food, fruit and vegetable stalls with people at kimironko market in kigali, rwanda. kigali, ruanda
iStockPhoto/stellalevi
Die Frau

Ruandas Weg zur Gleichberechtigung der Geschlechter

29.06.2024
von Valeria Cescato

Ruanda ist als Land der Frauen bekannt, weil es in den letzten 30 Jahren grosse Fortschritte bei der Durchsetzung von Frauenrechten gemacht hat. Diese haben dem Land einen Spitzenplatz im «Global Gender Gap Report» des Weltwirtschaftsforums und internationale Anerkennung eingebracht

Die Gründe für diese Fortschritte sind eng mit der Geschichte und der politischen Landschaft Ruandas verbunden. Der Völkermord von 1994 an den Tutsi, bei dem fast eine Million Menschen ermordet wurden, hat das Land und seine trauernde Bevölkerung tief und nachhaltig geprägt. Vor dem Völkermord war Ruanda eine sehr patriarchalische Gesellschaft, in der Frauen kaum Rechte hatten. Sie waren Ehefrauen und Mütter, aber keine Geschäftsfrauen oder Landbesitzerinnen. Viele Frauen verloren jedoch ihre Männer durch den Genozid und mussten danach neue Rollen übernehmen, um für ihre Familien zu sorgen. Sie spielten eine wichtige Rolle beim Wiederaufbau und bei der Versöhnung der Nation. Diese Bemühungen und ihre Beiträge wurden 2003 von Präsident Paul Kagame anerkannt, als er in der neuen Verfassung eine Politik der Gleichstellung der Geschlechter verankerte und eine Quote von 30 Prozent der Parlamentssitze für Frauen festlegte, um ihnen ein Mitspracherecht bei der Entscheidung über die Zukunft des Landes zu garantieren.

Parität im Parlament

Diese Politik hat dazu geführt, dass Ruanda bei der Beteiligung von Frauen im Parlament zu den weltweit führenden Ländern gehört. Statt der versprochenen 30 Prozent waren 2023 über 50 Prozent der Parlamentssitze von Frauen besetzt. Ruanda ist eines von nur fünf Ländern, die im vergangenen Jahr eine paritätische Besetzung der Parlamentssitze erreicht haben. Die Auswirkungen der stärkeren Beteiligung von Frauen in der Politik und der persönliche Fokus des Präsidenten auf die Gleichstellung der Geschlechter spiegeln sich in den von der Regierung unterstützten Massnahmen und Programmen wider. So konzentriert sie sich beispielsweise auf die Verbesserung des Zugangs zu wirtschaftlichen Möglichkeiten durch die Einrichtung von Kinderkrippen für Kinder ab drei Jahren. Darüber hinaus werden Anstrengungen unternommen, um den Zugang zu Bildung, medizinischer Versorgung, Landbesitz und weiteren wirtschaftlichen Möglichkeiten zu verbessern.

Von CEOs zu Kooperativen

Frauen haben in Ruanda nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wirtschaft Fortschritte gemacht. Nach dem Völkermord gründeten sie eigene Unternehmen und gehören heute zu den erfolgreichsten Unternehmerinnen des Landes. Und laut dem «Global Gender Pay Gap Report» vom vergangenen Jahr ist die Zahl der Frauen in Führungspositionen weiter gestiegen.

Jackie Helfenberger ist die Mitgründerin von Sangira, einer Hotellerieschule, die benachteiligten Ruander:innen, insbesondere Frauen, eine Berufsausbildung ermöglicht. Sie ist der Meinung, dass der Erfolg von Frauen in der Wirtschaft auf ihre und die Werte des Landes, aber auch auf die starke kooperative Kultur zurückzuführen ist. Im Interview nennt sie das Beispiel einer Schneiderin, die mit nur einer Nähmaschine und fast rund um die Uhr gearbeitet hat. Seitdem konnte sie ihr Geschäft ausbauen und hatte kürzlich sogar die Gelegenheit, mit japanischen Designerinnen zusammenzuarbeiten. Darüber hinaus ist der Wert des Zusammenhalts spürbar. Unternehmerinnen haben ein sehr starkes Netzwerk und unterstützen sich gegenseitig. Helfenberger sagt, dass jede erfolgreiche Person ein soziales Projekt unterstützt, weil es ein wichtiger nationaler Wert ist, der Gemeinschaft etwas zurückzugeben und sie aufzurichten. Zudem sind Geschäftsführerinnen in einer einzigartigen Position, um die Bedürfnisse ihrer Mitarbeitenden, insbesondere der Frauen, zu verstehen.

Dennoch bleiben Herausforderungen bestehen. Neben einem Mangel an finanziellen Ressourcen mangelt es auch an Infrastruktur und Ausbildungsmöglichkeiten, um junge Menschen auf die Geschäftswelt vorzubereiten. Zudem bestehe ein Bedarf an Mentor:innen, so Helfenberger. 70 Prozent der Bevölkerung seien unter 30 Jahre alt, es fehle an Erfahrung und Wissen der «missing Generation». Ein weiterer limitierender Faktor ist die Mentalität. Bevor Helfenberger die Sangira-Schule eröffnete, wurde ihr gesagt, Sangira solle sich nicht für eine Ausbildung in einem traditionellen Männerberuf entscheiden, da die Eltern ihre Töchter nicht in diesen Beruf schicken würden. Diese Mentalität ist vor allem auf dem Land verbreitet und in den Grossstädten weniger ausgeprägt.

Die Gesellschaft bleibt traditionell

Dies verdeutlicht den Widerspruch zwischen der modernen Politik der Regierung und dem traditionellen und kulturellen Hintergrund des Landes. Was die Situation in Ruanda wirklich einzigartig macht, ist die Tatsache, dass die Gleichstellung der Geschlechter durch einen Top-down-Ansatz umgesetzt wird, während dieses Ergebnis in den meisten anderen Ländern durch Grassroots-Bewegungen und einen Bottom-up-Ansatz erreicht wurde. Dies wirft die Frage auf, ob sich die traditionelle Denkweise geändert hat, um Frauen in diesen neuen Rollen zu akzeptieren. Helfenberger sagt, sie habe ein breites Spektrum an Meinungen in allen Altersgruppen erlebt. Einige Männer haben mit den schnellen Veränderungen zu kämpfen, während andere sich leichter anpassen. Sie stellt auch fest, dass es immer noch einen grossen Unterschied zwischen Stadt und Land gibt. Frauen auf dem Land verkörpern die traditionellen Geschlechterrollen und sind oft ruhig und zurückhaltend, während Frauen in der Stadt selbstbewusster sind. Und obwohl es inzwischen üblich ist, dass Frauen in der Wirtschaft tätig sind, ist ihre Rolle zu Hause nach wie vor eher traditionell. Frauen übernehmen die Rolle der Mutter und kümmern sich um den Haushalt, während der Mann das Familienoberhaupt bleibt. Ob dies auf den Stolz der Ruander(:innen) auf ihre Traditionen zurückzuführen ist oder auf ein langsames Umdenken in Sachen Gleichberechtigung in der Gesellschaft, bleibt abzuwarten.

 

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