion mit einer nicht-hindernisfreien Gesellschaft Behinderungen entstehen, die sie an der Teilhabe und Partizipation an eben dieser hindern. Es scheint mir deshalb wichtig zu erkennen, dass das Unvermögen, Behinderungen klar zu benennen, Inklusion verunmöglicht.
Viele Menschen betrachten Behinderungen als medizinisches Problem und verbinden sie mit Negativität und Leiden. Hinzu kommt dann noch die Angst, selbst behindert zu werden. Saphir Ben Dakon
Grundsätzlich kann man sich merken, wenn über Menschen mit Behinderungen auf der Meta-Ebene gesprochen oder geschrieben wird, ist «Behinderung» immer die richtige Bezeichnung.
Warum ist es auch nicht richtig, euphemistisch über Behinderungen zu sprechen oder Menschen mit Behinderung so zu begegnen?
Euphemismus wird grundsätzlich verwendet, um unangenehme und tabuisierte Themen weniger direkt anzusprechen, impliziert also, dass Behinderungen als etwas Negatives betrachtet werden und sie deshalb schöngeredet werden müssen. Die Verwendung von Begriffen wie «Menschen mit besonderen oder speziellen Bedürfnissen» legitimiert die Segregation, indem impliziert wird, dass Menschen mit Behinderungen andere Bedürfnisse haben und dass diese Bedürfnisse in «dieser» Gesellschaftsstruktur, der Struktur der «anderen, nicht-behinderten» nicht erfüllt werden können. Segregation führt dazu, dass Menschen mit Behinderungen fremdbestimmt leben müssen und unsichtbar bleiben, verhindert ihre aktive Teilhabe an der Gesellschaft und ergibt einen endlosen Kreislauf der Ausgrenzung und Diskriminierung. Der Ausdruck «Das Leben zieht an mir vorbei» bekommt dadurch eine ganz neue Bedeutung.
Welche Rolle spielen die Medien in der Berichterstattung in Bezug auf Ableismus?
Die mediale Darstellung von Menschen mit Behinderungen ist oft durch Ableismus geprägt, sowohl in Nachrichtenberichten als auch in Film und Theater. Sie werden meist als bemitleidenswert dargestellt und/oder ihre Lebensrealitäten als Einzelschicksal betrachtet. Filmen und Medienbeiträgen fehlt es häufig an Sensibilisierung zum Thema Ableismus und sie tendieren dazu, Menschen mit Behinderungen nicht als Fachexpert:innen darzustellen. Medienschaffende sollten sich besonders bemühen, wahrheitsgetreuer über Menschen mit Behinderungen zu berichten, indem sie weg von Einzelschicksalen hin zu einer Diskussion über den systemischen Abbau von Barrieren gehen und ihre Formate in Bezug auf Behinderungen ausweiten. Es ist wichtig, dass Journalist:innen kritisch hinterfragen, ob ihre Berichterstattung Emotionen weckt, ohne die Lebensrealität von Menschen mit Behinderungen angemessen zu berücksichtigen.
Was sind die nächsten Schritte, die auf dem Weg zur inklusiven Gesellschaft gemacht werden müssen?
Die nächsten Schritte sind altbekannt. Der Schattenbericht zuhanden des UNO-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen zeigt klar auf, welche gravierenden Mängel die Schweiz zu beheben hat. Wichtig scheint mir besonders, endlich eine nationale Strategie zur Umsetzung der Behindertenrechtskonvention (BRK) finden zu wollen. Diese Strategie muss mit der Partizipation von Menschen mit Behinderungen konzipiert, verabschiedet und umgesetzt werden. Dann sollte die Schweiz auch das Zusatzprotokoll zur UN-BRK ratifizieren, wenn sie wirklich inklusiv sein will.
Abseits der rechtlichen Ebene müssen wir endlich über die Haltungen sprechen, die die Gesellschaft Menschen mit Behinderungen entgegenbringt. Denn von Ableismus geprägte Institutionen und Personen in Machtpositionen können per Definition nicht zu einer inklusiven Gesellschaft beitragen. Ich wünsche mir zu Diskriminierung und Vorurteilen also einen ehrlicheren öffentlichen Diskurs.
Was ein weiteres Problem ist, dass Menschen mit psychischer Behinderung vielmals als nicht zurechnungsfähig abgestempelt und in die Spinner Schublade werden. Die Behinderten mit nicht sichtbaren Behinderung leiden noch das sie als nicht Behindert hinter ihren eigenen Masken verstecken müssen um nich abgewertet oder minderwertig in der Arbeitswelt und der Gesellschaft gebrandmarkt werden.
Mich selber stört es das Menschen ohne sichtbarer Behinderung in diesem Bericht nicht erwähnt werden!
Lieber Michael
Vielen Dank für deinen Kommentar. Dieser Artikel widmet sich bewusst den Menschen mit sichtbaren Behinderungen. Hier gelangst du zum Artikel der nicht sichtbaren Behinderungen: https://fokus.swiss/lifestyle/gesundheit/unsichtbare-erkrankung/
Liebe Grüsse
Nina