Interview von SMA

Marco Piffaretti: Die nächste Revolution in der E-Mobility steht bevor

Der E-Mobilitätsexperte enthüllt, wie bidirektionales Laden die Energiewelt revolutionieren wird.

Wenn jemand abschätzen kann, welchen Weg die E-Mobilität einschlagen wird, dann ist es Marco Piffaretti. Im Gespräch mit «Fokus» erklärt der Autodesigner und E-Mobilitätspionier, warum bidirektionales Laden das nächste grosse Thema sein wird, wie es zur Netzstabilität beiträgt – und warum die gegenwärtige Gesetzgebung (noch) einen Bremsklotz darstellt.

Marco Piffaretti, wie sind Sie zu Ihrer Pionierrolle in der E-Mobilität gekommen?

Als junger Autodesigner hatte ich das grosse Glück, die Entwicklung der modernen Elektromobilität hautnah miterleben und mitgestalten zu dürfen. Meine Reise begann mit dem Design von Solarautos im Rahmen der «Tour de Sol» im Jahr 1986. In den 1990er-Jahren leitete ich dann ein weltweit einzigartiges P&D-Projekt (Pilot und Demonstrationsprogramm) in Mendrisio und beriet private und öffentliche Unternehmen sowie Institutionen in der Schweiz sowie im Ausland. Dabei ging es um Themen wie die Entwicklung und Realisierung von Elektroauto-Prototypen und Ladeinfrastrukturlösungen. Diese Aktivitäten fanden unter dem Dach von Protoscar statt – dem ersten Unternehmen, das ich noch als Student gründete und bis 2019 leitete. Seit 2020 unterstütze ich private und öffentliche Unternehmen dabei, ihre Position im E-Mobilitätsmarkt zu finden und erfolgreiche Geschäftsmodelle und -pläne zu entwickeln. Mein Schwerpunkt liegt dabei auf dem Schweizer Markt. Als unabhängiger Berater im Bereich Elektromobilität durfte ich die umfassende Umstellung der Mobility-CarSharing-Flotte auf eine 100-prozentige Elektrifizierung mitinitiieren. Ferner helfe ich bei der Elektrifizierung der TCS-Suisse-Mitglieder und konzentriere mich auf vielversprechende Technologien wie V2X.

Porträtbild Marco Piffaretti

Welches Thema beschäftigt Ihres Erachtens den E-Mobilitätssektor derzeit am meisten – und was ist «The Next Big Thing»?

Das bidirektionale Laden, also die Fähigkeit eines Elektrofahrzeugs, nicht nur Strom zu laden, sondern auch Energie zu speichern und zurück ins Stromnetz einzuspeisen, ist seit mittlerweile zehn Jahren möglich. Aus dieser Fähigkeit ergibt sich the Next Big Thing: die Sektorkopplung. Denn wenn man zum Beispiel Gebäude mit Photovoltaikanlagen (PV) und E-Autos kombiniert, eröffnen einem die «Speicher auf Rädern» die Möglichkeit, die entstehende Energie bedarfsgerecht umzuleiten und zu nutzen. Konkret kann etwa der Überschuss an Energie, den ein Gebäude über seine PV-Anlage am Mittag generiert, ab Abend genutzt werden, ohne dass dieser dafür ins Netz zurückgespeist werden muss. Das bringt mehrere Vorteile mit sich: E-Autos können als flexible Puffer dienen und kurzfristige Schwankungen der Energieverfügbarkeit und -nutzung ausgleichen. Solche Schwankungen wurden bisher oft als Nachteil erneuerbarer Energien angeführt. Mit bidirektionalem Laden könnten E-Autos Abhilfe schaffen.

Pumpspeicherkraftwerke wiederum könnten dann für den saisonalen Ausgleich genutzt werden, wodurch wir insgesamt eine höhere Versorgungssicherheit erreichen. Dieses «V2X-Konzept» ist dezentral, demokratisch und leicht zugänglich – es schafft also einen enormen Nutzen.

Also ist die flächendeckende Einführung dieses Ansatzes nur eine Frage der Zeit?

Jein. Es ist weniger ein Hardware-Problem, da die notwendige Technologie bereits existiert. Wichtiger sind jedoch die interoperable Software und die Geschäftsmodelle. Und vor allem sind die rechtlichen Rahmenbedingungen noch nicht auf dem erforderlichen Stand.

Wie meinen Sie das?

Jedes Land hat (mindestens) einen Übertagungsnetzbetreiber, der für den Betrieb und die Überwachung des nationalen Stromnetzes verantwortlich ist. In der Schweiz ist dies die swissgrid. Diese Organisationen legen auch fest, zu welchen Konditionen Regelleistung eingekauft wird, um die Netze zu stabilisieren. Zum Beispiel werden in der Schweiz für Sekundärregelleistung mindestens fünf Megawatt (MW) verlangt. Für ein Kraftwerk ist das machbar, aber für E-Autos liegt dies aktuell ausserhalb des Machbaren, weil man dafür mehrere Hundert zusammenschliessen müsste. Dabei muss dieser Schwellenwert gar nicht so hoch sein – in Schweden kann man beispielsweise mit wenigen Hundert Kilowatt mitwirken. Eine Anpassung dieser Werte würde völlig neue Szenarien ermöglichen, wie etwa die Nutzung von E-Lastwagenflotten, die sonntags – wenn sie sowieso nicht fahren dürfen – netzdienlich genutzt werden, indem sie bedarfsgerecht laden und entladen.

Würden dadurch auch die Strompreise sinken?

Generell wird Elektrizität in Zukunft tendenziell eher weniger kosten. Denn erneuerbare Energien aus Wind und Sonne werden immer günstiger. Immer öfters wird Strom im Sommer an Sonntagen an den Strombörsen negativ gehandelt. Dies, weil an Sonntagen viele Industriebetriebe, die einen hohen Stromverbrauch aufweisen, geschlossen sind. Dadurch kommt es zu einem Stromüberschuss, der negative Preise erzeugt. Was jedoch immer teurer wird, sind die Leitungen des Stromnetzes, die den Strom quer durch Europa transportieren und lokal verteilen. Um diesem Trend entgegenzuwirken, wäre ein lokaler Ausgleich (sprich: Speichermöglichkeiten, insbesondre in Elektrofahrzeugen) wichtig, um Spitzenlasten zu vermeiden – was weniger Netzausbau bedarf.

Was muss sich also ändern?

Die Verteilnetzbetreiber haben in der Schweiz ein Monopol und dadurch wenig Anreiz, weniger Kupfer zu verbauen. Das neue Schweizer Energiegesetz hat jedoch bereits Weichen für mehr Flexibilität gestellt. Verteilnetzbetreiber sind verpflichtet, Flexibilität als Produkt anzubieten. Wenn sie das nicht tun, dürfen andere Akteure in ihr «Revier» eindringen. Flexibilität, also die Regelbarkeit der Last, braucht nur ein dynamisches Preissignal, um einen tragfähigen Business Case zu generieren.

Gibt es denn einen solchen tragfähigen Case?

Bidirektionales Laden hat sogar zwei. Der erste lautet: Man nutzt den Strom der gebäudeeigenen PV-Anlage, um den Eigenverbrauch zu optimieren. Wir nennen dies «Behind the Meter», weil der Strom in diesem Szenario innerhalb des Eigenheims genutzt wird. Wenn ich zum Beispiel meinen Mittagsstrom in die Hausbatterie oder ins Zweitauto übertrage, muss ich dafür keine Netzgebühren zahlen. Das funktioniert schon heute, und man muss rechtlich niemanden um Erlaubnis fragen. Das lässt sich übrigens mittels ZEV (Zusammenschluss zum Eigenverbrauch) oder LEG (lokale Elektrizitätsgemeinschaften) enorm skalieren und etwa auf eine ganze Siedlung ausweiten. Das ist der zweite Case. Wenn wir dann noch die Bedürfnisse der Verteilnetzbetreiber beim Verteilen dieses lokalen Stroms berücksichtigen könnten, wäre das die Königsdisziplin, weil dann echte Netzstabilität gefördert wird. Und technisch ist das bereits heute absolut möglich.

Gibt es ein Beispiel oder ein Pilotprojekt?

Wir konnten im Rahmen des «V2X Suisse» Pilotprojektes bereits beweisen, dass man durch das virtuelle Koppeln von 50 E-Autos ein virtuelles Kraftwerk betreiben kann. Doch um diese Idee im grossen Rahmen weiterzudenken, muss die Politik gleiche Voraussetzungen schaffen und Preisfairness gewährleisten. Denn wenn beispielsweise ein Pumpspeicherkraftwerk Energieverluste generiert, werden diese angerechnet. Wenn ich jedoch die gleiche Netzstabilität durch das Koppeln von E-Autos gewährleisten kann, habe ich nicht dieselben Rahmenbedingungen. Das ist ein Hemmschuh für die Weiterentwicklung von «Vehicle to Grid»-Lösungen (V2G).

Noch immer gibt es kritische Stimmen, die sich fragen, ob die Elektromobilität wirklich die Zukunft der Mobilität ist. Was sagen Sie dazu?

Die Zukunft der Mobilität ist unbestreitbar elektrisch, da sprechen die Zahlen für sich. Auch bei Lkws ist der Fall mittlerweile klar, und sogar in der Fliegerei tut sich einiges. Das diesjährige Seenachtsfest in Rapperswil-Jona bot gar die Bühne für die weltweit erste E-Flugzeugshow. Am Anfang einer neuen Technologie ist es aber normal, dass der Massenmarkt noch nicht erreicht wird. Hier muss die Politik unterstützen. Der Kanton Zürich ist ein gutes Beispiel: Erträge aus den Lenkungsabgaben werden unter anderem dazu verwendet, um bidirektionales Laden zu subventionieren. Das ist sehr vorausschauend! Mit dem Unternehmen sun2wheel, welches ich mitgegründet habe, bieten wir solche Lösungen, Privaten und Flottenbetreibern heute schon an. Zudem arbeiten wir daran, die Lkw-Flotte der DPD als bidirektionale Ladegrösse zu nutzen. Aber damit dieses Potenzial wirklich netzdienlich sein kann und sich nicht nur auf «Behind the Meter» beschränkt, müssen wir den Dialog mit den Verteilnetzbetreibern fördern: Wir müssen ihre exakten Bedürfnisse kennen, wofür klare und dynamische (Preis-)Signale notwendig sind. Es wäre daher wünschenswert, wenn der Bund Leuchtturmprojekte fördern würde, an denen sich die Verteilnetzbetreiber orientieren könnten.

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14.09.2024
von SMA
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