ingenieurwesen ingenieurwesen im wandel
Ausbildung Karriere Industrie Innovation

Ingenieurwesen im Wandel

21.04.2021
von Evgenia Kostoglacis

Die Digitalisierung dominiert den Alltag. Auch jenen der Ingenieur*innen. Wie die fortschreitende Digitalisierung den Berufsalltag der Bauingenieur*innen beeinflusst, erzählen Vorstandsmitglieder der Gesellschaft für Ingenieurbaukunst. 

Die Industrie 4.0 bringt viele neue Anforderungen an Bauwerke mit sich. «Materielle, ökologische, nachhaltige, statische, architektonische und gebäudetechnische Veränderungen kommen auf uns zu. Man kann sagen, dass manche Disziplinen sich geradezu neu erfinden», erklärt Frau Clementine Hegner-van Rooden, diplomierte Bauingenieurin, Fachjournalistin und Geschäftsleiterin der Gesellschaft für Ingenieurbaukunst.

Zwischen Chancen und Unsicherheit

Frau Hegner-van Rooden betont, dass die Digitalisierung in der Baubranche grundsätzlich nichts Neues ist. Sie stellt eher eine breite Weiterentwicklung dar, bei der auch Werkzeuge kombiniert werden, die teilweise schon Jahrzehnte lang existieren. «Die aktuellen digitalen Mittel sind aber allumfassender. Die Vernetzung und die Abhängigkeit einzelner Aspekte wird je länger desto grösser und unübersichtlicher. Digitalisierte Modelle helfen, Abhängigkeiten verschiedener Gewerke aufzudecken und deren Auswirkungen automatisiert abzurufen. Die Planung und die Ausführung können im besten Falle effizienter koordiniert werden. Heute geht es zudem vielmehr auch darum, alle relevanten Informationen gut geordnet für die Zukunft digital zu archivieren. Der höhere Initialaufwand rechtfertigt sich aber letztlich erst mit der Verfügbarkeit der zukünftigen Daten. Das erfordert ein Umdenken. Das Aufwand-Nutzen-Verhältnis darf nicht isoliert für eine konkrete Baumassnahme betrachtet werden.» So gesehen, verhelfen die digitalen Werkzeuge den Ingenieur*innen dazu, den Gesamtüberblick zu behalten und Planung, Ausführung aber auch den Betrieb effizienter zu koordinieren – trotz enorm hoher Informations- und Datenmenge.

Auch Frau Cristina Zanini Barzaghi, Vizepräsidentin der Gesellschaft für Ingenieurbaukunst, nimmt die positiven Aspekte der Industrie 4.0 zur Kenntnis. «Man denke nur an die Vorfabrikation oder den 3D-Druck. Dank der Digitalisierung werden sich diese Prozesse inklusive der dafür notwendigen Materialisierung stark entwickeln. Das ist gut so, denn es gibt durchaus Potenzial für nachhaltigere, effizientere und schlankere Konstruktionen.» Sie fügt hinzu, dass die Digitalisierung es den Ingenieur*innen auch ermöglicht, virtuelle Prototypen zu erstellen, die man vorab testen kann. «Das ist neu und vorteilhaft. Wenn auf Baustellen etwas nicht funktioniert oder fehlerhaft ist, hat man in den meisten Fällen etwas übersehen. Dies gilt es mit der Digitalisierung zu verhindern.»

Herr Conrad Jauslin, Quästor der Gesellschaft für Ingenieurbaukunst, vergisst dabei auch nicht die schwierigeren Aspekte. «Es herrscht eine gewisse Verunsicherung im Umgang mit den neuen digitalen Mitteln. Alle Beteiligten erkennen zwar, dass die Digitalisierung die Chance bietet, die seit Langem nötige Produktivitätssteigerung der Baubranche herbeizuführen. Doch wie der dafür erforderliche Paradigmenwechsel umgesetzt werden kann, ist noch mehr oder weniger unklar.» Er beteuert, dass die heutige Software mehr als nur ein Werkzeug ist, um immer verrücktere Bauwerke zu erstellen. «Die Bauherrschaft kann die im digitalen Modell abgelegten Informationen über die gesamte Lebensdauer des Bauwerks abrufen. Genau darin liegt das Potenzial des vereinheitlichten, digitalisierten Planungsprozesses. Wenn das Team dies erkennt, dann entsteht auch ein betrieblicher Mehrwert.»  

Die Kreativität gewinnt die Oberhand

Heute ist Künstliche Intelligenz zu vielem imstande. Sie kann Musik, Texte und auch Bilder kreieren. Besteht somit die Möglichkeit, dass KI die Kreativität der zukünftigen Ingenieur*innen im Keim erstickt? Nein. Herr Jauslin behauptet sogar, dass das Gegenteil der Fall sein wird. «Die Digitalisierung wird mehr Kreativität verlangen, weil vieles vermehrt im virtuellen Raum entwickelt wird. Dafür benötigt man ein hohes Mass an Vorstellungsvermögen und somit Kreativität.»
Auch Thomas Rimer, Bauingenieur in Holztechnik und Beisitzer der Gesellschaft für Ingenieurbaukunst, schliesst sich dieser Meinung an. Er betont, dass die Digitalisierung kein Zwang ist, sondern ein Hilfsmittel: «Vieles, was reine Routinearbeit ist, kann nun automatisiert werden. So werden mehr Ressourcen für die kreative Arbeit frei – und diese ist eben nicht durch KI ersetzbar.» 

Werden Ingenieur*innen in Zukunft überflüssig?

Vielen bereitet der Aufstieg der immer leistungsstärkeren KI-Systeme Sorgen. Darunter befand sich auch einer der wohl bekanntesten Wissenschaftler unserer Zeit, Stephen Hawking. Laut Dr. Ekatarina Nozhova, Beisitzerin der Gesellschaft für Ingenieurbaukunst, erübrigt sich die Frage, wenn man sich die Entstehung eines Bauwerks phasengenau vor Augen hält. «Menschen nehmen eine gewichtige Rolle ein – in der Kommunikation, in der Koordination und auch während der Bewilligungsphase.» Die fortschreitende Digitalisierung hat also nicht das Ende der Menschheit zur Folge – und auch nicht einen sinkenden Bedarf an Ingenieur*innen. Frau Zanini erwartet, dass sich schlicht und einfach neue Berufe im Bauwesen etablieren. «Für die Entwicklung Künstlicher Intelligenz braucht es vorerst sehr viel menschliche Intelligenz – insbesondere von den Ingenieur*innen», betont Jauslin. Auch Frau Hegner-van Rooden sieht die Situation ähnlich. «Die Digitalisierung wird die Menschlichkeit – also die kultivierten humanen Werte – kaum in die Belanglosigkeit verdrängen. Gerade wenn wir das Potenzial der Digitalisierung noch durchwegs ausschöpfen. Es gilt beispielsweise den Graben zwischen den heute oft noch «archaisch» funktionierenden Baustellen und der «laborhaften» Planung zu überwinden, indem man digitale Modelle so aufbereitet, dass sie für jede Bauphase brauchbar sind. Erst dann reden wir von einer digitalen Durchgängigkeit.»

Ein steigender Frauenanteil ist für die Zukunft von Vorteil

Nach wie vor sind Frauen in den sogenannten MINT-Berufen deutlich in der Unterzahl. Im Vergleich zu anderen Berufsfeldern wie Medizin, Recht oder Wirtschaft ist die Frauenquote nur geringfügig gestiegen. «Aber die Tatsache, dass der Frauenanteil im männerdominierenden Umfeld des Baugewerbes langsam zunimmt, ist erfreulich. Dieser Anstieg bringt viele Vorteile – gerade bezüglich neuartiger Impulse im Bereich der Kreativität und der Vielseitigkeit in der Entwicklung von Projekten, aber auch im Bereich der interdisziplinären Arbeit» erklärt Frau Zanini.

Mehr Konkurrenz? 

Die immer fortschreitende Digitalisierung bedeutet zudem auch mehr Konkurrenz. «Man muss damit rechnen, dass ‹Baubranchenfremde auf die Idee kommen, ins Baugewerbe einzudringen – analog Tesla, sprich Elon Musk in der Autoindustrie», erklärt Herr Jauslin. Dabei findet der Konkurrenzkampf nicht nur im regionalen, sondern auch im globalen Raum statt. «Die Schweizer Qualität ist zwar hoch, aber auch teuer. Dies bedingt letztlich höhere Löhne. Dennoch sind die Honorare im Baugewerbe heute oft viel tiefer als in anderen Berufsbranchen, besonders bei akademisch ausgebildeten Ingenieur*innen und Architekt*innen. Es gilt also, mit innovativen und kreativen Projekten sowie mit hervorstechender – digitaler oder analoger – Leistung konkurrenzfähig zu bleiben», betont Frau Zanini. 

Heute erfordert das Ingenieurwesen ein Umdenken 

Die Digitalisierung ist heute nicht einfach eine technische Entwicklung, sondern ein genereller Anspruch an die heutige Gesellschaft. Dies schliesst auch das Ingenieurwesen mit ein. Herr Rimer verdeutlicht, dass die Erwartungen an die technischen Fähigkeiten nicht per se grösser geworden seien. Jedoch sei es von Belang, dass dem sehr wichtigen konzeptionellen Entwerfen entsprechendes Gewicht gegeben werde. «Im positiven Sinne! Als Tragwerksplaner reicht es nicht, unendlich komplexe Geometrien in Finite-Element-Programmen berechnen zu können und die Nachweise für die schlanksten Tragelemente zu führen.» Frau Nozhova ergänzt: «Der Grundsatz der ökologischen Nachhaltigkeit – beispielsweise in Form der zu erreichenden Energiebilanz – erfordert von den Ingenieur*innen generell ein Umdenken. Dieser Denkwechsel fordert die Gesellschaft und die Wirtschaft mit gutem Grund auch ein.» Es gilt also, nachhaltiger und weitsichtiger zu planen. Deshalb betont Herr Rimer: «Statisch sinnvolle und mit respektvollem Umgang der Ressourcen umsetzbare Bauprojekte sollten entwickelt werden. Das ist schwierig, kompliziert und zuweilen verworren, aber auch spannend, herausfordernd und – wenn umgesetzt – höchst zufriedenstellend!

Ingenier*innen im Jahr 2030 

Die Digitalisierung verändert schon heute unsere Kommunikation. Es überrascht also nicht, dass zukünftig die Arbeit von Ingenieur*innen immer häufiger im virtuellen Raum stattfinden wird. «Die Kommunikation zwischen der Bauherrschaft, den Architekt*innen und den Fachplaner*innen wird vor allem anhand der virtuellen Realität von digitalen Modellen erfolgen. Mit der fortschreitenden Projektierung nähern sich die digitalen Modelle dem ‹virtuellen Zwilling des reellen Bauprojektes an», erklärt Jauslin. Gerade auch durch die Pandemie werden physische Besprechungen immer seltener. «Diesbezüglich hat man in den letzten zwei Jahren einen enormen Sprung gemacht – covidbedingt erzwungenermassen. Der persönliche Kontakt – physisch oder über Video – wird aber mindestens so intensiv sein wie heute.»

Zielgerichtete Zukunftserwartungen 

Die Ingenieur*innen der Zukunft müssen sich gefasst machen. Künftig benötigt man viel mehr als nur einen guten Abschluss. «Auf alle Fälle braucht man eine ausgeprägte Kommunikationsfähigkeit. Aber sich auch Kraftflüsse in den Strukturen vorstellen zu können, ist wichtig. Nur so schafft man es im Gespräch mit Projektpartner*innen, funktionierende Gebäude zu entwickeln», erklärt Herr Rimer. Auch Herr Jauslin betont die Wichtigkeit dieser Eigenschaft. «Auch in Zukunft braucht es ein gutes Vorstellungsvermögen für die intelligente Konzeption digitaler Modelle. Die Ingenieur*innen sollen für die Anforderungen aus Nutzung und Gestaltung das optimale Tragkonzept finden. Sie sollen mit der entsprechenden konstruktiven Umsetzung präzise Kosten- und Terminvorgaben erreichen und ebenso mit raffinierten Baumethoden eine wirtschaftliche Umsetzung ermöglichen.» 

Da das Ingenieurwesen unseren heutigen und künftigen Lebensraum prägt, muss das Bewusstsein über die Verantwortung in diesem Beruf gegenwärtig sein. «Alle Ingenieur*innen muss bewusst sein, welchen Einfluss sie auf die gebaute Umwelt haben», so Frau Zanini. «Sie dürfen nicht vergessen, welche gewichtige gesellschaftliche und ökologische Rolle sie dabei einnehmen. Nachhaltigkeit und der schonende Umgang mit Ressourcen sind wesentliche Kriterien für gelungene und langlebige Bauten. Dieses Gespür und diese Affinität sind schlicht unabdingbar.»

Text Evgenia Kostoglacis

Eine Antwort zu “Ingenieurwesen im Wandel”

  1. Thomas Karbowski sagt:

    Gut zu wissen, dass der Frauenanteil im männerdominierten Umfeld des Baugewerbes langsam zunimmt. Meine Nichte möchte Ingenieurwesen studieren. Sie freut, dass der Frauenanteil nicht nur im Baugewerbe, sondern auch in den MINT-Berufen steigt.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Vorheriger Artikel Dirk Rossman hat sich das Thema seines Buches nicht ausgesucht – es hat ihn ausgesucht
Nächster Artikel Weit weg vom Mittelalter