In der Kindheit erleben alle Menschen nachhaltige Prägungen, die unsere Wahrnehmung der Welt stark beeinflussen. Traumatische Erfahrungen zeigen sich immer wieder im Verhalten und können sich auch negativ auf andere Menschen auswirken. Die Psychologin und Bestsellerautorin Stefanie Stahl erklärt im Interview, wie das innere Kind geprägt wird und wie man damit umgehen kann.
Stefanie Stahl, wann haben Sie damit begonnen, sich mit der Psychologie zu beschäftigen?
Mich hat bereits als Jugendliche interessiert, was für unterschiedliche Menschentypen es gibt, weshalb ich damals schon die Zeitschrift «Psychologie heute» gelesen habe.
Wie sind Sie auf die Idee gekommen, das Buch «Das Kind in dir muss Heimat finden» zu schreiben?
Die Übung mit dem Schatten- und dem Sonnenkind habe ich als Psychotherapeutin selbst entwickelt. Davor habe ich schon vier Bücher geschrieben und dachte, jetzt muss ich dieses Konzept auch zu Papier bringen. Ich wollte dieses Thema einfach einem breiten Publikum zugänglich machen.
Erläutern Sie in ein paar Sätzen, worum es in Ihrem Buch geht?
In all meinen Büchern geht es darum, dass unsere Probleme gar nicht so individuell sind und dass die Psyche einem bestimmten Bauplan folgt. Dieser Bauplan wird in der Kindheit geprägt, weil sich unser Gehirn in den ersten Lebensjahren noch stark entwickelt und das Urvertrauen oder das Urmisstrauen gebildet wird. Mit diesem geprägten Gehirn, dem inneren Kind, betrachten wir dann die Gegenwart. Die in der Kindheit erlebten Gefühle werden zur Brille, mit der wir durchs Leben gehen. Die Kindheit kann aber auch ganz in Ordnung gewesen sein, dafür hat man in der Pubertät viel Negatives erlebt. Deshalb ist es wichtig, diese Prägungen aufzudecken, die einen immer wieder in eine Sackgasse führen und die Wahrnehmung der Welt verzerren. Das Buch zeigt Wege auf, wie man sie verändern kann.
Kann man sich von seinem Schattenkind ganz verabschieden oder bleibt ein kleiner Teil für immer?
Wenn ich meine eigenen Kindheitswunden heile und die negativen Gefühle auflöse und verändere, dann kann man wirklich von einer langfristigen Heilung sprechen, sodass diese Prägungen nicht wieder auftauchen. Ein anderer Erfolg wäre, wenn das Schattenkind immer wieder auftaucht, aber man diese negativen Gefühle regulieren kann.
In all meinen Büchern geht es darum, dass unsere Probleme gar nicht so individuell sind und dass die Psyche einem bestimmten Bauplan folgt. Stefanie Stahl
Wie kann man Schutzstrategien des inneren Kindes durch bessere Verhaltensweisen ersetzen?
Schutzstrategien sind Verhaltensweisen, mit denen wir uns selbst und unsere Beziehungen belasten: Ich fühle mich im Alltag wieder einmal gekränkt, woraufhin meine Schutzstrategie ist, mich beleidigt zurückzuziehen. In dem Moment, in dem ich mich mit diesem Programm auseinandersetze, kann ich mich rechtzeitig dabei ertappen und erkennen, dass dies wieder ein alter Auslöser ist. Dann kann ich innerlich einen Schritt zur Seite gehen und feststellen, dass das «Kindheits-Ich» wieder aktiv ist. Hier kann ich mir bewusst machen, dass diese Welt da draussen nicht Mama und Papa ist und dass diese Person es gar nicht so böse gemeint hat. Es gibt keinen Grund, deswegen völlig zusammenzubrechen und ich suche nach einer Lösung, wie ich mit dieser Kritik vernünftig umgehen kann. Dann kann man eine sogenannte «Schatzstrategie» anwenden und sich für das Feedback bedanken und später noch einmal mit der Person darüber sprechen.
Wie beeinflussen soziale Medien den Umgang der Erwachsenen mit dem inneren Kind?
Es geht in beide Richtungen: Einerseits bieten die sozialen Medien viel Raum, um Gleichgesinnte zu finden, die ähnliche Probleme haben und mit denen man sich austauschen kann. Das kann einem das Gefühl geben, dass man mit seinen Problemen nicht alleine auf der Welt ist. Zum Beispiel können Menschen durch Body Positivity offener mit ihren Schwierigkeiten umgehen und besser zu ihrem Körper stehen. Auf der anderen Seite vermitteln soziale Medien manchmal das Bild, dass alle glücklicher sind als man selbst, und dieser ständige Vergleich kann sich negativ auswirken. Dies führt zu einem inneren Vergleich und kann das Selbstwertgefühl beeinflussen.
Erkennen Sie einen Wandel in der Gesellschaft, dass die Menschen sich immer mehr mit sich selbst beschäftigen?
Es gibt einen Trend, vor allem bei jungen Menschen, dass sie anfangen, über sich selbst nachzudenken. Traumata sind ein Problem, das es seit Beginn der Menschheitsgeschichte gibt. Wenn man schwierige psychische Bedingungen hatte und innere Verletzungen davonträgt, werden diese nach aussen getragen. Das sieht man an den grossen politischen Diktatoren, die alle eine traumatisierte Kindheit hatten. Je früher sich eine Gesellschaft damit auseinandersetzt, desto grösser ist die Chance auf ein friedliches Zusammenleben. Diese Selbstreflexion ist für mich im Grunde ein Teil des Schlüssels zur Rettung der Welt.
Wie gehen Sie mit Menschen um, die sagen, die Auseinandersetzung mit dem inneren Kind sei Unsinn?
Das sind Menschen, die sehr stark in der psychischen Abwehr sind und oft viele Ängste haben. Die sich wenig mit sich selbst auseinandersetzen und auch die Konzepte nicht verstanden haben. Diese Menschen fühlen sich oft bedroht und haben Angst vor Gefühlen und Erinnerungen aus der Kindheit. Sie sind ihr Leben lang damit beschäftigt, ihre inneren Ängste und Schmerzen immer wieder abzuwehren und irgendwie einen Deckel drauf zu machen. Wenn man das macht, kann man sie aber nicht verarbeiten und läuft Gefahr, sie nach aussen zu tragen, worunter andere Menschen leiden können.
Setzen sich auch Männer mit dieser Thematik auseinander?
Frauen sind offener für diese Themen. Männer sind oft noch auf der Sachebene und versuchen, Gefühle zu vermeiden und nicht wahrzunehmen. Diese Gefühle sind aber alles, was wir haben und was uns Menschen ausmacht. Und wenn ich einen schlechten Zugang zu meinen Gefühlen habe, dann ist das auch für andere Menschen schwierig. Das kann zu Aggression oder zu Isolation führen. Das Übel in der Welt ist meistens Aggression und das entsteht oft aus dem Gefühl der eigenen Unterlegenheit. Jüngere Männer sind aber viel offener und setzen sich mehr mit dem Thema auseinander.
Bild Susanne Wysocki
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