Hierzulande blickt man gerne mit einem gewissen Grad an Belustigung über den grossen Teich: Der sich zuspitzende Konflikt zwischen Republikanern und Demokraten in den USA erscheint Schweizerinnen und Schweizern oft absurd. Dabei zeigen aktuelle Daten, dass die gesellschaftliche Polarisierung auch hierzulande Fahrt aufnimmt. Das kann problematisch sein.
«Ein Kompromiss ist dann vollkommen, wenn alle Beteiligten unzufrieden sind.» Mit diesem berühmten Satz machte sich der französische Rechtsanwalt und Politiker Aristide Briand (Jahrgang 1862) unsterblich. Lange Zeit galt dieser Ausspruch auch als Beschreibung für die hierzulande gepflegte, pragmatische Politik. Daher wird die Schweiz gerne als Musterbeispiel für Stabilität und Konsenspolitik angesehen. Aber trifft das nach wie vor zu?
Eine kürzlich veröffentlichte internationale Studie der Mercator-Stiftung rüttelt an diesem Selbstbild: Denn es scheint, als nehme die Polarisierung hierzulande zu. Ein interessanter Aspekt der Mercator-Studie besagt, dass gerade Personen, die sich als besonders tolerant ansehen, eine erhöhte Intoleranz gegenüber anderen politischen Meinungen zeigen und damit die Polarisierung beschleunigten. Die Forschungsergebnisse lösten in der Schweiz eine breite Diskussion aus. Ivo Scherrer vom Thinktank «Pro Futuris» der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft kritisierte im «Tages-Anzeiger» zwar verschiedene Ergebnisse der Studie, betonte im gleichen Interview jedoch, dass er die politische Kultur in der Schweiz tatsächlich in Gefahr sehe.
Vom Konsens zur Konfrontation
Gemäss Scherrer, der unter anderem zum Thema «politische Polarisierung» forscht, habe sich die Schweizer Stimmbevölkerung in den letzten 25 Jahren massiv den politischen Polen zugewandt. Die Zahl der Menschen, die sich zur Mitte zählen, ist drastisch gesunken: von 30 Prozent auf knapp 15. Zudem liegen die extremen Pole der politischen Spektren im europäischen Vergleich hierzulande sehr stark und ideologisch weit auseinander. Darüber hinaus befinde sich die affektive Polarisierung in der Schweiz auf einem beunruhigend hohen Niveau. «Affektive Polarisierung» bedeutet, dass nicht nur die politischen Meinungen auseinandergehen, sondern auch die emotionale Wahrnehmung des «anderen Lagers» zunehmend negativ wird. Zwei amerikanische Studien offenbaren, dass die Schweiz in dieser Hinsicht international auffällig ist. Wie schnell diese Tendenzen zu einer festgefahrenen politischen Pattsituation führen können, zeigen erneut die Vereinigten Staaten: Die beiden Parteien des Landes zeigen sich seit Jahren nicht willens und unfähig, gemeinsam Lösungen zu erarbeiten. Die Stärkung der eigenen Position, beziehungsweise die Schwächung der Gegenpartei, hat Priorität. Diese Entwicklung in den USA belegen, welche Gefahren in einer zunehmenden Polarisierung lauern.
Bildung über demokratische Prinzipien und kritisches Denken können dazu beitragen, dass Menschen sich nicht von Polarisierung mitreissen lassen.
Welche Gründe gibt es nun für die sich öffnende Kluft in die Schweiz? Fachleute betonen, dass dies einerseits auf den schärferen politischen Dialog zurückzuführen sei. Gerade den politischen Polen wird in diesem Zusammenhang vorgeworfen, Problem- statt Lösungspolitik zu betreiben. Dieses aktuelle Klima wird auch durch die Medienlandschaft sowie deren Fokus auf kontroverse Themen beeinflusst. Medien generieren Klicks durch polemische Schlagzeilen und tragen damit nach Einschätzung mancher Expertinnen und Experten aber auch zur schlechten Stimmung bei. Die Folgen können potenziell weitreichend sein, wie Ivo Scherrer von «Pro Futuris» zusammenfasst: Die Polarisierung könne dazu führen, dass die Bevölkerung in der Schweiz ihr hohes gesellschaftliches Vertrauen verliert. «Die Schweiz ist unter westlichen Demokratien immer noch eine Ausnahme darin, wie sehr sich Menschen, die sich nicht kennen, vertrauen», führt er im Tages-Anzeiger-Interview aus. «Wenn dieses Vertrauen verloren geht, kriegen wir es nur sehr schwer wieder zurück.» Dann werde es unwahrscheinlich, konstruktive Politik machen zu können. Oder anders ausgedrückt: Wenn nur noch die Polparteien den politischen Diskurs bestimmen und die gemässigten Kräfte der Mitte wegfallen, wird eine Politik, bei der es «um die Sache» statt um Meinungen geht, schwierig.
Lösungen kommen nicht von allein
Bei Pro Futuris zeigt man sich überzeugt davon, dass es mehr Dialog braucht zwischen Menschen, die unterschiedlich denken und aus verschiedenen Lebensrealitäten kommen. Dafür müsse man Räume und Spielregeln schaffen. «Wir haben eine Art Blind-Date-Format entwickelt, wo man auf Menschen trifft, die eine maximal unterschiedliche politische Meinung haben. Wir wissen auch aus der Forschung, dass solche Formate ausgezeichnet funktionieren und auch tatsächlich die affektive Polarisierung reduzieren.»
Von verschiedener Seite wird auch die Wichtigkeit der Medienkompetenz betont: Ein gut informiertes Wählerumfeld ist weniger anfällig für polarisierende Ansichten. Bildung über demokratische Prinzipien und kritisches Denken können dazu beitragen, dass Menschen sich nicht von Polarisierung mitreissen lassen. Essenziell ist hier insbesondere auch die Förderung der Nutzungskompetenz von Social Media. Denn polemische Meinungen lassen sich, vollkommen losgelöst von Fakten, ideal über die wenig regulierten digitalen Kanäle verbreiten.
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