Pascal Bornet setzt sich seit rund einem Vierteljahrhundert mit Fragen der künstlichen Intelligenz sowie der Automation auseinander. In seinem neuen Buch «Irreplacable» geht es der KI-Experte der Frage nach, wie Menschen im digitalen Zeitalter unersetzbar bleiben. Genau das wollten wir auch von ihm wissen.
Pascal Bornet, KI ist derzeit das Trendthema schlechthin. Doch wie kann man zwischen Hype und echter Innovation unterscheiden – und welche Entwicklungen im Bereich KI begeistern Sie?
Es gibt tatsächlich eine Menge Hype sowie Missverständnisse rund um KI. Umso mehr faszinieren mich KI-Innovationen, die das tägliche Leben der Menschen verändern. Ein Beispiel dafür sind etwa KI-gesteuerte Hörgeräte, die es Babys ermöglichen, zum ersten Mal die Stimmen ihrer Eltern zu hören. Oder KI-Systeme für öffentliche Schwimmbäder, die sofort Alarm schlagen, wenn jemand zu ertrinken droht. Solche Errungenschaften im Feld der künstlichen Intelligenz finde ich hochgradig spannend. Um solche «echten» Innovationen zu entdecken, muss man zuerst den «Lärm» ausblenden und sich auf die wirkungsvollen Anwendungen der KI fokussieren, die das menschliche Potenzial sowie unser Wohlbefinden steigern. Wenn wir uns auf diese greifbaren, auf die Menschen und ihre Bedürfnisse bezogenen Beispiele konzentrieren, können wir den Hype durchschauen – und uns das wahre Potenzial von KI erschliessen.
Was weckte ursprünglich Ihr Interesse an künstlicher Intelligenz und wie sahen Ihre ersten Schritte in diesem Feld aus?
Mein Werdegang im KI-Segment reicht weit zurück und ist eng mit der «intelligenten Automatisierung» verknüpft. Hierbei es primär darum geht, KI und Automatisierungstechnologien miteinander zu kombinieren. Diesen Weg verfolge ich seit mehr als 25 Jahren und mein Wirken war stets von einer unermüdlichen Neugierde sowie dem Bestreben geprägt, Technologie zum Nutzen der Menschen einzusetzen. Ursprünglich wurde mein Interesse an KI während meiner Zeit bei den Beratungsunternehmen McKinsey und EY geweckt. Damals erkannte ich erstmals das transformative Potenzial, das in Automatisierungstechnologien schlummert. Durch die Umsetzung von KI-Projekten auf der ganzen Welt durfte ich dann aus erster Hand erfahren, wie umfassend die Automatisierung die Effizienz steigert, wie stark sie die Erfahrungen von Kundinnen und Kunden sowie Mitarbeitenden verbessert – und wie sie manchmal sogar Leben rettet. Ein entscheidender Moment auf meiner KI-Reise lag dementsprechend in der Erkenntnis, dass künstliche Intelligenz im Wesentlichen dann Erfolge mit sich bringt, wenn sie sich auf das menschliche Element konzentriert.
Wie meinen Sie das?
Die wirkungsvollsten – und profitabelsten – KI-Initiativen, die ich erleben durfte, sind diejenigen, die eng mit den Menschen und ihren Bedürfnissen verbunden sind. KI, die von Menschen entwickelt wurde und von Menschen genutzt wird, verliert ohne menschliche Einsicht und Interaktion ihre Essenz und ihren Zweck. Die wahre Stärke der KI liegt darum nicht in ihrer Fähigkeit, menschliche Fähigkeiten zu ersetzen, sondern sie zu ergänzen. Diese Einsicht hat mich dazu gebracht, mich auf die Schnittstelle zwischen Mensch und künstlicher Intelligenz zu konzentrieren – ein Bereich, der enormes Potenzial bietet, um mit Technologie eine humanere Welt zu schaffen. Diese Leidenschaft für die Verschmelzung der Stärken von Mensch und Maschine hat mich dazu inspiriert, 2020 mein Buch «Intelligent Automation» und kürzlich «Irreplacable» zu schreiben.
Ihr Buch «Irreplacable» befasst sich mit der menschlichen Angst, durch KI ersetzt zu werden. Wie kann man sich also selbst «unersetzlich» machen?
Um im Zeitalter der KI unersetzlich zu werden und zu bleiben, müssen wir drei wesentliche Kompetenzen kultivieren: KI-Bereitschaft, Veränderungsbereitschaft sowie menschliche Bereitschaft.
KI-Bereitschaft bedeutet, die Technologien der künstlichen Intelligenz, ihre Fähigkeiten sowie ihre Grenzen genau zu verstehen und KI zu nutzen, um die eigenen Fähigkeiten zu erweitern. Veränderungsbereite Menschen wiederum verfügen über die nötige Widerstandsfähigkeit und Agilität, um in einer sich schnell entwickelnden Welt zu gedeihen. Eine Grundvoraussetzung dafür besteht darin, Veränderungen eher als Chance, denn als Bedrohung zu sehen.
Und was verstehen Sie unter menschlicher Bereitschaft?
Diese Individuen kultivieren bewusst die verschiedenen, einzigartigen menschlichen Fähigkeiten, die von einer KI nicht authentisch nachgebildet werden können. Dazu gehören echte Kreativität, soziale Authentizität sowie kritisches Denken. In meinem Buch bezeichne ich diese Skills als «Humics». Echte Kreativität zum Beispiel zeichnet sich dadurch aus, dass man originelle Ideen, Lösungen und künstlerische Ausdrucksformen entwickeln kann, die sich auf unsere einzigartigen, menschlichen und subjektiven Erfahrungen, Emotionen sowie Intuition stützen.
Und dazu ist KI nicht in der Lage?
Nein, denn künstliche Intelligenz kann zwar vorhandene Elemente auf neuartige Weise kombinieren, doch fehlen ihr die Authentizität der menschlichen Erfahrung sowie der menschliche Funke der Fantasie, der zu wirklich bahnbrechenden Innovationen führt. Gleiches gilt für das kritische Denken: Hier geht es darum, Informationen zu analysieren, Annahmen zu hinterfragen und ethische Urteile zu fällen, die auf unseren Werten sowie unserem Verständnis von Zusammenhängen beruhen. KI kann zwar Daten verarbeiten und Muster erkennen, aber sie verfügt nicht über die menschliche Fähigkeit zu Urteilsvermögen, Skepsis und moralischer Argumentation. Und soziale Authentizität wiederum umfasst unsere Fähigkeit, tiefe, auf Vertrauen basierende Beziehungen aufzubauen, mit Empathie zu kommunizieren und andere Menschen anzuleiten und zu inspirieren. Diese zwischenmenschlichen Fähigkeiten sind in unserer emotionalen Intelligenz und Selbstwahrnehmung verwurzelt, die KI nicht vollständig simulieren kann.
Also sind wir Menschen gar nicht so stark davon bedroht, ersetzt zu werden?
Nein, sind wir nicht. Im Gegenteil: Indem wir unsere menschlichen Fähigkeiten nutzen und Synergien mit der KI suchen, können wir Werte schaffen, die eindeutig menschlich sind. Es geht also darum, KI zu nutzen, um Routineaufgaben zu automatisieren, und gleichzeitig unsere Menschlichkeit als Ressource für hochwertige, kreative und zwischenmenschliche Arbeit zu kanalisieren. In einer Welt, in der KI immer mehr Aufgaben übernimmt, ist es umso wichtiger, dass wir uns auf die Entwicklung der Fähigkeiten konzentrieren, die es uns ermöglichen, auf neue und einzigartige Weise Werte zu schaffen. Die drei genannten Kompetenzen sind das Fundament, auf dem wir eine Zukunft errichten können, in der Menschen und Maschinen in Harmonie zusammenarbeiten, um gemeinsam die grössten Herausforderungen unserer Zeit zu lösen. Das ist es, was ich unter «unersetzlich werden» verstehe!
Dennoch gibt es sicherlich Tätigkeiten, Branchen oder gar Märkte, bei denen die Wahrscheinlichkeit, dass sie durch KI ersetzt werden, grösser oder geringer ist.
Es trifft zu, dass sich KI in gewissem Masse auf sämtliche Branchen und Berufe auswirken wird. Und insbesondere diejenigen Berufe, die sich in hohem Masse durch routinemässige und vorhersehbare Aufgaben auszeichnen, sind stärker von der Automatisierung bedroht. Dazu könnten etwa Verwaltungsaufgaben gehören, bei denen die Hauptaufgabe darin besteht, Daten nachzutragen. Und auch Fliessbandarbeitende oder sogar Radiolog:innen und Rechtsanwält:innen könnten bestimmte Aspekten ihrer Arbeit bald durch KI abgedeckt vorfinden. Zudem dürften sich in Branchen wie der Fertigung, dem Transportwesen sowie dem Einzelhandel durch KI und Robotik erhebliche Veränderungen ergeben. Andererseits sind Berufe, welche Humics erfordern (sprich, kreative Problemlösung, komplexe Kommunikation, Einfühlungsvermögen und ethisches Urteilsvermögen) schwerer zu automatisieren. Dazu gehören Tätigkeiten in kreativen Bereichen wie Kunst und Design, strategische Führungspositionen, spezialisierte Aufgaben im Gesundheitswesen, Lehre und Bildung sowie menschenzentrierte Dienstleistungen wie Therapie und Beratung. Es ist jedoch allgemein wichtig zu wissen, dass KI nicht einfach ganze Berufsbilder ersetzt – sondern vielmehr bestimmte Aufgaben innerhalb von Berufsbildern.
Also müssen wir gewisse Berufe neu konzipieren?
Genau, der Schlüssel liegt in der Neugestaltung von Arbeitsplätzen, die sich an dieser neuen Arbeitsteilung orientieren, wobei menschliches Talent für die hochwertigen, kreativen und zwischenmenschlichen Aspekte eingesetzt wird, während wir KI für die Routine- und datenintensiven Aufgaben nutzen. Letztlich wird der Impact von KI davon abhängen, ob und inwiefern es Einzelpersonen sowie Unternehmen gelingt, pragmatisch mit KI zusammenzuarbeiten. Diejenigen, die die Humics kultivieren, ihre KI-Kenntnisse ausbauen und kontinuierliches Lernen und Anpassen in Betracht ziehen, werden wahrscheinlich erfolgreich sein und bleiben. Unabhängig von ihrer spezifischen Rolle oder Branche.
Wie wird sich Ihrer Meinung nach die Rolle der KI in den nächsten fünf bis zehn Jahren entwickeln?
In diesem Zeitraum wird KI meiner Meinung nach zunehmend in jeden Aspekt unseres Lebens sowie unserer Arbeit eingebunden werden. Dadurch wird KI unsere menschlichen Fähigkeiten auf immer raffiniertere Weise ergänzen, von personalisierter Bildung und Gesundheitsfürsorge bis hin zu KI-gestützter Kreativität und Entscheidungsfindung. Unsere Arbeitsplätze werden wir um diese Synergie herum neu gestalten. Ferner wird KI auch personalisierte, reaktionsschnelle und vorausschauende Dienste ermöglichen und Branchen wie den Einzelhandel, das Finanzwesen oder das Gesundheitswesen nachhaltig transformieren. Künstliche Intelligenz wird Durchbrüche in Bereichen wie Klimawandel-Technologie, Arzneimittelentwicklung und Weltraumforschung vorantreiben, komplexe Probleme lösen und vollkommen neue Möglichkeiten aufdecken. Gleichzeitig werden wir uns mit wichtigen Herausforderungen wie der ethischen Nutzung von KI, dem Datenschutz, der Verdrängung von Arbeitsplätzen sowie der sozialen Ungleichheit auseinandersetzen müssen. Diese Bestrebungen sollten letztlich dem Ziel dienen, dass wir mit KI unser menschliches Potenzial erweitern und verbessern. Im nächsten Jahrzehnt wird es darum gehen, die KI zu nutzen, um eine bessere Welt zu schaffen, in der die Technologie den Interessen der Menschheit dient.
Wie kann sich ein Land wie die Schweiz im Zeitalter der KI unersetzbar machen?
Hierfür muss sich die Schweiz auf ihre einzigartigen Stärken konzentrieren und diese mit KI ergänzen. Dies könnte bedeuten, dass die Schweiz ihren Ruf für Qualität, Präzision und Innovation nutzt, um innovative, auf den Menschen ausgerichtete KI-Lösungen zu entwickeln. Es könnte auch bedeuten, einen starken ethischen Rahmen für die KI-Entwicklung und -Nutzung zu fördern und dabei auf die Schweizer Tradition der Neutralität und des Vertrauens zurückzugreifen. Indem sie in KI-Ausbildung, Forschung und Industriepartnerschaften investiert und dabei das menschliche Element in den Vordergrund stellt, kann sich die Schweiz als Vorreiterin für verantwortungsvolle, wertschöpfende KI positionieren.
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