In der Schweiz ist nicht alles im Reinen. Auch unser Land kämpft mit vielen Herausforderungen. Und doch gelten wir als erfolgreicher Staat, der sich vom Armenhaus Europas zu einem guten Vorbild entwickelt hat. Ein möglicher Erfolgsfaktor: der Schweizer Pragmatismus.
«Mach keis Büro uf!» Der urtypische Spruch bringt nicht nur Diskussionen zum Erliegen, sondern ist vor allem Ausdruck für die Schweizer Grundeinstellung. Schon viele Male hat sich unser Land mit bedachtem Vorgehen und Fokus auf das Resultat aus schwierigen Situationen herausmanövriert. Man denke an die offene Drogenszene der 1980er-Jahre, die über die Landesgrenzen hinaus schockierte. Die steigende HIV-Infektionsrate und die wachsende Anzahl an tödlichen Drogenüberdosen – und das alles im Auge der Öffentlichkeit – zwangen Politik und Gesellschaft zum Umdenken.
Die Schweiz wurde ihrem Ruf als pragmatisches Land gerecht. Statt end- und aussichtslos gegen den Drogenkonsum anzukämpfen, entstanden die vier Säulen der Drogenpolitik inklusive einer substitutionsgestützten Behandlung der Opioidabhängigkeit. Der radikale Kurswechsel muss und musste sich gegen einige Widerstände durchsetzen, doch der Erfolg spricht für sich: Todesfälle in Verbindung mit Opioiden, HIV-Neuinfektionen und Hepatitis-C-Vorfälle sinken seit zwei Jahrzehnten kontinuierlich. Nicht zuletzt die progressive Drogenpolitik machte den Schweizer Pragmatismus berühmt.
Nutzen im Vordergrund
Pragmatismus wird häufig als ergebnisorientiertes Handeln umschrieben. Im Vordergrund steht die Sache, während Emotionen, detaillierte Überlegungen und ausschweifende Begründungen in den Hintergrund treten. Konzeptuell wird der Pragmatismus Bürokratie, Ideologie, Perfektionismus, starren Strukturen und unveränderlichen Prinzipien gegenübergestellt. Die Validität von Ideen, Massnahmen und Handlungen wird an deren Nutzen gemessen. Weiter gedacht bedeutet pragmatisches Handeln, dass man situativ entscheidet, Widersprüche akzeptiert, Ambiguitäten aushält und althergebrachte Wahrheiten infrage stellt.
Pragmatismus zeichnet sich durch Flexibilität und Dynamik aus, da er keine festgelegte, exakte Vorgehensweise beinhaltet. Ein Vorteil, der auch Anlass zur Vorsicht gibt, denn die lose Begriffserklärung lässt Interpretationsspielraum. Allzu schnell driftet eine grosszügige Auslegung des Pragmatismus in Prinzipienlosigkeit, Ideenarmut, Naivität, Populismus oder Provokation ab. Dann wäre es nicht mehr die Tugend, die so hohes Ansehen geniesst.
Lösungsorientierte Politik
Der Stellenwert des Pragmatismus in der Schweiz zeigt sich insbesondere in der Politik. Alle Parteien nutzen ihn in unterschiedlichen Kontexten, um für ihre Anliegen zu werben – ein klares Zeichen, dass der Begriff tief im Schweizer Mindset und Diskurs verankert ist. Der Föderalismus mit seiner dezentralen Organisation und der Milizgedanke fördert die Ausbildung pragmatischer Herangehensweisen. Der föderalistische Bottom-up-Ansatz findet seine Fortsetzung in der direkten Demokratie, die zusätzlich den politischen Pragmatismus und Bodenständigkeit begünstigt. Sie verhindert eine alltagsferne Regierung «von oben herab» und sorgt dafür, dass Entscheide breit abgestützt sind. Einer diametralen Gegenüberstellung von Bürgerschaft und Staat wird entgegengewirkt.
Pragmatische Regulierungen erlauben pragmatische Handlungen auf anderen Ebenen. Insbesondere, wenn die Politik nur dann reguliert, wann und wo es nötig wird. Als gutes Beispiel wird oft das DLT-Mantelgesetz genannt: Anstelle davon, eine Reihe neuer Gesetze einzuführen, wurden bestehende punktuell ergänzt, um den neuen Technologien Rechnung zu tragen und effizient Rechtssicherheit zu schaffen. Doch die pragmatische Haltung birgt auch Konfliktpotenzial: Der Verzicht auf totale Schliessungen (und radikale Öffnungen) sorgte international für Kritik. Doch die Schweiz konnte so etwas mehr Planbarkeit in chaotischen Zeiten schaffen.
Schweizer Pragmatismus bedeutet auch Effizienz und Wahlfreiheit
Dieser Ansatz von Regulierung, die grösstmögliche Flexibilität erlaubt, findet sich auch in anderen Bereichen. Zum Beispiel ist unser duales Bildungssystem weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Die Schweiz verfolgt nicht das Ziel, dass die Menschen so hochgebildet wie möglich sind. Stattdessen soll die Bevölkerung spezifisch und gründlich auf ihre Berufstätigkeit vorbereitet werden. Dieses Konzept kommt sowohl Gesellschaft als auch Wirtschaft zugute, kann im Ausland aber für Verwirrung sorgen. Die Maturitätsquote wird allgemein als Innovationsindikator herangezogen. Diese fällt in der Schweiz tiefer aus, was sich als Nachteil in Innovationsstatistiken niederschlägt. Eine differenzierte Sicht offenbart, dass es sich um einen Vorteil handeln könnte. Denn das System beinhaltet auch höhere Berufsbildungen und die Abgrenzung zwischen Berufs- und akademischer Bildung ist durchlässig gestaltet. Es erschliesst sich nicht, dass spezifisch und effizient Ausgebildete mit vielfältigen Weiterbildungsoptionen innovationsärmer sein sollen.
Regional orientiert, international führend
Innovationen sind selten individuelle Errungenschaften. Vielmehr entstehen sie durch Zusammenarbeit und Netzwerke. Der Schweizer Pragmatismus auf anderen Ebenen schafft beste Voraussetzungen für Kollaborationen. Das duale Bildungssystem sorgt dafür, dass Fachwissen nicht auf einzelne Sektoren, Gesellschaftsschichten oder Individuen konzentriert wird. Tatsächlich erhielt die Schweiz 2023 zum dreizehnten Mal den ersten Platz im Global Innovation Index und zeichnet sich insbesondere in den Bereichen Wissen und Technologie sowie Kreativität aus.
Auch die Arbeitsgesetzgebung ist pragmatisch geregelt mit dem Ziel, die Interessen von Arbeitnehmenden und -gebern zu wahren. Durch die Sozialpartnerschaft werden die Bedingungen bilateral festgelegt, mit minimalen staatlichen Eingriffen. Dieses Erfolgsmodell der Gesamtarbeitsverträge lässt Raum für regionale und branchenspezifische Eigentümlichkeiten.
Der politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Pragmatismus ist im Grunde einer der wichtigsten Erfolgsfaktoren der Schweiz. Lösungsorientierte Kompromiss- und Kooperationsfähigkeit vermeiden extreme Positionen, die die Stabilität und Funktionalität beeinträchtigen könnten. Hinter dem gängigen Ausdruck «Mach keis Büro uf!» versteckt sich mehr als eine Weigerung. Er beinhaltet die Weltanschauung, dass nicht das Maximum, sondern das Optimum die vernünftige Richtung weist.
Ob Gesammtarbeitsverträge grossen Arbeitgebern, wie Migros oder Coop, nicht vieleicht doch hinderlich sind, ihres Zeichens großzügiger mit ihren Abgestellten zu verfahren, wurde freilich nicht erörtert. Derartiges ging schon durch die Medien.