Neue Diättrends versprechen immer wieder Gewichtsverluste und bleibende Zufriedenheit. In Wahrheit ist der Erfolg von Diäten nur von kurzer Dauer. Lockert man das Regiment, kommen die Kilos schnell wieder zurück. Intuitives Essen soll den Kampf gegen die Waage ein für alle Mal beenden. Nicht indem man dem Gewicht zu viel Bedeutung beimisst, sondern indem man dem Bauchgefühl Aufmerksamkeit schenkt.
«Intuitives Essen» ist ein Paradebeispiel für einen Pleonasmus: ein Ausdruck, bei dem der eine Begriff den anderen bereits impliziert. Essen ist per Definition eine intuitive Aktivität, sagt Alessia Couvreur, Autorin und Diätistin bei «The Mindset Dietitian». «Alle werden als intuitive Esser:innen geboren. Babys hören perfekt auf ihre körperlichen Bedürfnisse. Haben sie Hunger, weinen sie. Wenn sie satt sind, machen sie ein Bäuerchen. Hunger ist ein instinktives Signal des Körpers mit einer wichtigen Funktion: Überleben. In modernen Zeiten haben wir jedoch gelernt, das Gefühl zu ignorieren. Durch die Hektik nehmen wir uns nicht die Zeit, ruhig zu essen. Oder wir unterdrücken unsere Bedürfnisse durch Kalorienzählen oder die Vermeidung gewisser Nährstoffe.»
Die Diätkultur macht uns weis, dass wir Ernährungsregeln brauchen, um gesund zu leben. Darüber hinaus haben wir verinnerlicht, dass das Abnehmen per se etwas Positives ist. Beide Annahmen sorgen für ein gestörtes Verhältnis zu Ernährung und unserem Körper. Couvreur führt aus: «Einige Menschen plagen Schuldgefühle rund ums Essen. Diese wurden uns bereits in die Kinderwiege gelegt. Von klein auf wird uns das subtil vermittelt mit Anmerkungen über unser Gewicht oder das anderer. Schlankheit ist noch immer der Ankerpunkt. Vieler meiner Klient:innen halten an einem Idealbild ihres Körpers fest, während sie von einer Diät zur nächsten hüpfen.»
Auf die Körpersignale hören
Die Ernährungsexpertin macht geltend, dass die Auswirkungen von Diäten nach kurzer Zeit verpuffen: «Bei neun von zehn Diäthaltenden sind die abgenommenen Kilos nach fünf Jahren wieder zurück. Der berüchtigte Jo-Jo-Effekt lässt sich auch simpel erklären. So wie unsere Schuhgrösse genetisch bestimmt wird, ist auch unser Körpergewicht grösstenteils durch die Gene festgelegt. Der Körper will stets dieses natürliche Gewicht halten. Gewichtsschwankungen sind deshalb meist temporär.» Couvreur schliesst daraus, dass Diäten nicht nur sinnlos, sondern auch gesundheitsschädlich sein können. «Diäten stehen in Verbindung mit systematischen Gewichtszunahmen, einem höheren Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie tiefem Selbstbewusstsein und eine erhöhte Gefahr für Essstörungen.»
Beim intuitiven Essen geht es vor allem um die Wiederherstellung einer Verbindung zwischen Körper und Ernährung. «Schon in der Kindheit lernen wir, unseren Körpersignalen zu misstrauen. ‹Iss deinen Teller leer›, hört man oft von Eltern. Oder: ‹Erst die Kartoffeln, dann das Dessert.› Vielen Menschen geht so das Gefühl für Hunger, Sinn und Sättigung verloren», erklärt Couvreur. Eine wichtige Zielsetzung des intuitiven Essens ist es, das «interozeptive Bewusstsein» zu schärfen. Die Expertin führt aus: «Darunter versteht man die Fähigkeit, Körperreize und -sensationen wahrzunehmen. Es ist eigentlich ein einfacher Mechanismus: Wenn die Müdigkeit den Körper erfasst, ist Schlafenszeit. Wird einem kalt, zieht man sich wärmer an. Bekommt man Hunger, ist man etwas.»
Schon in der Kindheit lernen wir, unseren Körpersignalen zu misstrauen. – Alessia Couvreur, Diätistin
Wer lernt, gut auf den eigenen Körper zu hören, merkt, dass er von selbst die richtige Balance zu finden versucht. «Alle überessen einmal. Das ist menschlich. Aber genauso wie man vermeidet, dass man dringend auf die Toilette muss, möchte der Körper verhindern, dass man zu viel isst. Denn es fühlt sich schlicht nicht gut an.»
Mehr Geschmacksfreuden, weniger Stress durch intuitives Essen
Intuitives Essen richtet sich nach Prinzipien, nicht nach Regeln. Die Annäherung an diesen Ansatz lässt sich einfacher in das Alltagsleben integrieren als die Befolgung herkömmlicher Diäten, merkt die Ernährungsexpertin und ehemalige Hürdenläuferin Siliane Vancauwemberghe an. «Von meinen Kund:innen höre ich oft, dass sie vorherige Diäten abgebrochen haben, weil sie ‹zu schwierig› oder ‹zu streng› waren. Essen soll ein behaglicher und schmackhafter Moment bleiben. Klassische Diäten lassen sich oftmals nur mühsam mit den vielen Verpflichtungen und Genüssen des Soziallebens kombinieren. Auch Menschen, die einer bestimmten Ernährungsweise folgen, sollten noch vor dem Abendessen einen Aperitif geniessen oder im Freundeskreis ein Restaurant besuchen können. Ein realistischer Essplan trägt Lebensstilen und persönlichen Geschmacksvorzügen Rechnung. Er beugt ‹Entzugserscheinungen› wie Stimmungsschwankungen, Stress und Nervosität vor.»
Intuitives Essen führt zu einer gewissen Langsamkeit, wie Vancauwemberghe darlegt: «Durch das bewusste Innehalten beim Essen erlebt man Geschmäcker, Gerüche und Texturen aufs Neue. So wird das Essen wieder eine positive Erfahrung. Indem man darauf achtet, was der Körper benötigt, umgeht man zudem Frustrations- und Versagensgefühle, die oft bei restriktiven Diäten auftauchen. Das Ziel des intuitiven Essens ist das genaue Gegenteil. Die ‹Diätbrille› soll abgelegt und die Harmonie zwischen Ernährung und Lebensstil gefunden werden. Das Abnehmen ist keine direkte Bestrebung, doch eine mögliche Folge der erneuerten Balance.»
Die Resultate sind individuell unterschiedlich. Doch wissenschaftlichen Studien deuten auf ein stabileres Körpergewicht, vermindertes Risiko auf emotionales Essen, tiefere Blutfettwerte, erhöhte Levels des «guten» Cholesterin, niedrigerer Blutdruck, mehr Essensgenuss und ein positiveres Selbst- und Körperbild. «Und vor allem», betont Vancauwemberghe, «hat man mehr Energie für andere, schönere Dinge im Leben, wenn man Diäten hinter sich lässt und Frieden zwischen Ernährung und Körper schliesst. Dinge, auf die es wirklich ankommt.»
Text Heleen Driesen
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