
Prof. Dr.-Ing. Thomas Sauter-Servaes
Leiter des Bachelor-studiengangs Mobility Science an der ZHAW
Jahrzehntelang prägte die klassische Autoquartett-Logik die Mobilitätswelt. Grösser, schneller, breiter sollte alles werden. Nun ändern sich die Zeiten rasant. Statt der gewohnten Fortführung des etablierten evolutionären Ansatzes erschüttern gleich mehrere Revolutionen die Branche: Elektrifizierung, Automatisierung und KI-fizierung. Die nächsten Jahre werden darüber entscheiden, ob die europäischen Akteure diese neue Ära entscheidend mitgestalten können oder wir auf dem Beifahrersitz in eine ungewollte Verkehrszukunft rasen.
In den letzten Jahren hat China die Antriebswende mit atemberaubender Geschwindigkeit vorangetrieben. Steckerfahrzeuge machen inzwischen mehr als die Hälfte der chinesischen Neuzulassungen aus. China, der weltgrösste Fahrzeugmarkt mit 23 Millionen neu zugelassenen Personenwagen 2024 und 29 Prozent Anteil am globalen Markt, hat damit den Kipppunkt bei den Neufahrzeugen erreicht, den die Roadmap Elektromobilität ursprünglich für Ende 2025 in der Schweiz angestrebt hatte. Doch hier liegt der Marktanteil von batterieelektrischen Fahrzeugen und Plug-in-Hybriden erst bei 30 Prozent.
Eng verbunden mit der Elektrifizierung ist der Aufstieg der chinesischen Automobilindustrie. Neben zahllosen in Europa meist unbekannten Marken lockt der Übergang vom mechanikdominierten Universalfahrzeug zur softwarezentrierten Erlebnismaschine auch grosse Tech-Firmen in die Autobranche. Was Apple nicht gelang, demonstriert nun Xiaomi – oft als «chinesisches Apple» bezeichnet: Der weltweit drittgrösste Smartphonehersteller machte in nur 36 Monaten aus einer ersten Fahrzeugidee das Bestsellermodell SU7 und heizt den technologischen Wettbewerb weiter an. In Höchstgeschwindigkeit stellen chinesische OEM neue Ladezeiten-, Reichweiten- und Rundenzeitenrekorde auf. Gleichzeitig verwandeln sie das Auto in eine mächtige Plattform für tief in den Alltag eingebundene digitale Ökosysteme.
Diese in Europa bewunderte und zugleich gefürchtete «China Speed» ist unverzichtbar in der Transformation unseres Verkehrssystems, wenn wir die Klimaziele erreichen wollen: Ohne die schnelle Elektrifizierung des Strassenverkehrs werden CO2-Budgets verfehlt und der Temperaturanstieg ungebremst weitergehen. Das Potenzial ist enorm, denn der Umweltvorteil des Elektroautos wächst dank grosser Fortschritte in der Batterietechnologie und grünerer Stromproduktion stetig. Laut einer aktuellen Studie des International Council on Clean Transportation (ICCT) verursachen batterieelektrische Mittelklasse-Fahrzeuge, die derzeit in Europa verkauft werden, über den gesamten Lebenszyklus hinweg 73 Prozent weniger Treibhausgasemissionen als Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor. Diese Zahl stellt eine weitere Verbesserung gegenüber einer früheren Studie aus dem Jahr 2021 dar, in der E-Fahrzeuge nur 59 Prozent weniger Treibhausgas emittierten.
Doch die autofixierte Beschleunigung auf «China Speed» reicht allein nicht aus, um eine zukunftsfähige Mobilität zu gestalten. Die Kopie eines Modells, das weiterhin auf lineare Massenproduktion und das ressourcenintensive Besitzmodell setzt, kann nicht die Blaupause für den Verkehr von morgen sein. Vor allem Städte stehen vor grossen Herausforderungen: Wir brauchen die urbanen Flächen dringend, um unsere Städte gegen den Klimawandel zu wappnen. Kühlendes urbanes Grün statt heissem Asphalt. Zugleich müssen Städte attraktiver für Fuss- und Veloverkehr werden, wenn wir gesünder leben und unsere Mitmenschen weniger mit Feinstaub und Lärm belästigen wollen.
Resiliente Lowtech-Ansätze von der 15-Minuten-Stadt bis zur E-Bike-City werden die Verkehrspolitik daher deutlich stärker prägen müssen. Das bedeutet aber nicht, Hightech zu verteufeln – im Gegenteil: Wir brauchen mehr Intelligenz im Verkehr. Sensorik, Datenaustausch, künstliche Intelligenz und Robotik können wesentlich dabei helfen, dass Fahrzeuge sicherer fahren und jeder Fahrzeugkilometer effizienter genutzt wird. «Flotten» als echte Alternative zum Besitzauto werden sich zum zentralen Baustein künftiger Verkehrsplanung entwickeln. Die Firmenmobilität kann hierfür ein wichtiger Nukleus sein. Häufig wird deren Wirkmacht auf das Mobilitätsverhalten und den Gebrauchtfahrzeugmarkt unterschätzt. Clevere Mobilitätsbudgets von heute könnten die Basis für marktfähige Mobility-as-a-Service-Ideen (MaaS) von morgen bilden.
Der Schlüssel ist die Abkehr von der «Entweder-oder»-Debatte zwischen Auto, Velo und ÖV. Bisher haben wir Verkehrsmittel zu oft gegeneinander ausgespielt, statt ihre Stärken zu kombinieren. Doch die Zukunft wird multimodal aussehen: ein nahtloses Zusammenspiel verschiedener Transportformen, organisiert durch integrierte Plattformen und Ticketingsysteme. Der Weg dorthin führt über offene Datenschnittstellen und Standardisierung, aber auch über eine Kultur des Teilens. Das klingt nach einer schon zu oft gehörten Schallplatte realitätsfremder Verkehrsvisionäre? Genau, wir müssen dringend raus aus dem Modus des Redens und rein ins Umsetzen und schnelle Skalieren starker MaaS- und City-Logistik-Produkte.
Diese müssen aber regulatorisch flankiert werden. Es braucht faire Preissignale, damit sie tatsächlich ins Alternativenset der Konsumentinnen und Konsumenten gelangen. Ein Markt, in dem die externen Kosten für Flächenverbrauch, Lärm und vor allem Treibhausgasemissionen nur marginal abgebildet werden, kann auf Dauer nicht nachhaltig funktionieren. Solidarische Abgaben für stark frequentierte Verkehrswege zu Spitzenzeiten, kilometer- und gewichtsbasierte Gebühren und variable Parkpreise sind geeignete Instrumente, um die Nachfrage zu lenken und die notwendigen Investitionen in Umbau und Erhalt des Verkehrssystems zu finanzieren.
Die Dringlichkeit ist dabei unbestritten: Im Gegensatz zu anderen Sektoren wie Stromerzeugung oder Industrie verzeichnete die Mobilitätsbranche bis 2023 im Vergleich zu 1990 sogar gestiegene Treibhausgasemissionen. Uns läuft die Zeit davon. Ein «Weiter so» würde bedeuten, die Klimaziele klar zu verfehlen.
Es ist an der Zeit, die rasante technologische Entwicklung durch mit Weitblick konstruierte regulatorische Leitplanken in die richtigen Bahnen zu lenken. Europa weist schon heute zahlreiche Leuchttürme auf, die beweisen, wie eine geeignete Verkehrspolitik eine Trendwende auf unseren Strassen und Schienen bewirken kann. Jetzt gilt es diese Ansätze mit den Technologietrends von der Elektrifizierung bis zum hochautomatisierten Fahren zu verknüpfen, sich aus der Rolle der Getriebenen zu Treibenden zu emanzipieren. Hightech- und Lowtech-Verkehr sind keine natürlichen Feinde, sondern können gerade in der Kombination besonders wirkmächtig sein. Findet Europa hierfür passende «Mischungen», könnte es die dringend erforderlichen Playbooks für die Zukunftsmobilität schreiben.
Text Prof. Dr.-Ing. Thomas Sauter-Servaes, Leiter des Bachelorstudiengangs Mobility Science an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), School of Engineering
Schreibe einen Kommentar