tastatur  braillegerät
Diversität Karriere Bildung Gesundheit

Mit Sehbehinderung uneingeschränkt arbeiten

28.03.2020
von Flavia Ulrich

Die Arbeit ist ein wichtiger Teil unseres Lebens – sei es für die Pflege sozialer Kontakte, sich für etwas verantwortlich zu fühlen oder für das Gefühl, am Ende des Tages etwas erreicht zu haben. Doch Menschen mit einer Sehbehinderung werden trotz Gleichstellungsgesetz noch immer nicht genug in den Arbeitsalltag integriert.

Morgens aufstehen, sich bereit machen und zur Arbeit gehen – diese Routine kennen die meisten Menschen. Obwohl die Tätigkeit im Beruf wahrscheinlich allen mal mehr mal weniger gut gefällt, ist es dennoch eine Struktur, an die wir uns halten können. Struktur in unserem Leben ist wichtig– sie gibt uns Halt und stellt einen roten Faden dar. Nicht nur der strukturelle Aspekt ist wichtig. Arbeit gibt uns auch einen Sinn. Am Ende des Tages etwas geschaffen zu haben und die Mitarbeiter im Team, die alle am selben Strang ziehen, geben uns ein gutes Gefühl.

Auch die soziale Dimension darf nicht zu kurz kommen. Menschen, die wir im Arbeitsumfeld kennenlernen, uns prägen und zu einem wichtigen Teil in unserem Leben werden. Der alltägliche Austausch untereinander lässt uns Teil einer Gesellschaft werden. Und schlussendlich ist natürlich das Geld nicht zu vergessen. Jeder möchte seine eigenen Brötchen verdienen und selbstbestimmt leben, ohne auf den Staat angewiesen zu sein.

Arbeiten mit Sehbehinderung

Doch nicht alle Menschen in der Schweiz können sich gleich in der Berufswelt etablieren und darin integrieren. In der Schweiz leben rund 377 000 Menschen mit einer Sehbehinderung, wovon ungefähr die Hälfte im erwerbsfähigen Alter ist. Rund 65 Prozent der Personen mit einer Sehbehinderung gehen einem Beruf nach. Bei der Bevölkerung ohne Sehbehinderung liegt diese Prozentzahl bei 85 Prozent.

In der Schweiz leben rund 377 000 Menschen mit einer Sehbehinderung

Das bedeutet, dass trotz des in der Verfassung festgesetzten Rechts auf Gleichberechtigung, die Schweiz noch einen langen Weg vor sich hat, um die vollständige Integration von Menschen mit Sehbehinderung in die Arbeitswelt zu erreichen.

Menschen mit einer Sehbehinderung oder blinde Personen arbeiten in vielen verschiedenen Tätigkeitsfeldern. In einer Studie der ZHAW zum Arbeitsleben von Menschen mit Sehbehinderung wurden Berufe im kaufmännischen Bereich, in der Informatik, im Sozial- oder Gesundheitswesen als Masseure, Heilpädagogen und Physiotherapeuten am häufigsten genannt. Die Herausforderungen liegen neben einem steinigen Bewerbungsprozess auch häufig bei der richtigen Ausstattung des Arbeitsplatzes – doch mit der richtigen Technik läuft die Arbeit für einen Menschen mit Sehbehinderung genauso rund, wie für einen ohne.

Im Beruf uneingeschränkt

Sebastian* ist ein junger Mann mit Keratokonus. Durch diese Augenkrankheit verformt sich die Hornhaut des Auges kegelförmig. Dadurch sieht er mit dem linken Auge nur noch fünf und rechts rund zehn Prozent. In der fünften Klasse wurde bei ihm die Krankheit diagnostiziert, trotzdem schloss er sein Studium ohne externe Hilfe erfolgreich ab. Heute arbeitet er in einem naturwissenschaftlichen Beruf und grösstenteils am Computer. Auch bei der Arbeit läuft es trotz Sehbehinderung rund: «Für mich ist es so, dass mich meine Sehbehinderung bei der Arbeit nicht einschränkt, welche mir hoffentlich auch so gut wie möglich gelingt. Für mich ist einfach alles viel grösser auf dem Computer dargestellt und ich habe darum weniger Platz auf dem Bildschirm. Dadurch muss ich eine Balance finden, damit bei der Arbeit noch genug vom gesamten Dokument ersichtlich ist.»

Für ihn sind bei seiner Arbeit vor allem helles Licht und die Zoom-Funktion seines Computers die beiden wichtigsten Hilfsmittel. Mit einer Lupe oder spezieller Software arbeitet er nur in Einzelfällen, denn diese seien für ihn meist eher hinderlich. Er betont jedoch, dass die Einrichtung des Arbeitsplatzes sehr subjektiv ist – es kommt dabei sehr auf den Job und die sehbehinderte Person an.

Richtige Wahrnehmung ist wichtig

Mitarbeiter und Vorgesetzte kennen
Sebastian nur mit seiner Sehbehinderung. Wenn er bei Präsentationen nach vorne geht oder seine Augen zusammenkneift, damit er einige Dinge besser sehen kann, verunsichert dies ihm unbekannte Personen. «Meine grössten Ängste betreffen vor allem diese Wahrnehmung; wie man von anderen Leuten im Betrieb wahrgenommen wird. Ich möchte nicht wegen meiner reduzierten Sehfähigkeit oder einer Quote einen Job haben, sondern aufgrund meiner Fähigkeiten. Ich kann trotz meiner Sehbehinderung etwas leisten.»

Um diesen Unsicherheiten frühzeitig zu begegnen und sie zu beheben, ist die Kommunikation extrem wichtig. Eine Studie besagt, dass die offene Kommunikation im Betrieb in Bezug auf Sehbehinderungen unabdingbar ist. Denn Menschen, die ihre Sehbehinderung offen mit ihren Mitarbeitern und Vorgesetzten kommunizieren, sind sechsmal zufriedener bei der Arbeit. Auch Sebastian ist diese Offenheit wichtig: «Die Kommunikation hilft extrem, um das Verständnis zu erhalten, warum man gewisse Dinge tut. Ich habe auch meinem Vorgesetzen gesagt, jeder der möchte, sollte vorbei kommen und Fragen stellen. Ich bin nicht empfindlich, es gibt keine falschen Fragen.»

Farbig statt schwarz-weiss

Eng mit dieser offenen Kommunikation ist auch verbunden, dem Schwarz-Weiss-Denken abzuschwören. Nur so können Sehbehinderte ganz normal in die Arbeitswelt eingebunden werden. Eine Person mit einem Augenleiden danach zu beurteilen, obwohl sie eine ganze Persönlichkeit hat und noch hundert andere Dinge machen kann, ist falsch. Die Fähigkeiten sollten bei jedem Arbeitnehmer im Vordergrund stehen.

Sebastian ist es wichtig, dass die Sehbehinderung nur als Teil des Menschen gesehen wird und ihn nicht gesamthaft definiert. Denn wir alle stecken im selben Boot: «Ein Mensch mit einer Sehbehinderung hat einfach in einem Bereich eine Schwäche, so wie andere Menschen auch. Das heisst aber nicht, dass er gar nichts mehr machen kann.»

* Name der Redaktion bekannt

Text Flavia Ulrich

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Vorheriger Artikel Wie sich das Coronavirus auf die Psyche auswirkt
Nächster Artikel Deepfakes – beeindruckend und bedrohlich zugleich