andré lüthi am flughafen
Reisen Interview

André Lüthi: «Zu sich selbst finden kann man überall»

15.05.2020
von Fatima Di Pane

Globetrotter CEO André Lüthi hat, nach eigener Aussage, im Leben viel Schwein gehabt. Im Gespräch lässt er tief blicken.

André Lüthi, Globalisierung ist bereits Realität. Ich kann in Zürich den gleichen Kaffee trinken wie in Los Angeles. Warum soll ich trotzdem reisen?

Ich glaube, das Bedürfnis, die Welt zu entdecken, steckt in uns Menschen. Wir wollen wissen, was hinter dem Berg oder auf der anderen Seite des Meeres ist. Für mich ist reisen vor allem auch entdecken und begegnen. So wird es zu einer enormen Bereicherung, zur besten Lebensschule überhaupt. Die Begegnung mit anderen Kulturen und Religionen fördert den Respekt und die Toleranz. Wenn man draussen in der Welt war, bekommt man auch einen anderen Blick auf die Schweiz.

Man wird offener, gerade im Zusammenhang mit den Religionen, das ist für mich das Wichtigste. Aber beim zehnten Mal in Mallorca, Liegestuhl Reihe 57, wird das natürlich nicht geschehen – der Liegestuhl ist einfach eine Form Länder zu sehen, die mir nicht entspricht.

Du hast den Zusammenhang von Toleranz und Reisen angetönt. Jetzt frage ich mich: Geht man auf Reisen, weil man schon tolerant ist oder führt das Reisen zur Toleranz?

Am Anfang stehen die Neugier und die Entdeckungslust. Und wenn ich dann dort bin, lerne ich die Menschen, die Religion und die Natur kennen. Das öffnet mir die Augen und ich lerne mehr, viel mehr, als wenn ich einfach zu Hause Zeitung lese. Ein schönes Beispiel: Ich war viermal in Nordkorea. Das polarisiert. Was ich hier in den westlichen Medien lese, ist das eine. Aber wenn ich mich selber im Land bewege, nehme ich ein anderes Nordkorea wahr, so sehr ich die Menschenrechtsverletzungen im Land auch verurteile. Solche Sachen erlebt man nur one to one, und nicht durch Medien. Einmal sehen ist besser als tausendmal hören.

Der Liegestuhl ist einfach eine Form Länder zu sehen, die mir nicht entspricht. André Lüthi

Du hast bereits über 100 Länder bereist. Wo warst du noch nicht?

Sag ich dir nicht (lacht). Nein, zum Beispiel in Zentralafrika, Sudan oder Kamerun. Der Teil fehlt mir. Allgemein sind es mehr Regionen, die mich faszinieren.

Ich war 49-mal im Himalaya, da gibt es Ecken, die ich noch genauer erkunden will. Aber ich sage dir nicht, wo die sind (lacht).

Wie stehst du in deiner Position zum Problem des Over-Tourism?

Es ist nicht zu verhindern. Wir sind immer mehr Menschen auf diesem Planeten und uns geht es immer besser. China und Indien stellen täglich 50 000 neue Reisepässe aus, weil die dortige Mittelklasse mehr Geld hat und nun auch reisen kann. Fürs Reisen kann man niemanden verurteilen.

Aber ich sehe diese Problematik auf uns zukommen. An gewissen Orten haben wir sie ja schon, sei es der Taj Mahal oder Luzern. Dubrovnik ist ein weiteres Beispiel. Das kleine Städtchen wird von Kreuzfahrtschiffen überrannt. Das ist weder für die Einheimischen noch für die Touristen angenehm.

Meiner Meinung nach sollten für Hotspots Kontingente aufgebaut werden, um eine gewisse Balance wiederherzustellen.

Läuft man dann nicht Gefahr, dass diese Orte nur noch für Privilegierte zugänglich sind?

Nein, es wäre first come first serve. Wie bei einem Konzert: Wenn du früh genug dran bist, hast du dein Ticket, zum gleichen Preis wie alle anderen auch. Wenn du zu spät bist, dann bist du eben zu spät.

Preiserhöhungen sind ein anderer Ansatz. Ich bin beispielsweise Verfechter davon, dass Fliegen zu günstig ist. Vierzig Franken für London und zurück, das ist wahnsinnig. Das ist nicht normal.

Mir haben schon Leute gesagt, Fliegen sei ein Menschenrecht. Das stimmt nicht. Es gibt Sachen, die sich einige Menschen leisten können und andere nicht. Einige wohnen in der Drei-Zimmer-Wohnung im Hochhaus, andere in der Villa am Zürichsee. Das ist unsere Gesellschaft. Es kann sich nicht jeder alles leisten. Das ist unfair, ja, aber es ist kein Menschenrecht für 40 Franken zu fliegen. Auch im Kontext mit dem Klima macht dies keinen Sinn.

Ist das nicht einfach zu sagen, in deiner Position?

Ja, klar. Aber warum gibt es keinen Aufstand darüber, dass es Leute gibt, die in Villen wohnen? Und andere wohnen in Spreitenbach. Aber einfach zu sagen, dass sich jeder das Fliegen leisten können sollte, ist der völlig falsche Ansatz. Früher hatte ich kein Geld. Ich habe schwarzgearbeitet, draussen geschlafen und gespart, damit ich reisen kann. Es gab eine Zeit, da hat man noch zwei Jahre gespart und sich gefreut, dass man dann einen Monat verreisen kann. Es war ein Ereignis.

Das Reisen ist nun ein Konsumgut geworden. Ein Weekend nach Riga, nach London, nach Barcelona, es kostet ja nix. Aber das Sparen auf etwas, das Freuen, das ist verloren gegangen – das ist so schade. Man konsumiert es wie einen Hamburger. Jetzt gehen wir noch ein bisschen reisen und dann kommen wir wieder.

Ich finde, es macht mehr Sinn auf diese Kurzreisen zu verzichten und einige tausend Franken zu sparen. Sich vorzubereiten, damit auseinanderzusetzen und dann eine lange Reise zu machen. Das ist ganz etwas anderes.

Das Sparen auf etwas, das Freuen, das ist verloren gegangen – das ist so schade. André Lüthi

Dir ist der Respekt vor anderen Kulturen beim Reisen wichtig. Ist dies mit Kurztrips unvereinbar?

Klar, vier Tage nach St. Petersburg zu gehen, um die schönen Bauten zu sehen und in die Geschichte einzutauchen macht das Sinn, als sich ein Wochenende lang in Spanien den Discos und dem Alkohol hinzugeben. Reisen ist zum Massengut geworden. Das ist einfach schade.

Welche Reise hättest du dir sparen können?

(Denkt lange nach) Keine. Ich habe aus jeder Reise etwas lernen können. Eine der dramatischsten Reisen meines Lebens ging nach Khao Lak, gleich nach dem Tsunami. Ich habe den ersten Rega-Jet begleitet, als noch keine anderen Hilfskräfte dort waren. Wir haben Schweizer gesucht.

Pro Tag habe ich zwei bis dreihundert Tote gesehen. Das waren sechs elende Tage. Und jetzt könnte ich sagen, das hätte ich mir sparen können. Aber ich habe dort viel über mich selbst und über den Tod gelernt. Wir konnten Menschen helfen. Von dieser tragischen Reise habe ich so viel mitgenommen.

Ein weiteres Beispiel ist die Trennung von meiner damaligen Partnerin. Wir beschlossen, uns nach neun Jahren zu trennen, doch zuerst haben wir eine Reise gemacht. Auf der Reise haben wir Briefe nach Hause geschrieben, um mitzuteilen, dass wir uns trennen. Das war nicht lustig. Aber ich habe viel gelernt.

Aber ist es nicht vielmehr deine persönliche Lebenseinstellung, als das Reisen? Hättest du diese Sachen nicht auch in Bern lernen können?

Dich selbst Kennenlernen, diese Selbstreflexion, das kannst du überall machen. Aber ich war schon immer neugierig. Ich wuchs in einem Haus am Waldrand auf. Ich wollte als Kind immer wissen, was hinter dem Wald ist. Meine Eltern mussten mich x-mal suchen. Das Entdecker-Gen, die Neugier, die steckt in mir. Das hat mich immer getrieben. Aber das Zu-dir-Finden, das kannst du wirklich überall.

Ich habe es einfach egoistisch gemacht, weil ich fremde Länder so spannend finde.

Ich wuchs in einem Haus am Waldrand auf. Ich wollte als Kind immer wissen, was hinter dem Wald ist. André Lüthi

In einem Interview sagtest du einmal, dass man authentisch sein muss, um das Glück zu finden. Woher kommt diese Einstellung?

Die kommt von einem tibetischen Mönch. Er hat erzählt, man könne erst zufrieden sein auf dieser Welt, wenn man sich selber mag. Wenn du dich magst, dann bist du dich selbst, und dann akzeptierst du dich mit deinen Ecken und Kanten.

An dir selber Sinn und Freude zu entwickeln, das gibt dir Kraft. Und dann ist man auch authentisch.

Aber wie kommt man dahin?

Ich glaube, es braucht auch Glück. Und ich hatte in meinem Leben ein paar Mal einfach Schwein. Das Glück, diesen Mönch zu treffen oder dass ich als Nobody die richtigen Menschen kennengelernt habe, um in die Reisebranche einzusteigen. Das war einfach Glück.

Glück oder Schicksal?

Was ist der Unterschied?

Ich finde, Glück suggeriert Zufall. Schicksal nicht.

Was ist denn Karma?

Hinter Karma steht eine Logik.

In der Religion schon, das stimmt. Aber für mich verzahnen sich Karma, Glück und Logik. Wenn ich Glück sage, ist es für mich etwas, das ich nicht steuern kann. Ich habe Schwein gehabt. Viele wollen das nicht wahrhaben, vor allem Männer, wenn sie etwas älter werden. Dann schreiben sie Bücher über ihre Heldentaten, aber es ist nun mal nicht alles selbst gemacht. Man war im richtigen Moment am richtigen Ort und hat die richtigen Menschen getroffen. Warum bist du hier geboren und nicht im Kongo? Es ist nicht alles selbst gemacht.

Du bist per Autostopp von Bern nach London gereist. So faszinierend ich das finde, mein erster Gedanke war: Als Frau wäre das unmöglich, viel zu gefährlich. Glaubst du, dir steht beim Reisen mehr offen, weil du ein Mann bist?

Nein, das glaube ich nicht. Die Welt ist so von Angst geprägt. Wir versichern uns vor allem und jedem, impfen uns zu Tode und für jede Bewegung gibt es einen Helm. Das finde ich so schade. Denn in 95 Prozent der Fälle passiert nichts, wenn du dich auf die Welt einlässt und auf die Menschen.

André Lüthi

André Lüthi

Was ist der fatalste Reisefehler, der oft begangen wird?

Zu viel und zu kurz. Aber daran ist die Branche schuld. Die Industrie bietet Sachen an, die nicht normal sind. 980 Franken eine Woche Bali mit Flug und Halbpension. Und wenn das Angebot da ist, verstehe ich den Konsumenten, der es auch annimmt. Der grösste Fehler ist es, dieser Verlockung nachzugeben, anstatt sich Zeit zu nehmen und sich etwas zu überlegen. Da kann es auch manchmal kompliziert werden und man muss ein bis zwei Jahre sparen. Aber man sieht das Inserat, 500 Franken für eine Woche Mallorca und dann macht man es. Zu kurz, der Verlockung erlegen und null Vorbereitung.

Denn in 95 Prozent der Fälle passiert nichts, wenn du dich auf die Welt einlässt und auf die Menschen. André Lüthi

Die meisten haben fünf Wochen Ferien im Jahr und begrenzt Budget.

Aber dann kannst du trotzdem sagen, ich gehe drei Wochen am Stück, statt viermal ein Wochenende einen Citytrip. Und diese fünf Wochen Ferien, das ist ein Problem der Arbeitgeber. Unsere Mitarbeitenden haben zwölf Wochen Ferien, fünf bezahlt, sieben unbezahlt. Das ist ein Riesenaufwand für das HR und die Leitung aber die Leute leben ihre Leidenschaft, gehen reisen und kehren mit Know-how zurück. Wenn ein Arbeitgeber will, können die meisten jedem Mitarbeiter noch zwei Wochen unbezahlt geben. Aber wir haben so ein System…

Leidest du an Flugscham?

Ich schäme mich nicht für meine Flüge. Dieses Flugbashing ist undifferenziert. Fliegen ist schädlich, das stimmt natürlich, es trägt zum CO2-Ausstoss bei. Aber dann schaue ich unseren Konsum an. Ein Beispiel: Die Kleider, die wir tragen sind zu 80 Prozent in Asien produziert, sie kommen mit stinkenden Frachtern nach Europa. Es geht nicht um das gegenseitige Ausspielen – mir fehlt einfach die Gesamtbetrachtung. Mobilität können wir nicht zurückspulen, das ist ein Bedürfnis geworden. Das Ziel muss eine sauberere Mobilität sein.

Ich schäme mich nicht für meine Flüge. Dieses Flugbashing ist undifferenziert. André Lüthi

Die Flugticketabgabe, die gerade diskutiert wird im Nationalrat, die Branche ist mehrheitlich dagegen. Ich bin dafür, aber nicht, dass die Taxe für AHV und Krankenkassenvergünstigungen verwendet wird. Das Geld muss in die Forschung, um sauberere Technologien zu erforschen, damit wir uns sauberer bewegen können. Aber das Bewegen zu verbieten, wird niemals funktionieren. Der Mensch ist fähig. Wir fliegen auf den Mond, wir können weltweit telefonieren, wir haben schon so viel Blödsinn erfunden. Ich setze mich dafür ein, dass viel mehr in Forschung und Entwicklung neuer Technologien gesteckt wird. Und wir müssen bereit sein, für das Fliegen mehr zu zahlen.

Welche Werte möchtest du deinen Kindern mitgeben?

Zum einen, mit einer gewissen Demut durch die Welt zu gehen. Wir sind wahnsinnig privilegiert. Das ist nicht selbstverständlich. Und diese ewigen Ansprüche, die wir haben, müssen wir zurückschrauben.

Auch Vertrauen finde ich wichtig. Wir vertrauen einander immer weniger. Es wird mehr und mehr kontrolliert und abgesichert, alles ist von Skepsis geprägt, vom Business bis zur Beziehung.

Vertrauen muss man sich aber auch leisten können. Wer eine starke Persönlichkeit hat, kann leichter Vertrauen schenken.

Aber warum hast du die starke Persönlichkeit? Da sind wir wieder beim Karma (lacht). Aber Vertrauen ist eine schöne Basis: Es entspannt dich. Wenn du zwölf Stunden im Flugzeug sitzt und dich permanent fragst, ob der Pilot alles im Griff hat, ist das ein unglaublicher Stress. So ist es auch im Leben. Vertrauen und entspannen.

Interview Fatima Di Pane     Bilder zvg

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